Zusammenfassung von BGer-Urteil 6B_371/2025 vom 10. November 2025

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Detaillierte Zusammenfassung des Urteils des Schweizerischen Bundesgerichts 6B_371/2025 vom 10. November 2025 1. Einführung und Verfahrensgegenstand

Das vorliegende Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts (Aktenzeichen 6B_371/2025) vom 10. November 2025 befasst sich mit einer Beschwerde in Strafsachen von A._ gegen ein Urteil des Kantonsgerichts Luzern vom 19. Februar 2025. Das Kantonsgericht hatte A._ zweitinstanzlich wegen mehrfacher qualifizierter ungetreuer Geschäftsbesorgung (Art. 158 Ziff. 1 Abs. 1 und 3 StGB), Unterlassung der Buchführung, mehrfacher Zweckentfremdung von Arbeitnehmerbeiträgen, Misswirtschaft und Verfügung über mit Beschlag belegte Vermögenswerte (Art. 169 StGB) verurteilt. Es wurde eine teilbedingte Freiheitsstrafe von 2 Jahren und 6 Monaten, eine bedingte Geldstrafe, eine Ersatzforderung von CHF 200'000.-- sowie eine Verletzung des Beschleunigungsgebots festgestellt. Der Beschwerdeführer A.__ beantragte die Aufhebung des kantonsgerichtlichen Urteils und die Rückweisung zur Neubeurteilung, mit dem Ziel, von den Schuldsprüchen wegen Verfügung über mit Beschlag belegte Vermögenswerte und mehrfacher qualifizierter ungetreuer Geschäftsbesorgung freigesprochen zu werden, was eine neue Strafzumessung zur Folge hätte.

2. Schuldspruch wegen Verfügung über mit Beschlag belegte Vermögenswerte (Art. 169 StGB)

Der Beschwerdeführer rügte, er habe keine Kenntnis von den Pfändungen des Opel Astra gehabt und diesen nicht zum Schaden der Gläubiger unter Wert an seine Schwägerin veräussert.

2.1. Sachverhalt gemäss Vorinstanz

Der Beschwerdeführer A._ war alleiniger Gesellschafter und Geschäftsführer der C._ GmbH. Ein Opel Astra im Eigentum der GmbH wurde am 11. April 2019 und 12. September 2019 amtlich gepfändet (Schätzwert CHF 6'500.--). Am 9. Januar 2020 wurde das Konkursverfahren über die C._ GmbH eingeleitet, wobei die Vorladung zur Konkursverhandlung am 4. Februar 2020 polizeilich zugestellt wurde. Am 25. Februar 2020, einen Tag vor Konkurseröffnung, veräusserte A._ den Opel Astra für CHF 3'000.-- an seine Schwägerin. Einen Monat später verkaufte die Schwägerin das Fahrzeug für CHF 11'000.-- an die D._ GmbH des Bruders von A._ weiter.

