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Das Urteil des Bundesgerichts 6B_1141/2023 befasst sich mit der strafrechtlichen Qualifikation der mehrfachen qualifizierten Entführung gemäss Art. 183 Ziff. 2 StGB in einem Fall, in dem eine Mutter mit Obhut und gemeinsamer elterlicher Sorge ihre drei minderjährigen Kinder ohne Zustimmung des Vaters ins Ausland verbrachte. Die Beschwerdeführerin, A.A._, wurde vom Obergericht des Kantons Bern wegen mehrfacher qualifizierter Entführung schuldig gesprochen und zu einer Freiheitsstrafe von 3 Jahren und 9 Monaten verurteilt. Die Kinder, vertreten durch eine Kollisionsbeiständin, unterstützten die Beschwerde der Mutter. Das Bundesgericht hiess die Beschwerde gut, hob den Schuldspruch wegen Entführung auf und sprach A.A._ vom Vorwurf der mehrfachen Entführung frei, wobei es die Sache zur neuen Strafzumessung betreffend den bereits rechtskräftigen Schuldspruch wegen Entziehens von Minderjährigen (Art. 220 StGB) an die Vorinstanz zurückwies.
II. Chronologie der Vorinstanzen und SachverhaltA. Erstinstanzliches Urteil (Regionalgericht Berner Jura-Seeland, 6. April 2022): Das Regionalgericht sprach A.A._ der Entführung (qualifiziert, zum Nachteil ihrer drei Kinder B.A._, C.A._ und D.A._, begangen vom 9. September 2018 bis zum 28. Februar 2020) sowie des Entziehens von Minderjährigen (zum Nachteil des Kindsvaters E.A.__, gleicher Zeitraum) schuldig. Die Verurteilung belief sich auf eine bedingte Freiheitsstrafe von 21 Monaten und eine bedingte Geldstrafe.
B. Zweitinstanzliches Urteil (Obergericht des Kantons Bern, 5. Juli 2023): Das Obergericht stellte die Rechtskraft des erstinstanzlichen Schuldspruchs wegen Entziehens von Minderjährigen zum Nachteil von E.A._ fest. Es erklärte A.A._ jedoch der Entführung, mehrfach qualifiziert begangen im selben Zeitraum und zum Nachteil der Kinder, schuldig. Das Obergericht stellte eine Verletzung des Beschleunigungsgebots fest, verurteilte A.A. zu einer Freiheitsstrafe von 3 Jahren und 9 Monaten und sprach dem Kindsvater eine Genugtuung zu.
Massgebliche Sachverhaltsfeststellungen des Obergerichts: A.A._, der die Obhut über ihre drei Kinder (geb. 2013, 2014, 2017) zustand, verbrachte diese am 9. September 2018 ohne Zustimmung des von ihr getrennt lebenden Kindsvaters E.A._ (Mitinhaber der elterlichen Sorge) mit Bleibeabsicht nach Tunesien. Dort lebten sie 18 Monate (bis 28. Februar 2020). Während dieser Zeit hatten die Kinder keinen Kontakt zum Vater oder anderen Verwandten. Die Kinder wurden in einen fremden Kulturkreis gebracht und konnten sich anfangs aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse nicht verständigen. A.A._ arbeitete in einem Callcenter und liess die Kinder unter der Woche, das jüngste Kind dauernd, von einem ihr vorher unbekannten Ehepaar betreuen. Die Kinder übernachteten auch bei den Pflegeeltern. Obwohl es den Kindern in Tunesien grundsätzlich gut ging, vermissten die beiden älteren Kinder ihren Vater. A.A._ litt zum Zeitpunkt der Ausreise an einer rezidivierenden depressiven Störung, fühlte sich mit der Kinderbetreuung überfordert und wollte den missliebigen Behörden (KESB), ihrer besorgten Familie und E.A.__ entfliehen.
III. Rügen und Anträge der Beschwerdeführerin sowie Stellungnahme der KinderDie Beschwerdeführerin rügte vor Bundesgericht im Wesentlichen, der Aufenthalt in Tunesien habe das Kindeswohl nicht verletzt, da es den Kindern dort gut gegangen sei. Negative Umstände wie fremdes Land, Sprache, Kultur, ihre Depression und Überforderung, Fremdplatzierung, mittellose Verhältnisse, illegaler Aufenthalt und Schwarzarbeit hätten keinen wesentlichen Einfluss auf das Kindeswohl gehabt und würden Art. 183 Ziff. 2 StGB nicht rechtfertigen. Der Kontaktabbruch zum Kindsvater sei eine geringfügige Beeinträchtigung, da die Beziehung zum Vater vor der Ausreise bereits lose gewesen sei und dieser auch längere Abwesenheiten gehabt habe. Sie argumentierte, ihr Verhalten falle unter Art. 220 StGB (Entziehen von Minderjährigen), nicht aber unter den schwerwiegenderen Tatbestand der Entführung.
