Zusammenfassung von BGer-Urteil 1C_693/2024 vom 3. Dezember 2025

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Detaillierte Zusammenfassung des Urteils des Schweizerischen Bundesgerichts (1C_693/2024) vom 3. Dezember 2025

Parteien: * Beschwerdeführerin (Recourante): A.__, vertreten durch Me Fabien Mingard. * Beschwerdegegnerin: Direction générale des affaires institutionnelles et des communes du canton de Vaud (DGAIC), Autorité d'indemnisation LAVI. * Weitere Beteiligte: Office fédéral de la justice (OFJ).

Gegenstand: Entschädigung nach dem Opferhilfegesetz (LAVI) wegen Genugtuung.

Sachverhalt

Am 12. September 2020 verstarb B._, nachdem er in einem Restaurant in U._ von C._ mit einem Messer angegriffen wurde. Die Beschwerdeführerin A._, Partnerin des Opfers, war Zeugin des Tathergangs, welcher sich innerhalb von vier Sekunden ereignete. Sie war mit B._ seit Mai 2020 liiert und lebte seit August 2020, also weniger als zwei Monate vor dem Vorfall, mit ihm zusammen. Zuvor hatten sie von Februar bis Juli 2020 in einer Wohngemeinschaft gelebt. Nach dem Tod ihres Partners kehrte A._ nach Portugal zurück.

C._ wurde vom Bundesstrafgericht am 10. Januar 2023 unter anderem wegen Mordes zu einer Freiheitsstrafe von 20 Jahren verurteilt. Dabei wurde auch festgestellt, dass C._ eine Genugtuungsforderung von CHF 25'000.– zugunsten von A.__ anerkannt hatte.

A.__ beantragte daraufhin bei der DGAIC eine Genugtuung von CHF 25'000.– nach LAVI. Die DGAIC sprach ihr mit Entscheid vom 24. Mai 2024 lediglich CHF 7'000.– zu. Sie legte einen Basisbetrag von CHF 10'000.– fest und reduzierte diesen um 30 % aufgrund der tieferen Lebenshaltungskosten in Portugal, dem neuen Wohnsitz der Beschwerdeführerin. Das Waadtländer Kantonsgericht, Cour de droit administratif et public (CDAP), bestätigte diesen Entscheid mit Urteil vom 1. November 2024.

Gegen dieses Urteil reichte A.__ am 3. Dezember 2024 Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beim Bundesgericht ein, mit dem Antrag, ihr eine Genugtuung von CHF 25'000.– zuzusprechen.

Rechtliche Erwägungen des Bundesgerichts

Das Bundesgericht prüfte die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten. Die Zulässigkeitsvoraussetzungen wurden bejaht (E. 1).

2. Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art. 29 Abs. 2 BV) Die Beschwerdeführerin rügte eine Verletzung ihres rechtlichen Gehörs, da die Vorinstanz ihre Argumente bezüglich Art. 14 EMRK in Verbindung mit Art. 1 des Zusatzprotokolls Nr. 12 zur EMRK sowie Art. 13 der Europaratskonvention zur Verhütung des Terrorismus nicht hinreichend behandelt habe. Das Bundesgericht stellte fest, dass die Vorinstanz die Rüge im Zusammenhang mit der EMRK und dem Zusatzprotokoll Nr. 12 (wenn auch kurz) behandelt habe und die Begründung des kantonalen Urteils insoweit verständlich sei. Bezüglich Art. 13 der Europaratskonvention zur Verhütung des Terrorismus befand das Bundesgericht, dass diese Bestimmung die innerstaatliche Gesetzgebung ausdrücklich vorbehalte und die Auszahlung einer Genugtuung für immateriellen Schaden nicht regele. Die Vorinstanz sei daher nicht verpflichtet gewesen, diese Rüge ausführlich zu behandeln, da sie für den Ausgang des Rechtsstreits nicht entscheidend war. Die Rüge der Gehörsverletzung wurde als unbegründet abgewiesen.