2.2. Begründung des Bundesgerichts

Das Bundesgericht bestätigte die Beweiswürdigung der Vorinstanzen als nicht willkürlich und wies die Rüge des Beschwerdeführers ab: * Kenntnisnahme der Pfändung: Die Vorinstanzen beurteilten es als erwiesen, dass A._ um die Pfändung wusste. Dies stützte sich auf die polizeiliche Zustellung der Konkursvorladung am 4. Februar 2020, die ihn über das hängige Konkursverfahren informierte. Zudem war die erste Pfändungsurkunde persönlich an A._ adressiert und die zweite an die C._ GmbH an seiner Adresse. Das Gericht hielt fest, dass selbst bei Annahme seiner Abwesenheit bei den Pfändungsvollzügen – eine Behauptung, die den Akten des Betreibungsamtes widersprach – ausreichend Gelegenheiten zur Kenntnisnahme bestanden hätten, namentlich durch die Pfändungsurkunden und Hinweise seines Bruders, zu dem ein enges geschäftliches und privates Verhältnis bestand. Die Pfändung entfaltet ihre Wirkung mit der Zustellung der Pfändungsurkunde, auch wenn der Schuldner bei der Pfändung abwesend war. * Widersprüchliche Aussagen: A._ machte vor den Behörden widersprüchliche Angaben zum Verbleib des Opel Astra (angeblicher Spontanverkauf an Unbekannte für CHF 4'000.-- bzw. an Serben für CHF 3'000.--, dann Korrektur auf Verkauf an Schwägerin). Seine Behauptung, das Fahrzeug mit einem Opel Vivaro verwechselt zu haben, wurde als unglaubhaft verworren, da das Vivaro-Fahrzeug nur kurz auf die GmbH eingelöst war und A.__ selbst die Unterschiedlichkeit der Fahrzeuge einräumte. * Verkauf unter Wert und Schädigungsabsicht: Der Verkauf für CHF 3'000.--, bei einem amtlichen Schätzwert von CHF 6'500.-- und einem Weiterverkauf nur einen Monat später für CHF 11'000.--, wurde als deutlicher Verkauf unter Wert zum Nachteil der Gläubiger qualifiziert. Die Begründung des Beschwerdeführers, er habe mit dem Erlös Löhne bezahlt, fand keine Grundlage.

3. Schuldspruch wegen mehrfacher qualifizierter ungetreuer Geschäftsbesorgung (Art. 158 Ziff. 1 Abs. 1 und 3 StGB)

Der Beschwerdeführer focht den erstinstanzlichen Schuldspruch an und rügte, die Verurteilung basiere auf einer überhöhten Deliktssumme. Er machte geltend, zahlreiche Geldbezüge unter CHF 300.-- müssten als geringfügige Vermögensdelikte gemäss Art. 172ter StGB qualifiziert werden und seien als Übertretungen verjährt. Dies würde eine Reduktion der Deliktssumme um CHF 32'559.-- erfordern, da keine natürliche Handlungseinheit und kein einheitlicher Willensentschluss vorlägen, wie dies auch aus der "mehrfachen Tatbegehung" in der Anklage hervorgehe.

3.1. Begründung des Bundesgerichts

Das Bundesgericht wies auch diese Rüge ab und bestätigte die vorinstanzliche Würdigung: * Einheitlicher Willensentschluss und systematisches Vorgehen: Die Vorinstanz ging zu Recht davon aus, dass das Verhalten des Beschwerdeführers, das über anderthalb Jahre hinweg Geldbezüge im sechsstelligen Bereich umfasste (Gesamtsumme von CHF 482'476.74), von einem einheitlichen Willensentschluss getragen war. Es sei ein systematisches Vorgehen ersichtlich, das einem "Beruf" zur Bestreitung des Lebensunterhalts gleichkomme. Bei einem solchen Gesamtbetrag könne nicht von einem geringfügigen Vermögenswert im Sinne von Art. 172ter StGB gesprochen werden. * Anwendbarkeit von Art. 172ter StGB: Auch wenn einzelne Bezüge unter CHF 300.-- lagen, sei der Wille des Täters auf den hohen Gesamtbetrag gerichtet gewesen. Das Bundesgericht bekräftigte, dass für die Privilegierung gemäss Art. 172ter StGB das subjektive Kriterium, d.h. die Absicht des Täters, massgebend ist, nicht der einzelne eingetretene Erfolg. * Anklagegrundsatz (Art. 325 Abs. 1 lit. f StPO) und Immutabilitätsprinzip (Art. 350 Abs. 1 StPO): Die Anklageschrift umschrieb den Sachverhalt hinreichend detailliert mit einer Deliktstabelle und erfüllte damit die Umgrenzungs- und Informationsfunktion. Das Gericht ist zwar an den angeklagten Sachverhalt gebunden, jedoch nicht an dessen rechtliche Würdigung durch die Staatsanwaltschaft. Die Vorinstanzen durften die zahlreichen Einzelbezüge als Teile eines umfassenderen Deliktskomplexes mit einem übergeordneten Tatentschluss werten, insbesondere wenn sie am gleichen Tag oder in kurzen Abständen erfolgten. * Geringe Relevanz der Ausnahme: Selbst bei isolierter Betrachtung der Bargeldabhebungen unter CHF 300.--, die aufgrund grösserer zeitlicher Abstände isoliert dastanden, hätte der abzugsfähige Betrag höchstens CHF 1'000.-- betragen. Diese Summe sei im Vergleich zur Gesamtdeliktsumme von CHF 482'476.74 unbedeutend und hätte das erstinstanzliche Urteil nicht als gesetzeswidrig oder unbillig erscheinen lassen.