Bemerkenswert ist, dass die von der KESB eingesetzte Kollisionsbeiständin der Kinder die Kritik der Beschwerdeführerin weitgehend unterstützte. Sie führte an, dass die Kinder in Tunesien gut versorgt waren, die Mutter-Kind-Beziehung nicht gefährdet war und der Kindsvater vor der Ausreise kein konstantes, regelmässiges und unbegleitetes Besuchsrecht ausgeübt habe, da er sich selbst immer wieder für längere Zeit im Ausland aufgehalten hatte.
IV. Begründung der Vorinstanz für den Schuldspruch der EntführungDas Obergericht bejahte die Entführung gemäss Art. 183 Ziff. 2 StGB mit der Begründung, das Kindeswohl sei klar verletzt worden bzw. die geschaffene Situation sei den Bedürfnissen der Kinder klar entgegengestanden. Es führte eine Reihe von Punkten an: * Die depressive und überforderte Mutter habe die Kinder aus ihrer gewohnten Umgebung gerissen und in einen fremden Kulturkreis gebracht, wo sie sich anfänglich nicht verständigen konnten, was die schulische Karriere gefährdet habe. * Die Kinder hätten ihren Vater vermisst, durften ihn aber nicht kontaktieren. Dem Vater sei es vollständig verwehrt worden, seine Kinder zu sehen und eine Beziehung zur jüngsten Tochter aufzubauen. * Die Kinder seien in Tunesien fremdbetreut und auch über Nacht bei Pflegeeltern untergebracht worden, die die Mutter nur flüchtig über Facebook kannte. Eine sanfte Eingewöhnung habe nicht stattgefunden. * Die mittellose Situation der Mutter, der fehlende Krankenversicherungsschutz und der Umstand, dass sie sich illegal im Land aufhielt und Schwarzarbeit leistete, hätten jederzeit die Gefahr einer Ausweisung und erneuten Entwurzelung bedeutet. * Der grundlose Wegzug aus der Schweiz grenze an Kindeswohlgefährdung. Diese sei spätestens mit dem abrupten Kontaktabbruch zum Vater und der Fremdbetreuung in einem fremden Land eingetreten. * Die Mutter habe alle diese negativen Folgen für die Kinder als Begleiterscheinung ihrer Auswanderung bewusst hingenommen. * Der Freiheitsentzug habe deutlich mehr als 10 Tage gedauert, womit das Qualifikationsmerkmal von Art. 184 Abs. 4 StGB erfüllt sei.
V. Massgebende Rechtsgrundlagen und bisherige Rechtsprechung des BundesgerichtsDas Bundesgericht legte ausführlich die Entwicklung seiner Rechtsprechung zur Entführung von Minderjährigen durch einen Elternteil dar:
Art. 183 Ziff. 2 StGB: Geschütztes Rechtsgut ist die körperliche Bewegungsfreiheit des Opfers. Der Tatbestand setzt eine Ortsveränderung voraus, die eine Machtposition des Täters über das Opfer begründet und das Opfer in seiner Freiheit beschränkt. Bei Personen unter 16 Jahren sind keine besonderen Tatmittel (Gewalt, List, Drohung) erforderlich.
BGE 118 IV 61 (1992): Verneinte eine Entführung, wenn der Täter die Machtposition bereits vor dem Ortswechsel hatte und diese durch das Verbringen nicht erheblich verstärkt wurde. Die Freiheit des Kindes sei durch die elterliche Gewalt eingeschränkt, und es spiele grundsätzlich keine Rolle, welcher der beiden Inhaber der elterlichen Gewalt den Aufenthaltsort bestimme, solange dies mit dem Kindeswohl vereinbar sei. In diesem Fall wurde ein Vater freigesprochen, der seine Kinder für sechs Wochen mit auf eine Reise nahm, sie aber gut behandelte und es ihnen insgesamt gut ging.
