Zusammenfassung von BGer-Urteil 6B_600/2024 vom 28. November 2025

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Gericht: Schweizerisches Bundesgericht, 1. Strafrechtliche Abteilung Datum des Urteils: 28. November 2025 Aktenzeichen: 6B_600/2024 (Ausweisung), 6B_18/2025 (Revision, Willkür) Parteien: A.__ (Beschwerdeführer) gegen Parquet général du canton de Berne (Beschwerdegegner)

Detaillierte Zusammenfassung des Urteils

I. Sachverhalt und Vorinstanzliche Verfahren

Der Beschwerdeführer, A.__, ein 1989 geborener algerischer Staatsangehöriger, kam 1996/1997 im Alter von 7-8 Jahren in die Schweiz. Im Jahr 2003 erhielt er mit seiner Familie den Flüchtlingsstatus, und 2013 eine Niederlassungsbewilligung. Diese wurde 2015 aufgrund strafrechtlicher Verurteilungen widerrufen, die Ausweisungsverfügung wurde 2017 rechtskräftig. Seither hält er sich illegal in der Schweiz auf und besitzt seit 2014 keinen algerischen Pass mehr. Er absolvierte die Schule in der Schweiz, brach jedoch eine Berufsausbildung (Informatiker-CFC) ab und ist seit 2013 sozialhilfeabhängig mit Schulden von über 50'000 CHF.

A.__ leidet an mehreren psychischen Störungen, darunter hebephrener Schizophrenie (F20.1 ICD-10), dissozialer Persönlichkeitsstörung (F60.2 ICD-10) sowie cannabisbedingten psychischen und Verhaltensstörungen (F12.8 ICD-10). Er befindet sich in psychiatrischer Behandlung und nimmt Medikamente ein. Er ist ledig, kinderlos und steht unter Beistandschaft. Trotz angespannter Beziehungen in der Vergangenheit hat er Kontakt zu seinen Eltern und Geschwistern, die ihn psychologisch, administrativ und finanziell unterstützen. Seine soziale Integration in der Schweiz wird als "weitgehend beeinträchtigt, um nicht zu sagen inexistent" beschrieben.

Der Beschwerdeführer weist eine lange und dichte Vorstrafenliste auf, darunter sechs Verurteilungen, wovon vier zu insgesamt sechs Jahren Freiheitsentzug, hauptsächlich wegen iterativer Vermögensdelikte mittlerer Schwere.

  1. Erste Instanz (Tribunal régional Jura bernois-Seeland, 1. Dezember 2022): A.__ wurde wegen Diebstahls, versuchten Diebstahls, Sachbeschädigung, Hausfriedensbruchs (mehrfaches Einbrechen in Firmenräume 2020), Ehrverletzung und Gewalt/Drohung gegen Beamte (aggressive Auseinandersetzung mit einem Kontrolleur) sowie illegalen Aufenthalts und Nichtbefolgung einer Wegweisungsverfügung (Art. 115 Abs. 1 lit. b AuG) verurteilt. Die Strafe betrug 7 Monate Freiheitsentzug und 10 Tagessätze zu 30 CHF. Eine ambulante Behandlung (psychiatrische Begleitung mit Sitzungen und Medikation) wurde angeordnet. Eine Landesverweisung (Expulsion) wurde nicht ausgesprochen.

  2. Berufungsinstanz (Cour suprême du canton de Berne, 2e Chambre pénale, 17. Juni 2024): Auf Berufung der Staatsanwaltschaft hin hiess das kantonale Obergericht die Berufung gut und ordnete die Landesverweisung (Expulsion) des Beschwerdeführers an, inklusive Eintragung in das Schengener Informationssystem (SIS). Es stellte fest, dass die anderen Punkte des erstinstanzlichen Urteils rechtskräftig geworden waren.

  3. Bundesgerichtliche Verfahren:

    • 6B_600/2024: Der Beschwerdeführer legte gegen das Ausweisungsurteil des Obergerichts vom 17. Juni 2024 Beschwerde in Strafsachen ein mit dem Hauptantrag, auf die Ausweisung zu verzichten.
    • 6B_18/2025: Parallel dazu reichte der Beschwerdeführer ein Revisionsgesuch gegen dasselbe Urteil ein. Das Bundesgericht setzte die Behandlung der Beschwerde 6B_600/2024 bis zur Klärung des Revisionsgesuchs aus.
    • Das kantonale Obergericht verweigerte am 20. November 2024 das Eintreten auf das Revisionsgesuch. Dagegen legte der Beschwerdeführer wiederum Beschwerde in Strafsachen beim Bundesgericht ein (6B_18/2025).