4. Strafzumessung (Art. 47 ff. StGB)

Der Beschwerdeführer kritisierte die Strafzumessung unter zwei Aspekten: die Gewichtung der Verletzung des Beschleunigungsgebots und die Berücksichtigung von Art. 164 StGB.

4.1. Verletzung des Beschleunigungsgebots (Art. 5 Abs. 1 StPO)
  • Rüge A.__: Die von der Vorinstanz festgestellte Verletzung des Beschleunigungsgebots im erstinstanzlichen Verfahren (25 Monate Dauer, deutliche Überschreitung der Urteilsversandfrist) sei mit einer Reduktion von 2 Monaten Freiheitsstrafe nicht hinreichend gewichtet worden (nur 6 % der Gesamtstrafe, gefordert 20 %).
  • Begründung des Bundesgerichts: Das Bundesgericht erinnerte an seine ständige Rechtsprechung zum Beschleunigungsgebot und den Ermessensspielraum der Sachgerichte bei dessen Sanktionierung. Die Vorinstanz hatte die Verletzung im erstinstanzlichen Verfahren zutreffend festgestellt und eine Strafreduktion von 2 Monaten vorgenommen sowie die Verletzung im Dispositiv festgehalten (vgl. Urteil 7B_181/2022 vom 27. September 2023 E. 2.4). Der Beschwerdeführer legte nicht dar, inwiefern die Vorinstanz mit dieser Gewichtung ihr Ermessen überschritten oder missbraucht hätte. Die blosse Forderung eines höheren Prozentsatzes genüge nicht, um eine Bundesrechtsverletzung zu begründen.
4.2. Konkurrenzsituation zwischen Art. 169 StGB und Art. 164 StGB
  • Problemstellung und vorinstanzlicher Entscheid: Die Staatsanwaltschaft hatte ursprünglich Anklage wegen Art. 169 StGB und eventualiter wegen Art. 164 StGB (Gläubigerschädigung durch Vermögensminderung) erhoben. Während die Erstinstanz von echter Konkurrenz ausging, entschied die Vorinstanz, dass in Bezug auf den Opel Astra Art. 169 StGB den Tatbestand des Art. 164 StGB konsumiere und somit von unechter Idealkonkurrenz auszugehen sei. Art. 169 StGB schütze nicht nur die staatliche Autorität, sondern wie Art. 164 StGB auch die Vermögensinteressen der Gläubiger und das Schuldbetreibungsverfahren selbst (vgl. Urteil 6B_1024/2016 vom 17. November 2017 E. 1.2). Der Unrechtsgehalt des Verkaufs unter Wert sei daher mit einer Bestrafung nach Art. 169 StGB vollumfänglich abgegolten. Entsprechend verurteilte die Vorinstanz den Beschwerdeführer nur wegen Art. 169 StGB.
  • Rüge A.__: Der Beschwerdeführer rügte, die Vorinstanz habe Art. 164 StGB bei der Strafzumessung zu Unrecht in ihre Überlegungen einbezogen, indem sie diesen bei der Umgrenzung des abstrakten Strafrahmens erwähnte und den Verkauf des Opel Astra "unter Wert" als straferhöhendes Element nannte, obwohl er deswegen nicht verurteilt worden sei.
  • Begründung des Bundesgerichts: Das Bundesgericht erklärte die Erwähnung von Art. 164 StGB bei der Umgrenzung des abstrakten Strafrahmens als ein Versehen, das jedoch nicht entscheidend sei. Die Vorinstanz habe die mehrfache qualifizierte ungetreue Geschäftsbesorgung als schwerstes Delikt für die Einsatzstrafe herangezogen. Bei der konkreten Bemessung der Strafe für Art. 169 StGB durfte sie die Umstände, dass der Beschwerdeführer sich über eine amtliche Pfändung hinwegsetzte und das Fahrzeug deutlich unter Wert veräusserte, berücksichtigen. Diese Tatumstände sind für die Schwere des Delikts nach Art. 169 StGB relevant und stellen keine unzulässige Berücksichtigung des konsumierten Art. 164 StGB dar. Die Strafzumessung sei diesbezüglich nicht zu beanstanden.
5. Fazit

