Zusammenfassung von BGer-Urteil 7B_1340/2024 vom 28. November 2025

Es handelt sich um ein experimentelles Feature. Es besteht keine Gewähr für die Richtigkeit der Zusammenfassung.

Nachfolgend wird das Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts, Aktenzeichen 7B_1340/2024 und 7B_1341/2024, vom 28. November 2025 detailliert zusammengefasst. Die beiden Verfahren wurden gestützt auf Art. 71 BGG in sinngemässer Anwendung von Art. 24 Abs. 2 lit. b BZP vereinigt.

I. Sachverhalt und Vorinstanzliche Entscheidungen

Die Beschwerdeführer A._ (nachfolgend Beschwerdeführer 1) und B._ (nachfolgend Beschwerdeführer 2) wurden zusammen mit weiteren Personen am 3. Februar 2022 vom Bezirksgericht Hinwil der Freiheitsberaubung und Entführung, der einfachen Körperverletzung und der Nötigung schuldig gesprochen. Die Tat ereignete sich im Oktober 2019, als die fünf Beschuldigten den Geschädigten F.__ abfingen, gewaltsam in ein Auto zwangen und an einen anderen Ort verbrachten. Dort wurde der Geschädigte über Stunden hinweg massiver Gewalt ausgesetzt, zu erniedrigenden Handlungen gezwungen (u.a. Nacktfilmen, Knielbeugen, Zehen lutschen, erzwungenes Geständnis eines angeblichen sexuellen Verhältnisses) und geschlagen und getreten.

  • Bezirksgericht Hinwil:
    • A.__: Schuldig in mehreren Anklagepunkten. Verurteilt zu einer teilbedingten Freiheitsstrafe von 31 Monaten (16 Monate aufgeschoben). Anordnung einer Landesverweisung von fünf Jahren mit Ausschreibung im Schengener Informationssystem (SIS).
    • B.__: Schuldig in mehreren Anklagepunkten. Verurteilt zu einer teilbedingten Freiheitsstrafe von 29 Monaten (15 Monate aufgeschoben). Von einer Landesverweisung wurde abgesehen.
  • Obergericht des Kantons Zürich (11. März 2024):
    • Bestätigte die Schuldsprüche gegen A._ und B._.
    • A.__: Verurteilt zu einer teilbedingten Freiheitsstrafe von 30 Monaten (15 Monate aufgeschoben). Bestätigung der Landesverweisung von fünf Jahren und der SIS-Ausschreibung.
    • B.__: Verurteilt zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 24 Monaten.

Gegen diese Urteile legten A._ und B._ Beschwerde in Strafsachen beim Bundesgericht ein.

II. Beschwerde 7B_1341/2024 (B.__)

Der Beschwerdeführer 2 rügte im Wesentlichen zwei Punkte: erstens die örtliche Zuständigkeit der Zürcher Strafverfolgungsbehörden und zweitens die Abwesenheit der Staatsanwaltschaft an der Berufungsverhandlung.

A. Rüge der örtlichen Zuständigkeit (E. 2)

  1. Argument des Beschwerdeführers 2: Die Zürcher Behörden seien nicht zuständig gewesen, vielmehr hätten die Nidwaldner Behörden den Fall beurteilen müssen. Er habe die Unzuständigkeit rechtzeitig gerügt.
  2. Rechtliche Grundlagen: Gemäss Art. 39 Abs. 1 StPO prüfen die Strafbehörden ihre Zuständigkeit von Amtes wegen. Art. 41 Abs. 1 StPO schreibt vor, dass eine Partei die Zuständigkeit unverzüglich rügen muss, sobald ihr die Kenntnis der für die Änderung des Gerichtsstands wesentlichen Umstände zuzumuten ist. Eine Rüge darf nicht bis zum Rechtsmittelverfahren "aufgespart" werden.
  3. Begründung des Bundesgerichts: Das Bundesgericht schloss sich der vorinstanzlichen Auffassung an, dass die Rüge verspätet war. Der Beschwerdeführer 2 befand sich im Vorverfahren in Haft und war notwendigerweise verteidigt. Die Zuständigkeit war bereits im Vorverfahren thematisiert worden, da die Zürcher Staatsanwaltschaft die Nidwaldner Staatsanwaltschaft erfolglos um Übernahme des Falls ersucht hatte. Ein anwaltlicher Fehler sei nicht zwingend gegeben, da das Nichteinwenden der örtlichen Zuständigkeit auch auf einer Verteidigungsstrategie beruhen könne. Spätestens als der Rechtsvertreter des Beschwerdeführers 2 bei der Vorbereitung der erstinstanzlichen Hauptverhandlung die angebliche Unzuständigkeit bemerkte, hätte die Rüge unverzüglich erfolgen müssen.
  4. Entscheid: Die Rüge der örtlichen Zuständigkeit wurde abgewiesen.