II. Rechtliche Würdigung durch das Bundesgericht

Das Bundesgericht trat aufgrund des Sachzusammenhangs und der gegenseitigen Beeinflussung der Verfahren auf beide Beschwerden ein und vereinigte die Verfahren (E. 1). Es prüfte vorrangig die Beschwerde gegen das Nichteintreten auf das Revisionsgesuch (6B_18/2025) (E. 2).

1. Grundsätzliches zum Revisionsverfahren (E. 3 und 4)

  • Bindung an den Sachverhalt (E. 3): Das Bundesgericht ist im Beschwerdeverfahren in Strafsachen an die Sachverhaltsfeststellungen der Vorinstanz gebunden (Art. 105 Abs. 1 BGG), es sei denn, diese sind willkürlich (Art. 97 Abs. 1, 105 Abs. 2 BGG). Der Grundsatz in dubio pro reo hat hierbei keine über Art. 9 BV hinausgehende Bedeutung und ist im Bereich strafrechtlicher Massnahmen, insbesondere bei Prognosen, eingeschränkt anwendbar.
  • Revisionsgründe (E. 4): Gemäss Art. 410 Abs. 1 lit. a StPO kann die Revision eines rechtskräftigen Urteils verlangt werden, wenn Tatsachen oder Beweismittel vorliegen, die der Vorinstanz unbekannt waren und die geeignet sind, einen Freispruch, eine erheblich mildere oder eine erheblich strengere Verurteilung zu bewirken. Die Tatsachen/Beweismittel müssen neu und erheblich sein.
    • Unbekannt: Wenn der Richter im Zeitpunkt seines Entscheids keine Kenntnis davon hatte.
    • Erheblich: Wenn sie geeignet sind, die Sachverhaltsfeststellungen, auf denen die Verurteilung beruht, zu erschüttern, und der so geänderte Sachverhalt ein wesentlich günstigeres Urteil ermöglicht.
  • Zwei Phasen des Revisionsverfahrens (E. 4.1):
    • Vorprüfung (rescindant): Gemäss Art. 412 Abs. 2 StPO tritt die Rechtsmittelinstanz auf das Revisionsgesuch nicht ein, wenn es offensichtlich unzulässig, unbegründet oder bereits einmal abgewiesen wurde. Die Rechtsprechung erlaubt auch ein Nichteintreten, wenn die Revisionsgründe von vornherein unwahrscheinlich oder unbegründet erscheinen. Diese Vorprüfung hat jedoch restriktiv zu erfolgen.
    • Materielle Prüfung (resciso): Falls die Vorprüfung positiv ausfällt, erfolgt die materielle Prüfung der Gründe (Art. 413 Abs. 1 StPO).

2. Kantonale Begründung für das Nichteintreten auf das Revisionsgesuch und Bundesgerichtliche Prüfung (E. 4.4 - 4.8)

Das Bundesgericht beurteilte die kantonale Begründung für das Nichteintreten auf das Revisionsgesuch in drei Hauptpunkten:

  • 2.1 Anwendbarkeit von Art. 410 Abs. 1 lit. a StPO auf die Ausweisung (E. 4.4):

    • Kantonale Ansicht: Das Obergericht hielt es für zweifelhaft, ob die Bestimmung auf die Ausweisung anwendbar sei, da diese eine "administrative Massnahme" und keine "Strafe" darstelle.
    • Bundesgerichtliche Beurteilung: Das Bundesgericht widersprach dieser restriktiven Auslegung. Es verwies auf die Botschaft des Bundesrats zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts (FF 2005 1303), die ausdrücklich festhält, dass Urteile nicht nur hinsichtlich der verurteilten Person, sondern auch bezüglich verhängter Massnahmen erhebliche Auswirkungen haben. Systematisch sei nicht ersichtlich, warum die Revision für unabhängige Massnahmenverfahren (Art. 372 ff. und 374 f. StPO) zulässig sein sollte, nicht aber für die Ausweisung als strafrechtliche Massnahme (Art. 66a und 66a bis StGB), die vom Strafgericht aufgrund strafbarer Handlungen angeordnet wird. Die kantonale Begründung war demnach unzutreffend.
  • 2.2 Überprüfung der Verhältnismässigkeit im Vollzugsverfahren (E. 4.5):

