Detaillierte Zusammenfassung des Urteils 6B_1220/2023 des Schweizerischen Bundesgerichts
Das vorliegende Urteil des Bundesgerichts, datiert vom 19. November 2025 (Az. 6B_1220/2023), befasst sich primär mit der Rüge einer Beschwerdeführerin bezüglich ihrer Verurteilung wegen Nötigung (Art. 181 StGB), der Strafzumessung sowie der Kostenverteilung. Es handelt sich um ein Folgeurteil nach einer teilweisen Rückweisung durch das Bundesgericht im Jahr 2022 (Urteil 6B_122/2021).
I. Sachverhalt und Verfahrensgeschichte
Die Beschwerdeführerin A._ wurde aufgrund mehrerer Anzeigen der Geschädigten B._, welche im Zeitraum März 2017 bis Januar 2018 erstattet wurden, strafrechtlich verfolgt. Die Anzeigen umfassten Belästigungen (auch sexueller Art) über soziale Medien (Instagram, Facebook), die Erstellung falscher Profile mit gestohlenen und pornographisch bearbeiteten Fotos der Geschädigten, die Angabe ihrer Telefonnummern sowie die Zusendung von pornographischem Material (Dildo, Vibrator, Fotomontagen) an die Geschädigte selbst und an Dritte in ihrem Umfeld.
- Erstinstanzliche Verurteilung (12. Juli 2019): A.__ wurde wegen Nötigung, mehrfacher übler Nachrede, mehrfacher Pornographie und mehrfacher Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz (BetmG) zu einer bedingt vollziehbaren Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu CHF 60 und einer Busse von CHF 4'000 verurteilt.
- Kantonales Berufungsverfahren (16. Dezember 2020): Die Corte di appello e di revisione penale (CARP) des Kantons Tessin bestätigte die Verurteilungen (ausser BetmG-Verstoss, welcher in Rechtskraft erwachsen war) und die erstinstanzlich ausgesprochenen Strafen.
- Erste Bundesgerichtsinstanz (Urteil 6B_122/2021 vom 5. Dezember 2022): Das Bundesgericht hiess die Beschwerde von A.__ teilweise gut. Es hob das Urteil der CARP auf und wies die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurück. Entscheidend war hierbei, dass das Bundesgericht die Beweiswürdigung und die Feststellung der Tatsachen, insbesondere die Zurechenbarkeit sämtlicher inkriminierter Handlungen an die Beschwerdeführerin, schützte. Es rügte jedoch, dass die kantonale Behörde im Zusammenhang mit dem Nötigungstatbestand nicht hinreichend präzisiert hatte, welche spezifischen Handlungen der Beschwerdeführerin welches konkrete Verhalten der Geschädigten ausgelöst hatten, um den Kausalzusammenhang zu belegen. Die Rückweisung erfolgte daher ausschliesslich zur Ergänzung des Sachverhalts in diesem spezifischen Punkt und zur Neubeurteilung der rechtlichen Subsumtion.
- Erneutes kantonales Verfahren (11. September 2023): Nach der Rückweisung verurteilte die CARP A.__ erneut wegen Nötigung (sowie übler Nachrede, Pornographie, BetmG-Verstoss). Die Tagessatzhöhe wurde jedoch von CHF 60 auf CHF 160 erhöht, während die Anzahl der Tagessätze (90) und die Busse (CHF 4'000) gleich blieben.
- Aktuelle Bundesgerichtsinstanz (vorliegendes Urteil): A.__ legte erneut Beschwerde in Strafsachen ein, forderte im Wesentlichen ihren Freispruch von der Nötigung, subsidiär eine tiefere Strafe sowie eine andere Kostenverteilung.
II. Massgebende Punkte und rechtliche Argumente des Bundesgerichts
1. Zulässigkeit der Beschwerde und Bindungswirkung der Rückweisung
Das Bundesgericht prüfte die Zulässigkeit der Beschwerde eingehend, insbesondere im Lichte der vorhergehenden Rückweisung.
- Bindungswirkung (Art. 107 Abs. 2 BGG): Das Bundesgericht hielt fest, dass eine Rückweisungsentscheidung sowohl die Vorinstanz als auch das Bundesgericht selbst bindet, sofern dieselbe Angelegenheit erneut beurteilt werden muss. Neue Sachverhalte (Nova) sind vorbehalten. Weder die Vorinstanz noch die Parteien dürfen sich auf einen vom Rückweisungsurteil abweichenden Sachverhalt stützen oder Aspekte erneut prüfen, die explizit abgelehnt oder nicht berücksichtigt wurden. Der materielle Gehalt des Rückweisungsurteils ist massgebend, nicht der formelle Aufhebungsdispositiv.