B. Rüge der fehlenden Anwesenheit der Staatsanwaltschaft an der Berufungsverhandlung (E. 3)

  1. Argument des Beschwerdeführers 2: Die vorinstanzliche Verhandlung sei mangels Anwesenheit der Staatsanwaltschaft nicht rechtskonform durchgeführt worden. Da die Staatsanwaltschaft für alle Beschuldigten mehrjährige Freiheitsstrafen beantragt habe, hätte sie gemäss Art. 337 Abs. 3 StPO die Anklage persönlich vor Gericht vertreten müssen.
  2. Rechtliche Grundlagen: Der kontradiktorische Charakter des mündlichen Berufungsverfahrens erfordert grundsätzlich die Anwesenheit der Parteien (BGE 147 IV 127 E. 2.1). Art. 337 Abs. 3 StPO statuiert eine obligatorische Anwesenheitspflicht der Staatsanwaltschaft, wenn sie eine Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr oder eine freiheitsentziehende Massnahme beantragt. Gemäss Art. 405 Abs. 3 lit. a StPO hat die Verfahrensleitung die Staatsanwaltschaft in diesen Fällen zur Berufungsverhandlung vorzuladen. Die obligatorische Anwesenheit dient der Gewährleistung der Waffengleichheit und dem Anspruch auf ein faires Verfahren, insbesondere in Fällen schwerer Straftaten.
  3. Begründung des Bundesgerichts: Das Bundesgericht hielt fest, dass die Staatsanwaltschaft sowohl vor erster als auch vor zweiter Instanz Strafen von über einem Jahr Freiheitsstrafe für den Beschwerdeführer 2 beantragt hatte. Damit war ihre Anwesenheit an der Berufungsverhandlung zwingend vorgeschrieben (Art. 337 Abs. 3 i.V.m. Art. 405 Abs. 3 lit. a StPO). Der Umstand, dass der Beschwerdeführer 2 die fehlende Anwesenheit nicht gerügt hatte, ist unerheblich, da beschuldigte Personen grundsätzlich nicht zur Kooperation mit den Behörden verpflichtet sind. Die Strafrechtspflege obliegt einzig den vom Gesetz bestimmten Behörden, und Strafverfahren dürfen nur in den gesetzlich vorgesehenen Formen durchgeführt werden (Art. 2 Abs. 1 und 2 StPO). Der Verzicht auf die Vorladung der Staatsanwaltschaft verletzt daher Art. 337 Abs. 3 i.V.m. Art. 405 Abs. 3 lit. a StPO.
  4. Entscheid: Die Beschwerde des Beschwerdeführers 2 wurde gutgeheissen. Das Urteil des Obergerichts wurde aufgehoben und die Sache zur neuen Beurteilung und zur Wiederholung des Berufungsverfahrens an die Vorinstanz zurückgewiesen.
  5. Auswirkung auf Beschwerdeführer 1: Das Bundesgericht stellte klar, dass diese Rückweisung ausschliesslich den Beschwerdeführer 2 betrifft. Art. 107 Abs. 1 BGG limitiert das Gericht auf die gestellten Anträge, und das BGG kennt im Gegensatz zur StPO keine Bestimmung zur Ausdehnung gutheissender Rechtsmittelentscheide auf andere Parteien. Die Rügen des Beschwerdeführers 1 waren daher separat zu prüfen.

III. Beschwerde 7B_1340/2024 (A.__)

Der Beschwerdeführer 1 rügte, die Vorinstanz habe zu Unrecht einen Härtefall nach Art. 66a Abs. 2 StGB verneint und die Interessenabwägung zu seinen Ungunsten vorgenommen. Er machte geltend, er sei mit einer Schweizerin verheiratet, habe eine gemeinsame Tochter und lebe in geordneten Verhältnissen.