Das Bundesgericht wies die Beschwerde von A.__ ab, soweit darauf eingetreten wurde. Die Schuldsprüche des Kantonsgerichts Luzern wegen Verfügung über mit Beschlag belegte Vermögenswerte (Art. 169 StGB) und mehrfacher qualifizierter ungetreuer Geschäftsbesorgung (Art. 158 Ziff. 1 Abs. 1 und 3 StGB) wurden bestätigt.

Wesentliche Punkte des Urteils:

  • Kenntnisnahme von Beschlaglegung: Für den Schuldspruch nach Art. 169 StGB genügt die polizeiliche Zustellung von Konkursvorladungen und Pfändungsurkunden, selbst wenn der Beschuldigte nicht persönlich bei der Pfändung anwesend war. Widersprüchliche Aussagen und ein Verkauf deutlich unter Wert werden als Indizien für vorsätzliches und schädigendes Handeln gewertet.
  • Aggregation von Deliktsbeträgen bei ungetreuer Geschäftsbesorgung: Bei einer Vielzahl von Geldbezügen im Rahmen einer fortgesetzten deliktischen Tätigkeit mit einem hohen Gesamtbetrag wird ein einheitlicher Willensentschluss angenommen. Die privilegierende Norm des Art. 172ter StGB (geringfügige Vermögensdelikte) ist nicht anwendbar, da der Wille des Täters auf den hohen Gesamtbetrag gerichtet ist. Die Anklageschrift muss dabei den Sachverhalt hinreichend umschreiben; das Gericht ist an den Sachverhalt, nicht aber an die rechtliche Würdigung der Staatsanwaltschaft gebunden.
  • Strafzumessung und Beschleunigungsgebot: Die Feststellung einer Verletzung des Beschleunigungsgebots führt zu einer Strafreduktion. Das Gericht hat dabei einen weiten Ermessensspielraum; eine Reduktion um 2 Monate bei einer Gesamtstrafe von 2,5 Jahren wurde als ermessenskonform beurteilt.
  • Konkurrenz zwischen Art. 169 StGB und Art. 164 StGB: Art. 169 StGB (Verfügung über mit Beschlag belegte Vermögenswerte) konsumiert den Tatbestand des Art. 164 StGB (Gläubigerschädigung durch Vermögensminderung), da beide Normen ähnliche Schutzgüter (Gläubigerinteressen und Zwangsvollstreckungsverfahren) schützen und der Unrechtsgehalt des schädigenden Handelns durch Art. 169 StGB vollständig erfasst wird. Die Berücksichtigung des "Verkaufs unter Wert" bei der Strafzumessung für Art. 169 StGB ist zulässig und stellt keine unzulässige Berücksichtigung des konsumierten Tatbestands dar.