    • Kantonale Ansicht: Das Obergericht argumentierte, die Frage der Verhältnismässigkeit, insbesondere im medizinischen Bereich, müsse noch von der Vollzugsbehörde geprüft werden, was einen ausreichenden Rechtsschutz gewährleiste.
    • Bundesgerichtliche Beurteilung: Das Bundesgericht verwarf auch dieses Argument. Es betonte, dass die Revision (Art. 410 StPO) Tatsachen betrifft, die vor dem Urteil bestanden, aber dem Richter unbekannt waren. Die Prüfung durch die Vollzugsbehörde hingegen beziehe sich auf nach Rechtskraft des Urteils eingetretene Änderungen der massgeblichen Umstände (ATF 147 IV 453 E. 1.4.7). Da im vorliegenden Fall keine konkreten Anzeichen für eine Änderung der Umstände im Zusammenhang mit dem Gesundheitszustand des Beschwerdeführers oder seiner Versorgung im Zielstaat vorliegen, sei es nicht angebracht, die Prüfung dieser Fragen der Vollzugsbehörde zu überlassen.
  • 2.3 Tatsachen bereits bekannt / nicht erheblich (E. 4.6 – 4.8):

    • Kantonale Ansicht (subsidiär): Das Obergericht meinte, die vom Beschwerdeführer vorgelegten Beweismittel (AI-Entscheid, medizinische Expertise, Schreiben von Institutionen) bezögen sich auf bereits bekannte Sachverhalte, insbesondere den Gesundheitszustand und die mangelnde Integration. Die rückwirkende Zuerkennung einer AI-Rente ändere nichts am Befund der schlechten sozialen und finanziellen Integration oder am Rückfallrisiko.
    • Bundesgerichtliche Beurteilung (E. 4.7 und 4.8): Das Bundesgericht stellte fest, dass die kantonale Analyse über eine blosse Vorprüfung hinausging und faktisch eine materielle Abweisung des Revisionsgesuchs darstellte. Es prüfte die vorgelegten Beweismittel im Detail:
      • Schreiben der J.__ (E. 4.8.1): Dieses Schreiben datiert nach dem Berufungsurteil und belegt lediglich, dass der Beschwerdeführer seine Eltern zu Gemeinschaftsaktivitäten begleitet hat. Es ist kein neuer vor dem Urteil bestehender und erheblicher Sachverhalt im Sinne der Revision (ATF 141 IV 349).
      • Schreiben der I.__ (E. 4.8.2): Auch dieses Schreiben datiert nach dem Berufungsurteil und attestiert einen einzigen Besuch. Ein mögliches Praktikum war an nicht erfüllte Bedingungen (Aufenthaltsbewilligung und Adresse im Kanton Waadt) geknüpft. Es ist daher ebenfalls nicht geeignet, ein günstigeres Urteil herbeizuführen.
      • Entscheid der Invalidenversicherung (AI) vom 19. Juni 2024 (E. 4.8.3): Obwohl der Entscheid selbst nach dem Berufungsurteil erfolgte, stellt er fest, dass der Beschwerdeführer seit dem 13. August 2012 vollständig arbeitsunfähig ist. Diese Feststellung, auch wenn der Strafrichter nicht daran gebunden ist, ist ein wichtiges Bewertungselement, insbesondere da der Strafrichter diese Fragen nicht spezifisch untersucht hatte.
      • Medizinisches Gutachten von Dr. K.__ vom 31. Mai 2024 (E. 4.8.4): Dieses Gutachten, das vor dem Berufungsurteil erstellt, aber dem Gericht unbekannt war, wurde vom Bundesgericht als neues und erhebliches Beweismittel gewertet. Es liefert neuere und spezifischere Informationen über den Gesundheitszustand des Beschwerdeführers, die Stabilisierung seiner Krankheit durch Behandlung, Nebenwirkungen und die Angemessenheit der aktuellen multimodalen Therapie. Insbesondere konzentriert sich das Gutachten spezifisch auf die sozio-berufliche Integrationsfähigkeit des Beschwerdeführers, was die frühere Expertise von L.__ (2021) nicht in dieser Tiefe tat. Die pauschale Annahme des Obergerichts, die Auswirkungen des Gesundheitszustands auf die soziale Interaktion seien bereits berücksichtigt worden, konnte im Urteil vom 17. Juni 2024 nicht nachvollzogen werden.
        • Das Bundesgericht befand, dass dieses Gutachten geeignet ist, die Beurteilung des Rückfallrisikos in der Schweiz, die Ursachen der mangelnden sozio-beruflichen Integration in der Schweiz und die Integrationsperspektiven in Algerien zu beeinflussen. Letztere sind entscheidend für die Beurteilung der Kommunikationsmöglichkeiten mit seinen Eltern, welche das Obergericht als ausreichend zur Verneinung einer Verletzung von Art. 8 EMRK ansah. Die Annahme des Obergerichts, die Bedeutung dieses Beweismittels beschränke sich auf die Feststellung des Gesundheitszustands, dessen Folgen bereits berücksichtigt worden seien, ist nicht haltbar.
  • 2.4 Schlussfolgerung zur Revision (E. 4.8.4 in fine): Der geltend gemachte Revisionsgrund erweist sich somit als nicht nur zulässig, sondern auch als begründet. Dies führt zur Aufhebung des kantonalen Urteils vom 17. Juni 2024 betreffend die Landesverweisung und zur Rückweisung der Sache an das kantonale Obergericht. Das Obergericht muss nun eine erneute und umfassende Prüfung des Härtefalls vornehmen, sowohl unter dem Gesichtspunkt von Art. 3 als auch von Art. 8 EMRK, unter Berücksichtigung aller relevanten Umstände zum Zeitpunkt des neuen Entscheids. Das Bundesgericht verweist auf die Rechtsprechung des EGMR (z.B. Savran c. Danemark vom 7. Dezember 2021, Nr. 57467/15), die die Situation eines 30-jährigen Erwachsenen ohne Familie, der an psychischen Problemen leidet, betrifft. Gegebenenfalls muss das Obergericht eine erneute medizinische Expertise zu den noch offenen medizinischen Fragen einholen, insbesondere zu den Auswirkungen einer möglichen Änderung der laufenden multimodalen Behandlung und den konkreten Möglichkeiten, eine solche Behandlung in Algerien fortzusetzen, unter Berücksichtigung der Mittel, die dem Beschwerdeführer angesichts seiner (nunmehr unzweifelhaften) sozio-beruflichen Integrationsunfähigkeit dort zur Verfügung stünden.

