Zusammenfassung von BGer-Urteil 7B_30/2023 vom 2. Dezember 2025

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Gerne fasse ich das bereitgestellte Urteil des schweizerischen Bundesgerichts detailliert zusammen:

Urteil des Bundesgerichts vom 2. Dezember 2025 (7B_30/2023, 7B_31/2023)

Parteien: * Beschwerdeführer 1: Ministère public de la République et canton du Jura (Staatsanwaltschaft des Kantons Jura) * Beschwerdeführer 2: A._ (Privatkläger, Vater) * Beschwerdegegnerin: B._ (Angeschuldigte, Mutter)

Gegenstand: Örtliche Zuständigkeit der schweizerischen Strafbehörden (Entziehung von Minderjährigen)

Vorinstanz: Cour pénale du Tribunal cantonal de la République et canton du Jura (Strafkammer des Kantonsgerichts Jura)

I. Sachverhalt und Verfahrensgeschichte

  1. Hintergrund: Die Beschwerdegegnerin (niederländische Staatsangehörige) und der Beschwerdeführer 2 (schweizerischer Staatsangehöriger) trafen sich 2009 in Brasilien, heirateten im selben Jahr in der Schweiz und bekamen 2010 eine Tochter (C.__) in Brasilien. Im Mai 2013 zog die Familie in den Kanton Neuenburg (Schweiz).
  2. Trennung und Umzug nach Brasilien: Am 17. November 2014 meldeten die Eltern ihre Trennung. Der Beschwerdeführer 2 unterzeichnete dabei ein Formular, das der Beschwerdegegnerin erlaubte, mit dem Kind ab dem 23. November 2014 nach Brasilien (V.__) zu ziehen. Andere formelle Vereinbarungen wurden nicht getroffen.
  3. Vorfälle in Brasilien: Zwischen Januar und Februar 2015 übte der Beschwerdeführer 2 sein Besuchsrecht in Brasilien aus. Im April 2015 reiste er erneut nach Brasilien, doch die Beschwerdegegnerin weigerte sich, ihm die Tochter zu übergeben.
  4. Umzug nach Französisch-Guyana: Ende 2016 verliess die Beschwerdegegnerin mit dem Kind Brasilien, ohne den Beschwerdeführer 2 zu informieren, und liess sich in Französisch-Guyana (W.__) nieder, wo sie seitdem leben.
  5. Erstinstanzliches Urteil: Am 29. April 2021 sprach das Tribunal de première instance die Beschwerdegegnerin der Entziehung von Minderjährigen für den Zeitraum vom 2. August 2016 bis zum Urteilstag schuldig und verurteilte sie zu 60 Tagen Freiheitsstrafe. Vom Vorwurf der Entziehung für die Periode 2015 bis 1. August 2016 wurde sie freigesprochen. Der Beschwerdeführer 2 erhielt eine Genugtuung von 5'000 Franken.
  6. Kantonaler Berufungsentscheid: Die Beschwerdegegnerin legte Berufung ein. Die Staatsanwaltschaft erhob Anschlussberufung betreffend das Strafmass. Mit Entscheid vom 13. Februar 2023 stellte die Cour pénale das Strafverfahren gegen die Beschwerdegegnerin wegen fehlender örtlicher Zuständigkeit der schweizerischen Strafbehörden ein.

II. Verfahren vor Bundesgericht

Beide Beschwerdeführer (Staatsanwaltschaft und Privatkläger) legten Beschwerde in Strafsachen beim Bundesgericht ein. Die Staatsanwaltschaft beantragte die Anerkennung der örtlichen Zuständigkeit und Rückweisung an die Vorinstanz zur materiellen Beurteilung. Der Privatkläger beantragte ebenfalls die Anerkennung der Zuständigkeit und die Bestätigung des erstinstanzlichen Urteils.

III. Massgebende Rechtsfragen und rechtliche Argumentation des Bundesgerichts

  1. Zulässigkeit der Anträge (E. 2.2): Das Bundesgericht stellte fest, dass die Anträge des Beschwerdeführers 2 (Privatkläger) auf eine "Bestätigung des erstinstanzlichen Urteils" hinausliefen. Da die kantonale Berufung jedoch auf die Frage der örtlichen Zuständigkeit beschränkt war, gingen die materiellen Anträge des Beschwerdeführers 2 über den Streitgegenstand hinaus. Eine direkte Beurteilung durch das Bundesgericht hätte den Parteien eine Instanz beraubt. Daher erklärte das Bundesgericht die materiellen Anträge des Beschwerdeführers 2 als unzulässig.