- Beschränkter Umfang der Rückweisung 6B_122/2021: Das Bundesgericht betonte, dass es im vorhergehenden Urteil die Beweiswürdigung und die Feststellung, dass alle inkriminierten Handlungen von einer einzigen Person, nämlich der Beschwerdeführerin, stammten, geschützt hatte. Rügen bezüglich der Täterschaft wurden damals abgewiesen oder nicht hinreichend begründet. Die Rückweisung erfolgte ausschliesslich, um präzise darzulegen, welche spezifischen Handlungen die Nötigung darstellten und welchen konkreten Zwang sie auf die Geschädigte ausübten.
- Unzulässigkeit der Rügen der Beschwerdeführerin: Die Beschwerdeführerin versuchte, in der aktuellen Beschwerde erneut die Zurechenbarkeit der Taten an ihre Person und die Sachverhaltsfeststellungen zu bestreiten. Dies wies das Bundesgericht als unzulässig ab, da diese Tatsachenfeststellungen aufgrund der Bindungswirkung des früheren Urteils nunmehr verbindlich sind.
2. Nötigung (Art. 181 StGB)
Das Bundesgericht bestätigte die Verurteilung wegen Nötigung.
- Rechtliche Grundlagen der Nötigung (Art. 181 StGB): Der Tatbestand der Nötigung erfordert, dass jemand durch Gewalt, Drohung mit ernstlichem Nachteil oder auf andere Weise die Handlungsfreiheit einer Person beschränkt und diese zu einem Tun, Dulden oder Unterlassen zwingt. Die Nötigung ist ein Erfolgsdelikt, d.h., es muss eine tatsächliche Einschränkung der Handlungsfreiheit der Geschädigten erfolgt sein.
- Querverweis auf Art. 181b StGB (Nachstellung/Stalking): Das Bundesgericht verwies auf die zum Zeitpunkt des Urteils noch nicht in Kraft getretene (Referendumsfrist am 9. Oktober 2025 abgelaufen), aber verabschiedete Änderung des StGB (neu Art. 181b StGB), die Nachstellung als eigenständiges Delikt unter Strafe stellt. Art. 181b StGB ist als Gefährdungsdelikt konzipiert (es reicht aus, wenn das Verhalten objektiv geeignet ist, die Lebensgestaltung erheblich einzuschränken), während Art. 181 StGB ein Erfolgsdelikt ist. Dies dient der Klarstellung, dass die aktuelle Beurteilung noch unter dem strengeren Art. 181 StGB erfolgte.
- Konkrete Feststellungen und Begründung der CARP (nach Rückweisung): Die CARP hatte präzisiert, welche Handlungen der Beschwerdeführerin die Nötigung begründeten und wie sie die Geschädigte zwangen:
- Veröffentlichung eines privaten, intimen Fotos (oben ohne) auf einem pornosoften Instagram-Konto und Tagging von Freunden (2016): Dies wurde als erheblicher Druck bewertet, der die Geschädigte zwang, den Täter um Entfernung zu bitten (erhielt vulgäre Antworten) und ihr eigenes Instagram-Profil von öffentlich auf privat umzustellen, um weiteren Schaden zu begrenzen. Die Druckausübung durch Verletzung der Intimsphäre auf einem öffentlich zugänglichen Kanal wurde als vergleichbar mit Gewalt oder Drohung mit ernstlichem Nachteil eingestuft.
- Erschleichung der Handynummer mittels falschem Facebook-Profil (August 2016): Nachdem die Geschädigte die Täuschung erkannte und die Unvorhersehbarkeit der Verwendung ihrer Nummer realisierte, sah sie sich gezwungen, ihre Handynummer zu sperren und zu ändern. Dies wurde als massive Einschränkung der Handlungsfreiheit gewertet.
- Weitere Falschprofile, pornographische Fotomontagen, Veröffentlichung von Telefonnummern (August-Oktober 2016): Diese anhaltenden Belästigungen zwangen die Geschädigte, zur Vermeidung weiterer Vorfälle ihren Profilnamen in sozialen Medien zu ändern.