BGE 126 IV 221 (2000): Bestätigte den Grundsatz, dass sich der (Mit-)Inhaber der elterlichen Sorge und Obhut nicht der Entführung strafbar machen kann. Hierbei wurde explizit auf BGE 118 IV 61 verwiesen, jedoch präzisiert, dass dieser Grundsatz ohne Ausnahmen, also auch bei Unvereinbarkeit mit dem Kindeswohl, gelten solle. Eine Entführung der eigenen Kinder komme nur in Betracht, wenn das Obhutsrecht einem Elternteil allein zugeteilt sei. Für andere Konstellationen verwies das Gericht auf Art. 220 StGB (Entziehen von Minderjährigen) und Art. 219 StGB (Verletzung der Fürsorge- oder Erziehungspflicht).
BGE 141 IV 10 (2015): Relativierte BGE 126 IV 221. Es hielt zwar am Grundsatz fest, dass der Obhutsberechtigte grundsätzlich keine Entführung begehen kann, anerkannte aber Ausnahmefälle, in denen die Verbringung des Kindes derart massiv in dessen Interessen und Freiheitsrechte eingreife, dass die Ortsveränderung nicht mehr mit dem Aufenthaltsbestimmungsrecht zu rechtfertigen sei. Voraussetzung hierfür sei, dass die konkreten Umstände eindeutig ausserhalb des Kindeswohls lägen. In diesem Fall bejahte das Bundesgericht eine Entführung, als ein Vater seine Kinder der Obhutsberechtigten Mutter entzog und an einen unbekannten Ort in Nigeria verbrachte, wo sie ohne ihre Hauptbezugsperson aufwachsen mussten. Das Bundesgericht betonte, dass geringfügige Beeinträchtigungen der Kindesinteressen nicht ausreichen.
Zivilrechtliche Änderungen (Art. 301a ZGB, seit 1. Juli 2014): Mit der Revision der Bestimmungen zur elterlichen Sorge wurde die gemeinsame elterliche Sorge zum Regelfall, und das Recht, den Aufenthaltsort des Kindes zu bestimmen, wurde explizit Bestandteil der elterlichen Sorge (Art. 301a Abs. 1 ZGB). Ein Wechsel des Aufenthaltsortes des Kindes ins Ausland bedarf bei gemeinsamer elterlicher Sorge der Zustimmung des anderen Elternteils oder einer gerichtlichen/behördlichen Entscheidung (Art. 301a Abs. 2 lit. a ZGB). Der Gesetzgeber verfolgte dabei die „Niederlassungsfreiheit-Konzeption“, die die Bewegungsfreiheit der Eltern respektiert und verhindern soll, dass die Schweiz zu einem "Müttergefängnis" wird. Das Zivilrecht sieht für Verstösse gegen Art. 301a ZGB bewusst keine Sanktionen vor. Nach der Rechtsprechung zu Art. 301a ZGB ist es tendenziell zum Wohl des Kindes, bei der Hauptbetreuungsperson zu bleiben und mit ihr wegzuziehen, selbst wenn dies die Besuchsrechtsausübung des anderen Elternteils erschwert.
Das Bundesgericht kommt zum Schluss, dass der vorinstanzliche Schuldspruch wegen mehrfacher Entführung gegen Bundesrecht verstösst. Es begründet dies wie folgt:
Fehlende Trennung von der Hauptbezugsperson: Die Beschwerdeführerin war die obhutsberechtigte Hauptbezugsperson der Kinder. Im Gegensatz zum Präzedenzfall BGE 141 IV 10, bei dem die Kinder ihrer Hauptbezugsperson entzogen wurden, wurden die hier betroffenen, noch personenbezogenen Kleinkinder nicht von ihrer engsten Bezugsperson getrennt. Dies ist ein entscheidender Unterschied.
Keine "massive Verletzung" des Kindeswohls im Sinne von Art. 183 StGB: Das Obergericht stellte fest, dass es den Kindern in Tunesien gut ging. Sprach- und Kulturwechsel, anfängliche Anpassungsschwierigkeiten oder eine Fremdbetreuung sind nach der Rechtsprechung (BGE 136 III 353 E. 3.3) in der Regel keine ernsthafte Gefährdung des Kindeswohls und damit keine massive Verletzung im Sinne von BGE 141 IV 10. Geringfügige Beeinträchtigungen genügen nicht. Das Bundesgericht hält fest, dass die weiteren vom Obergericht erwähnten Umstände (knappe Finanzen, fehlende Aufenthaltsbewilligung, mangelnde Krankenversicherung, flüchtiges Kennenlernen der Pflegeeltern, kurze Eingewöhnungsphase, kein vergleichbares Bildungsangebot) für die Qualifikation als Entführung irrelevant sind, da es den Kindern insgesamt gut ging und eine Rückkehr der Mutter in die Schweiz jederzeit möglich war.