  2. Willkürliche Sachverhaltsfeststellung (E. 3):

    • Rüge der Beschwerdeführer: Die Beschwerdeführer machten geltend, die Vorinstanz habe willkürlich übersehen, dass eine mündliche Vereinbarung bestanden habe, wonach das Kind nach sechs Monaten in Brasilien in die Schweiz zurückkehren sollte. Sie argumentierten, die wiederholte Reise des Vaters nach Brasilien und der unangekündigte Umzug der Mutter nach Guyana unterstützten diese Annahme.
    • Prüfungsstandard des Bundesgerichts: Das Bundesgericht ist an die Sachverhaltsfeststellungen der Vorinstanz gebunden (Art. 105 Abs. 1 BGG), es sei denn, diese wurden offensichtlich unrichtig oder willkürlich festgestellt (Art. 97 Abs. 1, 105 Abs. 2 BGG i.V.m. Art. 9 BV). Willkür liegt nur vor, wenn die Entscheidung offensichtlich unhaltbar ist.
    • Würdigung des Bundesgerichts: Die Vorinstanz stützte sich auf eine schriftliche Erklärung des Beschwerdeführers 2 beim Einwohneramt, wonach dieser dem unbestimmten Aufenthalt des Kindes bei der Mutter in Brasilien zugestimmt hatte. Das Bundesgericht befand, es sei nicht willkürlich, das Vorhandensein einer gegenteiligen mündlichen Vereinbarung mangels weiterer Beweise nicht als erwiesen anzusehen. Weder die Besuche des Vaters in Brasilien noch der spätere unangekündigte Umzug nach Guyana machten die Feststellung der Vorinstanz willkürlich.
    • Fazit: Die Willkürrügen wurden abgewiesen. Die vom Kantonsgericht festgestellten Tatsachen sind für das Bundesgericht verbindlich.
  3. Örtliche Zuständigkeit der schweizerischen Strafbehörden (Art. 3, 8 StGB i.V.m. Art. 220 StGB) (E. 4):