- Gesamtwürdigung: Die CARP stellte einen kausalen Zusammenhang zwischen diesen Handlungen und den erzwungenen Verhaltensänderungen der Geschädigten fest. Die Absicht der Beschwerdeführerin, die Geschädigte zu "schikanieren, kontinuierlich zu belästigen und ihr Ansehen zu schädigen", wurde als entscheidendes Motiv gewertet.
- Widerlegung der Rügen der Beschwerdeführerin durch das Bundesgericht:
- "Nicht unaufhörliche" Belästigungen: Das Bundesgericht stellte klar, dass Nötigung durch "Nachstellung" zwar wiederholte Handlungen erfordert, aber nicht zwingend "unaufhörlich" sein muss; auch sporadische, aber wiederholte Akte genügen (BGE 141 IV 437; BGer 6B_1238/2023). Das Bundesgericht betonte die Schwere der Taten (Verbreitung intimer/pornographischer Bilder, Telefonnummern) und die Ungewissheit über die Identität und reale Gefährlichkeit des Täters.
- "Banalisierung" des oben-ohne-Fotos: Das Bundesgericht wies das Argument zurück, das Foto sei angesichts des "aktuellen Schamgefühls" harmlos. Die unautorisierte Verbreitung eines intimen Bildes, insbesondere auf einem pornosoften Profil und das Taggen von Freunden, stellt eine massive Druckausübung dar und hat eine klare sexuelle Konnotation. Darauf folgten explizit pornographische Montagen.
- Fehlende nötigungsrelevante Handlungen 2017/2018: Das Bundesgericht stellte klar, dass die Verurteilung wegen Nötigung ausschliesslich die Handlungen aus dem Jahr 2016 betrifft; spätere Handlungen (z.B. Zusendung von Blumen, BH) waren für diesen Tatbestand nicht relevant.
- "Freie Entscheidung" statt Zwang: Das Bundesgericht befand, dass die Änderungen des Social-Media-Profils und der Telefonnummer der Geschädigten keine freien Entscheidungen waren, sondern direkte, durch die Belästigungen erzwungene Massnahmen.
- Fehlende "nötigende Absicht": Das Bundesgericht bekräftigte, dass für Nötigung keine spezielle Absicht (wie z.B. ein "Zwangszweck") erforderlich ist, sondern einfacher Vorsatz, einschliesslich Eventualvorsatz. Die CARP hatte festgestellt, dass die Beschwerdeführerin die Möglichkeit akzeptierte (Dolus eventualis), dass ihr Verhalten die Geschädigte zu Verhaltensänderungen zwingen würde, was für den subjektiven Tatbestand genügt.
- Schlussfolgerung zur Nötigung: Die Verurteilung wegen Nötigung wurde vom Bundesgericht bestätigt.
3. Strafzumessung
Die Beschwerdeführerin rügte eine fehlerhafte Strafzumessung, insbesondere die Höhe der Schuld, die Verletzung des Reformatio-in-peius-Verbots und die Höhe der Busse.
- Grundsätze der Strafzumessung: Das Bundesgericht erinnerte an den weiten Ermessensspielraum der Vorinstanz bei der Strafzumessung und interveniert nur bei Ermessensüberschreitung oder -missbrauch (BGE 149 IV 217). Viele Rügen der Beschwerdeführerin waren unzulässig, da sie bereits rechtskräftige Verurteilungen betrafen.
- Schuldbeurteilung (Art. 47 Abs. 2 StGB):
- Motive ("futterloser Hass"): Das Bundesgericht bestätigte, dass Motive und Ziele des Täters nach Art. 47 Abs. 2 StGB explizit bei der Schuldbemessung berücksichtigt werden dürfen. Die vom CARP angenommene "mittelschwere" Schuld für Nötigung/üble Nachrede und "schwere" Schuld für Pornographie wurde als rechtmässig erachtet. Es gab keine Doppelzählung von Motiven, da die Nötigung Taten von 2016 betraf, während üble Nachrede und Pornographie spätere Zeiträume (2017/2018) umfassten.
- Pornographie als Kontravention: Die Beschwerdeführerin verwechselte die Schwere des Delikts (Kontravention) mit der Schwere der Schuld. Auch bei einer Kontravention kann die Schuld als "schwer" eingestuft werden.