A. Obligatorische Landesverweisung und Härtefallklausel (E. 4.2-4.3)

  1. Rechtliche Grundlagen: Art. 66a Abs. 1 lit. g StGB sieht für Ausländer, die wegen Freiheitsberaubung und Entführung verurteilt wurden, eine obligatorische Landesverweisung von 5 bis 15 Jahren vor, unabhängig von der konkreten Tatschwere oder der Art der Strafe (bedingt, teilbedingt, unbedingt). Der Beschwerdeführer 1 ist srilankischer Staatsangehöriger und wurde wegen dieser Tat verurteilt; die Voraussetzungen für die Landesverweisung sind somit grundsätzlich erfüllt.
  2. Härtefallklausel (Art. 66a Abs. 2 StGB): Von der Landesverweisung kann nur ausnahmsweise abgesehen werden, wenn (1.) sie einen schweren persönlichen Härtefall bewirken würde UND (2.) die öffentlichen Interessen an der Landesverweisung die privaten Interessen des Ausländers am Verbleib in der Schweiz nicht überwiegen. Besondere Berücksichtigung finden Ausländer, die in der Schweiz geboren oder aufgewachsen sind.
  3. Kriterien für Härtefall und Interessenabwägung: Das Bundesgericht verweist auf seine Rechtsprechung. Zu berücksichtigen sind u.a. der Grad der Integration (persönlich, wirtschaftlich, sprachlich, Respektierung der Werte, Teilnahme am Wirtschaftsleben), familiäre Bindungen (in der Schweiz/Heimat), Aufenthaltsdauer, Gesundheitszustand und Resozialisierungschancen (vgl. Art. 31 Abs. 1 VZAE, Art. 58a AIG). Ein schwerer persönlicher Härtefall liegt bei einem Eingriff von gewisser Tragweite in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 13 BV, Art. 8 EMRK) vor, insbesondere wenn die Kernfamilie (Ehegatten mit minderjährigen Kindern) betroffen ist und das Familienleben nicht ohne weiteres andernorts gepflegt werden kann. Bei der Interessenabwägung sind massgeblich die verschuldensmässige Natur und Schwere der Tatbegehung, die Gefährlichkeit des Täters für die öffentliche Sicherheit und die Legalprognose zu berücksichtigen. Die "Zweijahresregel" besagt, dass bei einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren oder mehr ausserordentliche Umstände notwendig sind, damit das private Interesse überwiegt.

B. Beurteilung durch das Bundesgericht (E. 4.4-4.6)

  1. Sachlage des Beschwerdeführers 1: Der Beschwerdeführer 1 ist in Sri Lanka geboren und aufgewachsen, kam 2015 in die Schweiz, sein Asylgesuch wurde 2017 abgewiesen. Er heiratete im Oktober 2018 eine Schweizerin, worauf ihm im Juni 2019 eine Aufenthaltsbewilligung erteilt wurde. Er hat sich beruflich als Selbständiger (Imbisswagen) eine Existenz aufgebaut und seine Schulden abgebaut. Im November 2023 kam seine gemeinsame Tochter mit seiner Schweizer Ehefrau zur Welt. Er hat eine Vorstrafe wegen Raufhandels aus dem Jahr 2020.
  2. Bejahung des Härtefalls durch das Bundesgericht: Im Gegensatz zur Vorinstanz bejahte das Bundesgericht das Vorliegen eines Härtefalls. Die Beziehung zu seiner Schweizer Ehefrau bestand bereits, bevor strafrechtliche Verurteilungen ein Thema waren. Er hat eine berufliche Existenz aufgebaut und ist seit 10 Jahren in der Schweiz. Insbesondere die Geburt der gemeinsamen, zum Zeitpunkt des Urteils vier Monate alten Tochter und das eigenständige Anwesenheitsrecht der Ehefrau als Schweizer Bürgerin begründen ein schützenswertes Familienleben im Sinne von Art. 8 EMRK und Art. 13 BV.
  3. Interessenabwägung durch das Bundesgericht: Obwohl ein Härtefall bejaht wurde, kam das Bundesgericht in der Interessenabwägung zum Schluss, dass die öffentlichen Interessen an der Landesverweisung die privaten Interessen des Beschwerdeführers 1 überwiegen.
    • Starkes öffentliches Interesse:
      • Der Beschwerdeführer 1 wurde mehrfach wegen gravierender Delikte verurteilt. Die Anlasstat (Freiheitsberaubung und Entführung) ist ein schwerwiegendes Delikt, das er mit Mittätern in Überzahl gegen ein wehrloses Opfer beging, um dieses nach "dortigen Regeln" zu sanktionieren.
      • Die Taten wurden kurz nach seiner Entlassung aus der Migrationshaft und trotz seiner bestehenden Beziehung zur Schweizer Ehefrau begangen.
      • Die hohe, teilbedingte Freiheitsstrafe von 30 Monaten (davon 15 Monate zu vollziehen) unterstreicht die Schwere der Schuld.
      • Die fehlende Achtung der schweizerischen Rechtsordnung trotz unsicherem aufenthaltsrechtlichem Status und die einschlägige Vorstrafe lassen eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit befürchten. Es wird betont, dass die Massstäbe der Härtefallprüfung im Ausländerrecht strenger sind als jene der Legalprognose im Strafrecht.
    • Weniger gewichtiges privates Interesse:
      • Das Recht auf Familienleben ist nicht uneingeschränkt. Der Beschwerdeführer 1 und seine Ehefrau waren sich der unsicheren aufenthaltsrechtlichen Situation bewusst, als sie sich Ende 2022 zur Zeugung eines Kindes entschieden.
      • Da das gemeinsame Kind noch sehr jung und anpassungsfähig ist, kann dem Beschwerdeführer 1 zugemutet werden, die Schweiz zu verlassen und den Kontakt einstweilen mittels Kommunikationsmitteln zu pflegen.
      • Die Landesverweisung ist auf das gesetzliche Minimum von fünf Jahren befristet und erscheint zeitlich angemessen.
      • Der Beschwerdeführer 1 kann sich aufgrund seiner Herkunft, Sprachkenntnisse, Ausbildung und seines familiären Netzwerks problemlos in Sri Lanka wieder eingliedern. Anhaltspunkte für eine politische Verfolgung fehlen.
  4. Entscheid: Die Landesverweisung wurde als verhältnismässig erachtet. Die Beschwerde des Beschwerdeführers 1 wurde abgewiesen.