    • Ausgangslage: Strittig ist einzig die Zuständigkeit für den Zeitraum vom 2. August 2016 bis zum 29. April 2021, d.h. nach dem Umzug der Beschwerdegegnerin mit dem Kind nach Französisch-Guyana. Der Freispruch für die frühere Periode (Umzug nach Brasilien) war von den Beschwerdeführern nicht angefochten worden.
    • Rechtliche Grundlagen:
      • Art. 3 StGB (Territorialitätsprinzip): Schweizer Strafrecht ist anwendbar, wenn ein Verbrechen oder Vergehen in der Schweiz begangen wurde.
      • Art. 8 Abs. 1 StGB (Deliktsort): Ein Verbrechen oder Vergehen gilt als sowohl am Ort der Handlung als auch am Ort des Erfolgs als begangen. Bei Unterlassungsdelikten ist auch der Ort massgebend, wo der Täter hätte handeln sollen. Zur Vermeidung negativer Kompetenzkonflikte im internationalen Kontext wird die Zuständigkeit der schweizerischen Behörden auch bei geringem Schweizbezug bejaht.
      • Art. 220 StGB (Entziehung von Minderjährigen): Schützt das Recht, den Aufenthaltsort des Kindes zu bestimmen, als Bestandteil der elterlichen Sorge. Dieses Recht bestimmt sich nach dem Zivilrecht. Zuständigkeit in der Schweiz besteht, wenn der Täter die Herausgabepflicht an einen im Ausland wohnhaften Elternteil in der Schweiz verweigert oder wenn der Täter rechtlich verpflichtet war, den Minderjährigen in der Schweiz herauszugeben.
      • Art. 301a ZGB (Aufenthaltsbestimmung): Trat am 1. Juli 2014 in Kraft. Die elterliche Sorge umfasst das Aufenthaltsbestimmungsrecht (Abs. 1). Ein Umzug ins Ausland bedarf bei gemeinsamer elterlicher Sorge der Zustimmung des anderen Elternteils oder einer gerichtlichen/KESB-Entscheidung (Abs. 2 lit. a).
    • Anwendung auf den vorliegenden Fall:
      • Das Bundesgericht stellte fest, dass der Umzug des Kindes nach Brasilien im November 2014 gemäss den verbindlichen Sachverhaltsfeststellungen durch die schriftliche Zustimmung des Vaters erfolgte und somit dem schweizerischen Zivilrecht (Art. 301a Abs. 2 ZGB) entsprach.
      • Mit dem wirksamen Umzug nach Brasilien hatte das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Brasilien. Damit waren die schweizerischen Behörden gemäss Art. 79 IPRG für die Regelung der familienrechtlichen Fragen (insbesondere das Aufenthaltsbestimmungsrecht) nicht mehr zuständig.
      • Die Frage der Rechtswidrigkeit der späteren Verbringung des Kindes von Brasilien nach Französisch-Guyana ist nach dem Recht des Staates des gewöhnlichen Aufenthalts unmittelbar vor der Verbringung zu beurteilen (hier: Brasilien), wie es die Haager Konvention über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung vom 25. Oktober 1980 vorsieht.
      • Art. 220 StGB soll Rechte schützen, die vom schweizerischen Zivilrecht verliehen werden. Es muss ein "gewisser Parallelismus" zwischen der Anwendung des Strafrechts und des Zivilrechts gewahrt bleiben. Hat das schweizerische Zivilrecht seine Zuständigkeit durch den rechtmässigen Wegzug des Kindes ins Ausland verloren, so fehlt in der Regel auch die strafrechtliche Zuständigkeit für spätere, im Ausland stattfindende Handlungen.
      • Schlussfolgerung: Da das Kind seinen rechtmässigen gewöhnlichen Aufenthalt in Brasilien hatte, begründet der spätere Umzug der Beschwerdegegnerin mit dem Kind von Brasilien nach Französisch-Guyana keine örtliche Zuständigkeit der schweizerischen Strafverfolgungsbehörden. Die Vorinstanz hat die fehlende Zuständigkeit zu Recht festgestellt. Die Rügen der Beschwerdeführer betreffend die Verletzung von Art. 3 und 8 StGB i.V.m. Art. 220 StGB sind unbegründet.
  4. Verletzung von Art. 10 Abs. 2 und 3 StPO (E. 5): Die Rüge des Beschwerdeführers 1 (Staatsanwaltschaft) unter Art. 10 StPO bezog sich auf dieselben Elemente wie die bereits geprüfte Willkürrüge bezüglich der Sachverhaltsfeststellung und hatte keine weitergehende Bedeutung. Daher wurde darauf verwiesen, dass diese Norm in solchen Fällen keine breitere Tragweite als das Willkürverbot hat.

IV. Ergebnis

Das Bundesgericht wies die Beschwerden sowohl der Staatsanwaltschaft als auch des Privatklägers (soweit zulässig) ab. Die örtliche Zuständigkeit der schweizerischen Strafbehörden für die Verfolgung der Beschwerdegegnerin wegen Entziehung von Minderjährigen in Bezug auf den Umzug von Brasilien nach Französisch-Guyana wurde verneint.

Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:

Das Bundesgericht bestätigte die fehlende örtliche Zuständigkeit der schweizerischen Strafbehörden für den Vorwurf der Entziehung von Minderjährigen. Entscheidend war, dass der ursprüngliche Umzug des Kindes mit der Mutter von der Schweiz nach Brasilien durch die schriftliche Zustimmung des Vaters nach schweizerischem Zivilrecht rechtmässig war (Art. 301a Abs. 2 ZGB). Nachdem das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt somit rechtmässig in Brasilien etabliert hatte, verloren die schweizerischen Zivilrechtsbehörden ihre Zuständigkeit für familienrechtliche Fragen (Art. 79 IPRG). Ein späterer, von der Mutter unilateraler Umzug von Brasilien nach Französisch-Guyana konnte daher keine neue strafrechtliche Zuständigkeit in der Schweiz begründen, da es an einem ausreichenden Bezug zum schweizerischen Zivilrecht und damit zum Schutzgut des Art. 220 StGB fehlte. Willkür bei der Sachverhaltsfeststellung wurde verneint; die schriftliche Zustimmung des Vaters zum unbestimmten Aufenthalt des Kindes in Brasilien war für das Gericht massgebend.