- Prozessuales Verhalten (Leugnung, fehlende Reue): Das Bundesgericht bestätigte, dass die beharrliche Leugnung der Taten trotz verbindlicher Sachverhaltsfeststellungen und das Fehlen von Reue oder Einsicht strafschärfend berücksichtigt werden können (BGer 6B_985/2024). Die Beschwerdeführerin zeigte durch die Bagatellisierung der Auswirkungen ("kaum oder nicht existente Bedeutung") eine fehlende Einsicht.
- Einheitsstrafenbildung (Art. 49 Abs. 1 StGB): Die Rüge der Beschwerdeführerin wurde als apodiktisch und unzureichend begründet abgewiesen.
- Tagessatzhöhe und Reformatio in peius (Art. 34 StGB):
- Erhöhung von CHF 60 auf CHF 160: Das Bundesgericht bestätigte, dass eine Erhöhung der Tagessatzhöhe aufgrund einer verbesserten finanziellen Situation des Täters nicht gegen das Reformatio-in-peius-Verbot verstösst (BGE 144 IV 198). Die Tagessatzhöhe ist keine schuldbezogene Komponente. Die unbestrittene Verbesserung der finanziellen Verhältnisse der Beschwerdeführerin rechtfertigte die Erhöhung.
- Rüge einer "offensichtlichen" Fehlinterpretation des Einkommens: Die Beschwerdeführerin behauptete, die CARP habe Brutto- statt Nettoeinkommen angenommen. Das Bundesgericht verwies auf das damalige Verhandlungsprotokoll, wo das Einkommen als netto vermerkt und von der Beschwerdeführerin sowie ihrem Anwalt unbeanstandet blieb. Eine offensichtliche Fehlannahme wurde verneint.
- Höhe der Busse (Art. 106 Abs. 1 StGB): Die Busse von CHF 4'000 für mehrfache Pornographie und BetmG-Verstoss wurde als im gesetzlichen Rahmen liegend und nicht als ermessensmissbräuchlich "offensichtlich streng" erachtet. Argumente wie "soft" (nicht vom CARP so qualifiziert), kein Gewinnzweck (neutral), keine Vorstrafen (neutral), langer Zeitablauf (bereits nach Art. 48 lit. e StGB berücksichtigt) wurden zurückgewiesen.
- Schlussfolgerung zur Strafzumessung: Die verhängten Strafen wurden bestätigt.
4. Kosten und Entschädigung
Die Beschwerdeführerin rügte, ihr sei keine Entschädigung für die Anwaltskosten zugesprochen worden, und sie sei zur Zahlung der vollen Gerichtskosten verurteilt worden, obwohl das vorherige CARP-Urteil vom Bundesgericht teilweise aufgehoben worden war.
- Das Bundesgericht wies diese Rügen als unzureichend begründet zurück. Die Beschwerdeführerin sei im Berufungsverfahren (abgesehen von einem Detail) unterlegen gewesen und gelte daher als unterliegende Partei im Sinne von Art. 428 Abs. 1 und Art. 429 Abs. 1 StPO. Die frühere Rückweisung durch das Bundesgericht ändere nichts an den gesetzlichen Bestimmungen über Kosten und Entschädigungen.
III. Schlussfolgerung
Das Bundesgericht wies die Beschwerde in Strafsachen, soweit sie zulässig war, vollumfänglich ab. Die Gerichtskosten von CHF 3'000 wurden der Beschwerdeführerin auferlegt.
Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:
Das Bundesgericht bestätigte die Verurteilung der Beschwerdeführerin wegen Nötigung, übler Nachrede, Pornographie und Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz. Entscheidend war die Bindungswirkung eines früheren Bundesgerichtsurteils (6B_122/2021), das die Tatsachenfeststellungen und die Zurechenbarkeit der Taten an die Beschwerdeführerin bereits geschützt hatte. Die Nötigung wurde detailliert begründet durch die Veröffentlichung intimer/pornographischer Bilder und Telefonnummern der Geschädigten, welche diese nachweislich zu Verhaltensänderungen (Profilprivatisierung, Telefonnummernwechsel) zwangen. Die Strafzumessung, einschliesslich der Erhöhung der Tagessatzhöhe aufgrund verbesserter finanzieller Verhältnisse, wurde als rechtmässig befunden. Rügen gegen die Schuldbemessung (Motive, prozessuales Verhalten) und die Höhe der Busse wurden abgewiesen. Die Beschwerde wurde, soweit zulässig, vollumfänglich abgewiesen.