IV. Fazit und Zusammenfassung der wesentlichen Punkte

  1. Verfahrenstrennung: Das Bundesgericht vereinigte die Verfahren der beiden Beschwerdeführer aus prozessökonomischen Gründen, behandelte ihre Beschwerden jedoch aufgrund unterschiedlicher Anträge und Sachlagen getrennt.
  2. Beschwerdeführer 2 (B.__):
    • Die Rüge der örtlichen Zuständigkeit wurde wegen Verspätung abgewiesen. Eine Rüge muss gemäss StPO "unverzüglich" erfolgen und kann nicht für ein Rechtsmittelverfahren aufgespart werden.
    • Die Rüge der fehlenden Anwesenheit der Staatsanwaltschaft an der Berufungsverhandlung wurde gutgeheissen. Das Bundesgericht stellte fest, dass die Anwesenheit der Staatsanwaltschaft bei Anträgen auf Freiheitsstrafen von über einem Jahr gemäss Art. 337 Abs. 3 StPO obligatorisch ist und ein Verzicht darauf eine Verletzung des Anspruchs auf ein faires Verfahren darstellt. Die Untätigkeit des Beschwerdeführers, dies zu rügen, war unerheblich, da die Behörden für die korrekte Verfahrensführung verantwortlich sind. Die Sache wurde für den Beschwerdeführer 2 zur Wiederholung des Berufungsverfahrens an die Vorinstanz zurückgewiesen.
  3. Beschwerdeführer 1 (A.__):
    • Das Bundesgericht bejahte das Vorliegen eines Härtefalls gemäss Art. 66a Abs. 2 StGB, insbesondere aufgrund der Ehe mit einer Schweizerin, der Geburt einer gemeinsamen Tochter und seiner Integrationsbemühungen, wodurch das Recht auf Familienleben nach Art. 8 EMRK berührt ist.
    • Trotz bejahtem Härtefall fiel die Interessenabwägung zwischen den privaten Interessen des Beschwerdeführers und den öffentlichen Interessen an der Landesverweisung zugunsten der Landesverweisung aus. Ausschlaggebend waren die Schwere und Wiederholung der Delikte, die manifeste Gefährlichkeit für die öffentliche Sicherheit, die Missachtung der schweizerischen Rechtsordnung trotz prekären Aufenthaltsstatus und die Zumutbarkeit der Wiedereingliederung in der Heimat. Die Entscheidung, ein Kind zu zeugen, erfolgte zudem in Kenntnis des unsicheren Aufenthaltsstatus.
    • Die Beschwerde des Beschwerdeführers 1 wurde abgewiesen, die Landesverweisung und die SIS-Ausschreibung wurden bestätigt.