3. Verletzung der Europäischen Konvention über die Entschädigung von Opfern von Gewalttaten (Art. 4) Die Beschwerdeführerin machte erfolglos eine Verletzung von Art. 4 dieser Konvention geltend. Das Bundesgericht hielt fest, dass diese Konvention die Auszahlung einer Genugtuung für immateriellen Schaden nicht zwingend vorschreibe. Art. 27 Abs. 3 LAVI, der unter bestimmten Bedingungen eine Reduktion der Entschädigung zulässt, stehe dieser Konvention daher nicht entgegen.

4. Höhe der Genugtuung (Art. 22 f. LAVI)

4.1. Allgemeine Grundsätze der Opferhilfe * Art. 1 LAVI definiert Opfer und Nahestehende, die Anspruch auf Opferhilfe haben. Dazu gehören Ehegatten, Kinder, Eltern sowie Personen, die mit dem Opfer in ähnlicher Weise verbunden sind (z.B. Konkubinatspartner). * Art. 22 Abs. 1 LAVI gewährt Opfern und Nahestehenden eine Genugtuung, wenn die Schwere der Beeinträchtigung dies rechtfertigt, wobei Art. 47 und 49 OR analog anzuwenden sind. * Die Höhe der Genugtuung wird nach der Schwere der Beeinträchtigung festgelegt (Art. 23 Abs. 1 LAVI). Für Nahestehende war der Höchstbetrag für Anträge bis 31. Dezember 2024 auf CHF 35'000.– begrenzt (neu CHF 38'000.– ab 1. Januar 2025). * Der Gesetzgeber wollte keine vollständige und unbedingte Wiedergutmachung des Schadens gewährleisten. Die Genugtuung nach LAVI hat eher den Charakter einer Billigkeitsleistung (ex aequo et bono) und ist deutlich tiefer als im Privatrecht. Die Obergrenzen sind auf etwa zwei Drittel der üblicherweise im Haftpflichtrecht zugesprochenen Beträge festgelegt. Höhere Beträge sind den schwersten Fällen vorbehalten. * Die vom Bundesamt für Justiz (BJF) herausgegebenen Richtlinien (hier: BJF-Leitfaden 2019) sehen für den Tod eines nahen Angehörigen (Eltern, Kind, Ehegatte, eingetragener Partner, Konkubinatspartner) Beträge von CHF 10'000.– bis CHF 35'000.– vor. Obwohl diese Richtlinien die Behörden nicht bindend sind, entsprechen sie dem Willen des Gesetzgebers und dienen der Gleichbehandlung. * Das Bundesgericht prüft die Anwendung des Bundesrechts mit voller Kognition (Art. 95 lit. a, 106 Abs. 1 BGG). Es greift in den weiten Ermessensspielraum bei der Festsetzung der Genugtuung nur zurückhaltend ein, etwa bei Abweichen von der ständigen Praxis oder bei der Berücksichtigung irrelevanter Sachverhalte (ATF 132 II 117 E. 2.2.5).

4.2. Anwendung auf den vorliegenden Fall Es ist unbestritten, dass die Beschwerdeführerin als "nahestehende Person" im Sinne von Art. 1 Abs. 2 LAVI grundsätzlich Anspruch auf Genugtuung hat, da sie den tödlichen Angriff auf ihren Partner direkt miterlebte. Der Streitpunkt betraf die Höhe der Genugtuung.

4.3. Begründung des Basisbetrags von CHF 10'000.– 4.3.1. Dauer der Beziehung: Die kantonale Instanz begründete den Basisbetrag von CHF 10'000.– (entsprechend dem Minimum des BJF-Leitfadens) mit der kurzen Dauer der Beziehung: Eine fünfmonatige Beziehung, davon weniger als zwei Monate Zusammenleben, könne nicht mit einer langjährigen, stabilen Lebensgemeinschaft oder Ehe verglichen werden, für die üblicherweise CHF 30'000.– zugesprochen werden. Das Bundesgericht bestätigte diese Argumentation. Die vorherige Wohngemeinschaft ohne romantische Beziehung von Februar bis Mai 2020 sei für die Bemessung des immateriellen Schadens als "nahestehende Person" nicht relevant.

