Zusammenfassung von BGer-Urteil 2C_82/2023 vom 22. Oktober 2025

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Hier ist eine detaillierte Zusammenfassung des Urteils 2C_82/2023 des Schweizerischen Bundesgerichts vom 22. Oktober 2025:

1. Einleitung und Gegenstand des Verfahrens

Das Bundesgericht befasste sich mit einer Beschwerde des philippinischen Staatsangehörigen A._ gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 20. Dezember 2022. Gegenstand war die Nichtverlängerung seiner Aufenthaltsbewilligung, die Verweigerung einer Härtefallbewilligung und die damit verbundene Wegweisung aus der Schweiz. A._ war seit April 2011 in der Schweiz, zunächst als Hausangestellter. Seine Aufenthaltsbewilligung wurde zuletzt bis April 2017 verlängert. Nach Verlust seiner Anstellung im Oktober 2016 und dem Bezug von Sozialhilfe wurde ihm im Juli 2017 die Verlängerung der Bewilligung verweigert.

2. Sachverhaltliche Grundlagen

A.__ reiste 2011 ein, um eine Stelle als Hausangestellter anzutreten. Seine zunächst kontingentierte Kurzaufenthaltsbewilligung wurde später in eine ebenfalls kontingentierte Aufenthaltsbewilligung umgewandelt. Die Erteilung und Verlängerung der Bewilligungen war jeweils an die Bedingung geknüpft, dass ein Stellen- und Funktionswechsel ausgeschlossen sei und er bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses die Schweiz zu verlassen habe.

Nach der Entlassung im Oktober 2016 bezog A.__ ab Mai 2017 Sozialhilfe. Mehrere Gesuche um Stellenantritt bei neuen Arbeitgebern wurden von den zuständigen Arbeitsmarktbehörden abgewiesen. Erst im Januar 2022, während des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens, wurde ihm provisorisch eine Erwerbstätigkeit bewilligt, woraufhin er eine Vollzeitstelle antrat.

A.__ ist HIV-positiv, leidet an chronischer Niereninsuffizienz, intermittierendem Substanzabusus und Hypertonie. Seit Mai 2017 befindet er sich aufgrund einer depressiven Episode, ausgelöst durch die drohende Wegweisung, in psychiatrischer Behandlung. Seine Schwester, die ebenfalls bei demselben Arbeitgeber angestellt war, meldete im Juli 2019 ausbeuterische Arbeitsbedingungen, was zu einem Strafverfahren gegen den Arbeitgeber führte (u.a. wegen sexueller Nötigung, Ausnützung einer Notlage, Wucher). Die Aufenthaltsbewilligung der Schwester wurde daraufhin im Kontext ihrer Mitwirkung im Strafverfahren von ihrem Arbeitsverhältnis entkoppelt.

3. Zulässigkeit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten

Das Bundesgericht trat auf die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten ein, soweit der Beschwerdeführer einen Aufenthaltsanspruch gestützt auf Art. 4 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) i.V.m. Art. 14 des Übereinkommens des Europarats zur Bekämpfung des Menschenhandels (ÜBM) geltend machte, da dies einen potenziellen Anspruch auf die Bewilligung in vertretbarer Weise darlegte. Auch die Rüge einer Verletzung von Art. 8 EMRK wurde, ohne sich abschliessend zur Qualifikation des prozeduralen Aufenthalts zu äussern, materiell geprüft. Die eventualiter erhobene subsidiäre Verfassungsbeschwerde war unzulässig.

Nicht eingetreten wurde auf die Beschwerde, soweit sie die Erteilung einer Härtefallbewilligung nach Art. 30 Abs. 1 lit. b AuG betraf, da es sich hierbei um eine Ermessensbewilligung und nicht um einen Anspruch handelt. Ebenso wurde auf die Rügen gestützt auf das Übereinkommen Nr. 189 der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO-Übereinkommen Nr. 189) über menschenwürdige Arbeit für Hausangestellte nicht eingetreten, da dessen Bestimmungen nicht "self-executing" sind und somit keinen individualrechtlichen Aufenthaltsanspruch vermitteln.