Bedeutung von Art. 301a ZGB: Ein blosser Verstoss gegen das zivilrechtliche Zustimmungserfordernis nach Art. 301a Abs. 2 ZGB begründet keine Entführung im Sinne von Art. 183 Ziff. 2 StGB. Dies wäre ein Schuldspruch aus rein formellen Gründen. Da der Gesetzgeber mit der "Niederlassungsfreiheit-Konzeption" bewusst in Kauf genommen hat, dass ein Wegzug der Hauptbetreuungsperson ins Ausland die Besuchsrechtsausübung erschwert, kann die faktische Einschränkung des Besuchsrechts des nicht obhutsberechtigten Kindsvaters die Annahme einer massiven Kindeswohlverletzung nicht begründen. Es ist nicht Aufgabe des Strafrichters, hypothetisch zu beurteilen, ob eine Bewilligung für den Wegzug erteilt worden wäre, zumal zivilrechtliche Verstösse gegen Art. 301a ZGB sanktionslos bleiben.
Irrelevanz des Geheimhaltens des Aufenthaltsortes für Art. 183 StGB: Der Tatbestand der Entführung knüpft an den Ortswechsel und die sich daraus ergebende Machtposition an. Das Geheimhalten des Aufenthaltsortes gegenüber dem Vater oder das Verhindern des Kontakts per Kommunikationsmittel ist für die Erfüllung von Art. 183 StGB irrelevant, kann aber den Tatbestand des Entziehens von Minderjährigen (Art. 220 StGB) betreffen. Auch der Kontaktabbruch zur Grossmutter war gemäss Feststellungen bereits vor der Ausreise erfolgt und ist für Art. 183 StGB nicht massgebend.
Das Bundesgericht betont, dass A.A.__ trotz der festgestellten Überforderung und den anfänglichen Sorgen um das Wohl der Kinder den Beweis erbracht hat, dass sie in der Lage war, für diese zu sorgen.
VII. Fazit und Dispositiv des BundesgerichtsDas Bundesgericht hiess die Beschwerde gut und hob den Schuldspruch wegen mehrfacher qualifizierter Entführung auf. Es sprach A.A.__ vom Vorwurf der mehrfachen Entführung frei. Die Sache wurde an die Vorinstanz zurückgewiesen, um die Strafe für den rechtskräftigen Schuldspruch wegen Entziehens von Minderjährigen im Sinne von Art. 220 StGB neu festzusetzen. Die Vorinstanz hat dabei auch der vom Obergericht bereits festgestellten Verletzung des Beschleunigungsgebots sowie der Dauer des bundesgerichtlichen Verfahrens Rechnung zu tragen.
Der Kanton Bern hat die Beschwerdeführerin und die Beiständin der Kinder für das bundesgerichtliche Verfahren zu entschädigen. Dem Kindsvater E.A.__, dessen Zivilforderungen bereits rechtskräftig beurteilt waren und der im Hinblick auf den Tatbestand der Entführung nicht als Geschädigter im Sinne des Strafprozessrechts galt, wurde keine Parteientschädigung zugesprochen.
VIII. Kurze Zusammenfassung der wesentlichen PunkteDas Bundesgericht hat im Urteil 6B_1141/2023 entschieden, dass die Verbringung der eigenen Kinder durch eine obhutsberechtigte Hauptbezugsperson ins Ausland grundsätzlich nicht den Tatbestand der mehrfachen qualifizierten Entführung (Art. 183 Ziff. 2 StGB) erfüllt. Eine solche Qualifikation wäre nur bei einer massiven und eklatanten Verletzung des Kindeswohls denkbar, die über die mit einem Ortswechsel verbundenen üblichen Beeinträchtigungen hinausgeht und sich nicht mehr mit dem elterlichen Aufenthaltsbestimmungsrecht rechtfertigen lässt. Im vorliegenden Fall war ausschlaggebend, dass die Mutter die Hauptbezugsperson war, die Kinder nicht von ihr getrennt wurden und es ihnen im Ausland nach den Feststellungen der Vorinstanz grundsätzlich gut ging. Ein blosser Verstoss gegen das zivilrechtliche Zustimmungserfordernis gemäss Art. 301a Abs. 2 ZGB, das die Niederlassungsfreiheit der Eltern betont und zivilrechtlich sanktionslos ist, begründet keine strafrechtliche Entführung. Das Verhalten der Mutter ist zwar nach Art. 220 StGB (Entziehen von Minderjährigen) strafbar, nicht aber als Entführung.