4.3.2. Terroristischer Charakter der Tat: Die kantonale Instanz berücksichtigte auch das Fehlen von Beweisen für spezifische psychologische Störungen aufgrund des terroristischen Charakters des Anschlags. Die Beschwerdeführerin verwies auf einen französischen Bericht, der auf besondere psychische Belastungen bei Opfern von Terrorismus hinweist. Das Bundesgericht bekräftigte jedoch, dass eine Entschädigung für diesen Faktor nicht abstrakt oder theoretisch, sondern nur bei konkretem Nachweis einer spezifischen Beeinträchtigung anerkannt werden kann. Da keine Diagnosen oder Therapien vorgelegt wurden, die eine solche Beeinträchtigung belegen, durfte die Vorinstanz einen besonderen Schaden aufgrund des terroristischen Charakters des Attentats ablehnen.

4.3.3. Fazit zum Basisbetrag: Angesichts dieser Umstände wurde der Basisbetrag von CHF 10'000.– als angemessen erachtet und die diesbezügliche Rüge der Beschwerdeführerin abgewiesen.

5. Kürzung der Genugtuung wegen Wohnsitz im Ausland (Art. 27 Abs. 3 LAVI)

5.1. Gesetzliche Grundlage und bisherige Rechtsprechung 5.1.1. Art. 27 Abs. 3 LAVI: Diese Bestimmung erlaubt eine Reduktion der Genugtuung, wenn der Berechtigte seinen Wohnsitz im Ausland hat und die Genugtuung aufgrund der dortigen Lebenshaltungskosten unverhältnismässig wäre. Der Gesetzgeber geht davon aus, dass Opferhilfe ein Akt der Solidarität ist, bei dem tiefere Lebenshaltungskosten im Ausland berücksichtigt werden sollen, wenn die Differenz "ausreichend wichtig" ist und eine unverhältnismässige Entschädigung im Vergleich zu in der Schweiz wohnhaften Personen vermieden werden soll. Die Differenz ist anhand objektiver Vergleichskriterien (z.B. Lohn- oder Preisindizes) zu beurteilen, wobei auch persönliche Bindungen zur Schweiz zu berücksichtigen sind. Die Genugtuung nach LAVI ist keine periodische Leistung zur Deckung des Lebensunterhalts, sondern eine Anerkennung des erlittenen immateriellen Schadens.

5.1.2. Rechtsprechung des Bundesgerichts: Das Bundesgericht hat in seinem Urteil 1C_102/2024 vom 18. November 2024 (publiziert nach dem kantonalen Urteil im vorliegenden Fall) seine Rechtsprechung bekräftigt: * Zugelassene Reduktionen: Diese erfolgten nur bei sehr deutlichen Unterschieden der Lebenshaltungskosten (z.B. Vojvodina: 18-fach tiefere Kaufkraft, Algerien: 20-fach tieferes BIP, Georgien: 18,4-fach tieferer Durchschnittslohn und 3,6-fach tiefere Lebenshaltungskosten). * Abgelehnte Reduktionen: * Im Urteil 1C_106/2008 vom 24. September 2008 erachtete das Bundesgericht eine Differenz von 30 % der Lebenshaltungskosten zwischen der Schweiz und Portugal als nicht ausreichend, um eine Reduktion zu rechtfertigen. * Im Urteil 6B_58/2016 vom 18. August 2016 wurde auch für Spanien (vergleichbar mit Portugal) keine Reduktion vorgenommen. * Im massgebenden Urteil 1C_102/2024 wurde ebenfalls eine Reduktion für Spanien (wo die Lebenshaltungskosten gemäss kantonaler Feststellung 38.86 % bis 67 % tiefer waren als in der Schweiz) abgelehnt. Das Bundesgericht befand, diese Differenz sei "weit unter jenen, die zu einer Reduktion der Entschädigung geführt haben". Hingegen wurde im selben Urteil eine Reduktion von 30 % für Polen akzeptiert, wo die Lebenshaltungskosten 57.3 % bis 84.2 % tiefer waren als in der Schweiz.