4. Begründung des Bundesgerichts im Einzelnen

4.1. Gehörsverletzung und antizipierte Beweiswürdigung Der Beschwerdeführer rügte eine Verletzung seines Rechts auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV), weil die Vorinstanz den Beizug der Akten aus dem Strafverfahren gegen seinen ehemaligen Arbeitgeber (aufgrund der Anschuldigungen seiner Schwester) in antizipierter Beweiswürdigung abgelehnt hatte. Das Bundesgericht verneinte eine Gehörsverletzung. Es führte aus, dass das lange Zeitintervall zwischen der Entlassung des Beschwerdeführers (Oktober 2016) und den Anschuldigungen der Schwester (Juli 2019), die unterschiedlichen Geschlechter und die in wesentlichen Teilen geschlechtsspezifischen Vorwürfe der Schwester die Annahme rechtfertigten, dass die Erkenntnisse aus der Strafuntersuchung nicht ohne Weiteres auf den Beschwerdeführer übertragbar seien. Der Beschwerdeführer selbst war in das Strafverfahren nicht involviert.

4.2. Kein Aufenthaltsanspruch gestützt auf die Menschenhandelskonvention (Art. 4 EMRK i.V.m. Art. 14 ÜBM) Das Bundesgericht prüfte, ob A.__ als Opfer von Menschenhandel im Sinne des ÜBM qualifiziert und daraus einen Aufenthaltsanspruch ableiten könnte. Es definierte "Menschenhandel" anhand der drei Elemente Handlung, Mittel und Ausbeutungszweck (Art. 4 lit. a ÜBM) und "Zwangsarbeit" in Anlehnung an das IAO-Übereinkommen Nr. 29. Für das Vorliegen von Zwangsarbeit ist eine Zwangslage unter Androhung einer Strafe (auch psychologischer Natur) erforderlich.

Der Beschwerdeführer konnte jedoch keine hinreichend substantiierte Zwangslage aufzeigen. Er behauptete zwar ausbeuterische Arbeitsbedingungen (überlange Arbeitstage, ungerechtfertigter Lohnabzug), legte aber nicht dar, wie und mit welchen Mitteln er zur Aufnahme oder zum Verbleib in diesem Arbeitsverhältnis gezwungen worden sei. Er ist das Arbeitsverhältnis aus freien Stücken eingegangen und konnte es jederzeit verlassen. Er hatte im Gegensatz zu seiner Schwester nie bei Behörden oder Beratungsstellen für Opfer von Menschenhandel auf eine Zwangslage hingewiesen. Auch die Bindung seiner Aufenthaltsbewilligung an eine bestimmte Arbeitsstelle begründet für sich genommen keine Zwangslage oder Ausbeutung im Sinne des ÜBM, solange der Arbeitgeber die aufenthaltsrechtliche Situation nicht zur Ausübung von Druck oder zur Ausbeutung nutzte. Mangels glaubhafter Darlegung einer Zwangslage wurde ein Aufenthaltsanspruch aus der Menschenhandelskonvention verneint.

4.3. Bundesrechtswidrigkeit der Stellenbindung bei Aufenthaltsbewilligungen Ein zentraler Punkt der Beschwerde war die Rüge, dass die Bindung der Aufenthaltsbewilligung des Beschwerdeführers an eine bestimmte Arbeitsstelle bundesrechtswidrig sei. Das Bundesgericht stellte fest, dass in der kantonalen Praxis und Lehre unterschiedliche Auffassungen darüber bestehen, ob eine solche Bedingung gestützt auf Art. 33 Abs. 2 AuG mit dem gesetzlichen Anspruch auf freien Stellenwechsel von Personen mit Aufenthaltsbewilligung gemäss Art. 38 Abs. 2 AuG vereinbar ist.