3. Folgen für die Beschwerde 6B_600/2024 (E. 5)

Da die Beschwerde 6B_18/2025 erfolgreich war und das Ausweisungsurteil vom 17. Juni 2024 aufgehoben wird, ist die ursprüngliche Beschwerde gegen die Ausweisung (6B_600/2024) gegenstandslos geworden. Sie wird daher als erledigt abgeschrieben.

III. Kosten- und Entschädigungsfolgen

  • Für das erfolgreiche Revisionsverfahren (6B_18/2025) werden keine Gerichtskosten erhoben, und dem Rechtsvertreter des Beschwerdeführers wird eine Parteientschädigung von 3000 CHF zulasten des Kantons Bern zugesprochen. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege für dieses Verfahren wird gegenstandslos.
  • Für das gegenstandslos gewordene Ausweisungsverfahren (6B_600/2024) werden ebenfalls keine Gerichtskosten erhoben. Eine Parteientschädigung wird nicht gesprochen. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird bewilligt, und dem Rechtsvertreter eine Entschädigung von 3000 CHF aus der Bundesgerichtskasse zugesprochen.

Zusammenfassende Essenz:

Das Bundesgericht hat das Urteil des Berner Obergerichts vom 20. November 2024, welches das Revisionsgesuch des Beschwerdeführers gegen seine Ausweisung ablehnte, aufgehoben. Die kantonale Instanz hatte das Revisionsgesuch zu Unrecht als unzulässig oder nicht erheblich eingestuft. Das Bundesgericht stellte fest, dass die vom Beschwerdeführer im Revisionsverfahren vorgelegte AI-Expertise und der AI-Entscheid, insbesondere die darin festgestellte langjährige und fortbestehende vollständige Arbeitsunfähigkeit, neue und erhebliche Beweismittel darstellen, die dem Gericht bei der ursprünglichen Ausweisungsentscheidung unbekannt waren. Diese neuen Erkenntnisse können die Beurteilung der Integrationsfähigkeit, des Rückfallrisikos und der Zumutbarkeit einer Rückkehr nach Algerien massgeblich beeinflussen. Die Sache wird zur erneuten, umfassenden Prüfung des Härtefalls und der Verhältnismässigkeit der Ausweisung unter Beachtung von Art. 3 und 8 EMRK an das kantonale Obergericht zurückgewiesen. Das ursprüngliche Ausweisungsverfahren (6B_600/2024) wird dadurch gegenstandslos.