5.2. Anwendung auf den vorliegenden Fall Die kantonale Instanz ging davon aus, dass die Lebenshaltungskosten in Portugal zwei- bis viermal tiefer seien als in der Schweiz, und nahm daher eine Reduktion von 30 % vor, was zu CHF 7'000.– führte. Das Bundesgericht befand, dass diese Reduktion angesichts seiner jüngsten Rechtsprechung (insbesondere 1C_102/2024) unzulässig sei. Es verwies explizit auf sein Urteil von 2008, wonach die Lebenshaltungskosten in Portugal keine Reduktion begründen, und auf die Vergleichbarkeit von Spanien und Portugal (6B_58/2016). Auch wenn die festgestellte Differenz im vorliegenden Fall "wichtig" sei, reiche sie nicht aus, um als "ausreichend wichtig" für eine Reduktion zu gelten, die einen Ausnahmecharakter haben sollte. Die Lebenshaltungskosten in Portugal seien "weit unter jenen, die zu einer Reduktion geführt haben". Das Bundesgericht betonte erneut, dass die Genugtuung nicht periodisch sei, sondern den immateriellen Schaden anerkennen solle. Die DGAIC stützte sich auf einen "traditionellen Schwellenwert von 30 %", den das Bundesgericht jedoch als schematisch und nicht durch die jüngste Rechtsprechung gedeckt ablehnte, da nur deutlich grössere Differenzen eine Reduktion rechtfertigten.

Folglich wurde die Rüge der Verletzung von Art. 27 Abs. 3 LAVI vom Bundesgericht gutgeheissen.

6. Entscheid des Bundesgerichts Das Bundesgericht hiess die Beschwerde teilweise gut. Das angefochtene Urteil wurde reformiert, und der Beschwerdeführerin wurde ein Betrag von CHF 10'000.– als Genugtuung zugesprochen. Die Kürzung aufgrund des Wohnsitzes in Portugal wurde aufgehoben. Die Kosten für das Bundesgerichtsverfahren wurden dem Kanton Waadt auferlegt, und die Sache zur Neufestsetzung der Kosten der kantonalen Verfahren an die CDAP zurückgewiesen. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wurde als gegenstandslos erklärt.

Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte
  1. Basisbetrag der Genugtuung: Der vom kantonalen Gericht festgesetzte Basisbetrag von CHF 10'000.– wurde vom Bundesgericht bestätigt. Dies begründete sich in der kurzen Dauer der Beziehung (fünf Monate liiert, davon weniger als zwei Monate zusammenlebend) und dem Fehlen konkreter Beweise für spezifische psychische Störungen aufgrund des terroristischen Charakters der Tat.
  2. Kürzung wegen Wohnsitz im Ausland: Die vom kantonalen Gericht vorgenommene Reduktion der Genugtuung um 30 % wegen der tieferen Lebenshaltungskosten in Portugal (gemäss Art. 27 Abs. 3 LAVI) wurde vom Bundesgericht aufgehoben.
  3. Massgebliche Rechtsprechung: Das Bundesgericht stellte klar, dass eine Reduktion gemäss Art. 27 Abs. 3 LAVI nur bei sehr deutlichen Unterschieden in den Lebenshaltungskosten zulässig ist. Unter Verweis auf seine jüngste Rechtsprechung (insbesondere Urteil 1C_102/2024 vom 18. November 2024) wurde die Differenz der Lebenshaltungskosten zwischen der Schweiz und Portugal als nicht ausreichend erachtet, um eine Kürzung zu rechtfertigen. Ein schematischer "Schwellenwert" von 30 % für eine Reduktion wurde explizit abgelehnt.
  4. Endgültiger Betrag: Der Beschwerdeführerin wurde eine Genugtuung von CHF 10'000.– zugesprochen.