Das Gericht hielt fest, dass Art. 38 Abs. 2 AuG ausdrücklich und voraussetzungslos vorsieht, dass Personen mit einer Aufenthaltsbewilligung, die zur selbstständigen oder unselbstständigen Erwerbstätigkeit zugelassen sind, ihre Tätigkeit in der ganzen Schweiz ausüben und die Stelle ohne weitere Bewilligung wechseln können. Diese Bestimmung stellt eine lex specialis dar im Vergleich zur allgemeineren Regelung von Art. 33 Abs. 2 AuG, welche die Möglichkeit zur Verbindung einer Bewilligung mit "weiteren Bedingungen" vorsieht. Die Materialien zum Ausländergesetz (AuG) bestätigen die Absicht des Gesetzgebers, die berufliche Mobilität für Inhaber einer Aufenthaltsbewilligung stark zu erleichtern.

Das Bundesgericht kam zum Schluss, dass die Praxis des Staatssekretariats für Migration (SEM), eine Aufenthaltsbewilligung zwecks Erwerbstätigkeit in bestimmten Einzelfällen (wie bei Hausangestellten) an eine bestimmte Arbeitsstelle zu knüpfen, bundesrechtswidrig ist. Eine solche Praxis unterläuft die gesetzlich vorgesehenen Unterschiede zwischen Kurzaufenthalts- und Aufenthaltsbewilligungen und stellt eine Kompetenzüberschreitung der rechtsanwendenden Behörde dar, da sie eine Erweiterung des gesetzlichen Systems vornimmt, die dem Gesetzgeber vorbehalten wäre.

4.4. Konsequenzen der bundesrechtswidrigen Stellenbindung für die Verlängerung Die bundesrechtswidrige Stellenbindung hatte zur Folge, dass deren Nichterfüllung keinen Widerrufsgrund gemäss Art. 62 Abs. 1 lit. d AuG darstellte. Dies begründet aber nicht per se einen Anspruch auf Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung, da die Verlängerung einer befristeten Aufenthaltsbewilligung gemäss Art. 33 Abs. 3 AuG grundsätzlich im Ermessen der Behörden liegt. Es besteht kein gesetzlicher Anspruch auf Verlängerung nach einer bestimmten Aufenthaltsdauer.

Der Umstand, dass A.__ aufgrund der rechtswidrigen Stellenbindung und der wiederholt verweigerten Stellenantritte Sozialhilfe bezog, ist als unverschuldet zu werten und wurde bei der Verhältnismässigkeitsprüfung berücksichtigt.

4.5. Verhältnismässigkeitsprüfung nach Art. 8 EMRK Das Bundesgericht prüfte die Verhältnismässigkeit der Nichtverlängerung der Aufenthaltsbewilligung und der Wegweisung gemäss Art. 8 Abs. 2 EMRK.

  • Dauer des Aufenthalts und Integration: Der Beschwerdeführer hielt sich zum Zeitpunkt des angefochtenen Urteils über elf Jahre in der Schweiz auf, wovon jedoch mehr als fünf Jahre auf den prozeduralen Aufenthalt während des Verfahrens entfielen. Das Bundesgericht stellte fest, dass seine soziale und sprachliche Integration als unterdurchschnittlich zu beurteilen sei. Er konnte über die Beziehung zu seiner Schwester hinausgehende soziale Bindungen nicht darlegen und wies nur geringe Deutschkenntnisse auf. Diese Integrationsdefizite relativierten sein privates Interesse am Verbleib in der Schweiz erheblich.

  • Wiedereingliederungsperspektiven auf den Philippinen:

    • Gesundheit: Obwohl A.__ HIV-positiv ist und seine derzeitige Medikation in den Philippinen nicht verfügbar ist, ist eine alternative, wirksame Kombinationstherapie dort erhältlich. Die Versorgung für HIV-Infizierte in den Philippinen wurde ausgebaut, und er hätte in Manila Zugang zu Diagnostik und Behandlung. Ein Teil der Kosten wird von der öffentlichen Krankenkasse übernommen, und der verbleibende Anteil ist ihm angesichts seiner Arbeitsfähigkeit zumutbar zu erwirtschaften. Auch andere gesundheitliche Probleme sind in den Philippinen behandelbar. Psychische Beschwerden im Zusammenhang mit der drohenden Wegweisung sind im Rahmen der Rückkehrvorbereitung zu berücksichtigen, um eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes zu vermeiden.
    • Homosexualität: Die Vorinstanz hatte detailliert festgestellt, dass LGBT-Personen und HIV-Infizierte auf den Philippinen zwar immer noch gesellschaftlicher Diskriminierung ausgesetzt sein können, einvernehmliche Sexualkontakte jedoch gesetzlich nicht verboten sind und die gesellschaftliche Akzeptanz (insbesondere in grösseren Städten) wächst. Diskriminierungsverbote aufgrund sexueller Orientierung wurden in mehreren Provinzen und Städten erlassen. Es ist daher nicht davon auszugehen, dass A.__ seine Sexualität auf den Philippinen nicht leben könnte.
    • Berufliche und soziale Reintegration: Mit seinem akademischen Abschluss im Hotelmanagement und seiner langjährigen Arbeitserfahrung (auch in der Schweiz) verfügt der Beschwerdeführer über gute Voraussetzungen für eine Wiedereingliederung in den philippinischen Arbeitsmarkt. Er ist erwerbsfähig, und die Behauptung einer prohibitiven Diskriminierung wegen seiner HIV-Erkrankung blieb unsubstantiiert. Er verfügt zudem über ein familiäres Umfeld in seinem Herkunftsland.

4.6. Gesamtbeurteilung Das Bundesgericht gelangte zur Auffassung, dass die öffentlichen Interessen an der Kontrolle und Steuerung der Zuwanderung die relativierten privaten Interessen des Beschwerdeführers am Verbleib in der Schweiz überwiegen. Die Nichtverlängerung der Aufenthaltsbewilligung und die Wegweisung halten somit auch der Verhältnismässigkeitsprüfung nach Art. 8 EMRK stand. Eine Verletzung von Art. 3 EMRK oder Art. 10 BV wurde ebenfalls verneint.

5. Ergebnis

Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten wurde abgewiesen, soweit darauf eingetreten wurde. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wurde gutgeheissen.

Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:

  1. Stellenbindung bundesrechtswidrig: Die Praxis, Aufenthaltsbewilligungen für Erwerbstätige (B-Bewilligung) an eine spezifische Arbeitsstelle zu knüpfen, ist unzulässig, da Art. 38 Abs. 2 AuG einen bewilligungsfreien Stellenwechsel vorsieht.
  2. Kein Aufenthaltsanspruch aus Menschenhandelskonvention: Es fehlten substantiierte Hinweise auf eine Zwangslage, die eine Einstufung als Opfer von Menschenhandel im Sinne des ÜBM und damit einen Aufenthaltsanspruch begründet hätte.
  3. Verlängerung bleibt Ermessensentscheid: Trotz der illegalen Stellenbindung besteht kein direkter Anspruch auf Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung, da die Verlängerung im Ermessen der Behörden liegt.
  4. Integration unterdurchschnittlich: Die Integration des Beschwerdeführers in die schweizerischen Verhältnisse (sozial, sprachlich) wurde als unterdurchschnittlich beurteilt, was sein privates Interesse am Verbleib relativiert.
  5. Wiedereingliederung zumutbar: Die Wiedereingliederung auf den Philippinen wird als zumutbar und möglich erachtet, auch unter Berücksichtigung seiner HIV-Erkrankung, Homosexualität und beruflichen Qualifikationen.
  6. Verhältnismässigkeit gegeben: Die öffentlichen Interessen an der Migrationskontrolle überwiegen die relativierten privaten Interessen, weshalb die Nichtverlängerung der Aufenthaltsbewilligung und die Wegweisung verhältnismässig sind und Art. 8 EMRK nicht verletzen. Der (unverschuldete) Sozialhilfebezug des Beschwerdeführers änderte an dieser Gesamtbeurteilung nichts.