Zusammenfassung von BGer-Urteil 6B_637/2025 vom 10. November 2025

Es handelt sich um ein experimentelles Feature. Es besteht keine Gewähr für die Richtigkeit der Zusammenfassung.

Nachfolgend wird das Urteil des schweizerischen Bundesgerichts 6B_637/2025 vom 10. November 2025 detailliert zusammengefasst:

A. Parteien und Instanzenzug

  • Beschwerdeführerin: A.__, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Marcel Buttliger.
  • Beschwerdegegnerin: Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau.
  • Erste Instanz (Bezirksgericht Kulm, 28. Februar 2023): Verurteilung wegen einfacher Körperverletzung, Drohung, Nötigung, Hausfriedensbruchs, Sachentziehung, geringfügigen Diebstahls und mehrfacher Übertretung des Betäubungsmittelgesetzes zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 18 Monaten (Probezeit 3 Jahre) sowie einer Busse von Fr. 800.--. Anordnung einer ambulanten Massnahme. Absehen von Landesverweisung. Teilweise Gutheissung der Zivilklage.
  • Zweite Instanz (Obergericht des Kantons Aargau, Strafgericht, 1. Kammer, 14. Mai 2025): Auf Berufung der Staatsanwaltschaft: Freispruch vom Vorwurf der Nötigung. Schuldsprüche wegen einfacher Körperverletzung und geringfügigen Diebstahls bestätigt, die übrigen erstinstanzlichen Schuldsprüche festgestellt. Verurteilung zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 2 ½ Jahren, einer Geldstrafe von 180 Tagessätzen zu je Fr. 10.-- und einer Busse von Fr. 800.--. Bestätigung der ambulanten Massnahme und der Zivilforderungen. Absehen von Landesverweisung.
  • Bundesgericht (vorliegendes Urteil, 10. November 2025): Beschwerde der A.__ gegen die Strafzumessung.

B. Rügen der Beschwerdeführerin

Die Beschwerdeführerin rügte die vorinstanzliche Strafzumessung in mehrfacher Hinsicht:

  1. Verletzung des rechtlichen Gehörs und der Begründungspflicht (Art. 29 Abs. 2 BV, Art. 107 StPO): Sie machte geltend, es sei ihr zu keinem Zeitpunkt die Möglichkeit eingeräumt worden, zum Übergang von einer bedingten (erstinstanzlich) zu einer unbedingten Freiheitsstrafe (vorinstanzlich) Stellung zu nehmen. Insbesondere hätte die Vorinstanz die Parteien anhören müssen, ob die ambulante Massnahme vollzugsbegleitend erfolgen oder aufgeschoben werden solle, zumal die Vorinstanz von einer günstigen Prognose ausgegangen sei. Zudem lasse die Urteilsbegründung offen, wie die angeordnete Massnahme zur Freiheitsstrafe stehe.
  2. Unrichtige Sachverhaltsfeststellung und unvollständige Beweiswürdigung (Art. 97 Abs. 1 BGG): Die Vorinstanz habe wesentliche positive Veränderungen seit der Tat (seit zwei Jahren drogenfrei, Traumatherapie, Einsicht, Reue, freiwillige Therapie) unberücksichtigt gelassen und allein deshalb an einer ungünstigen Prognose festgehalten, weil die Beschwerdeführerin das erstinstanzliche Urteil nicht angefochten habe. Dies stelle eine willkürliche Sachverhaltsfeststellung dar.
  3. Verletzung von Art. 42 Abs. 1 und Art. 47 StGB (Strafzumessung und bedingter Vollzug):
    • Verschulden: Die Vorinstanz habe das Verschulden bei der einfachen Körperverletzung überschätzt. Das Opfer habe keine gravierenden oder langfristigen Verletzungen erlitten und auch keine psychischen Beeinträchtigungen erwähnt; eine Beeinträchtigung des Sicherheitsgefühls sei ihr zu Unrecht angelastet worden. Es liege nur eine geringfügige Verletzung und somit ein leichtes Tatverschulden vor. Auch der geringfügige Diebstahl rechtfertige kein schweres Verschulden.
    • Täterkomponenten: Sie habe die Tat von Beginn an vollumfänglich eingeräumt, kooperiert, Reue und Einsicht gezeigt. Sie sei nicht vorbestraft und ihre Lebenssituation habe sich stabilisiert (drogenfrei, Aufbau einer Beziehung zum Kind). Ihr innerer Tatantrieb sei nicht krimineller Energie, sondern dem Wunsch entsprungen, auf eine als existenziell empfundene Ungerechtigkeit zu reagieren, was strafmindernd zu berücksichtigen sei. Die Vorinstanz habe diesen Faktoren zu wenig Gewicht beigemessen.
    • Prognose und Verhältnismässigkeit: Angesichts der günstigen Prognose (keine Vorstrafen, Reue) sei eine unbedingte Strafe unverhältnismässig und widerspreche den Grundsätzen von Prävention und Resozialisierung. Es sei eine bedingte Strafe auszusprechen oder zumindest die unbedingte Strafe zugunsten der ambulanten Massnahme aufzuschieben.

C. Erwägungen der Vorinstanz (massgeblich für die bundesgerichtliche Prüfung)

Die Vorinstanz begründete die Verurteilung zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 2 ½ Jahren wie folgt:

  1. Verschulden für die einfache Körperverletzung:
    • Taterfolg (Art. 47 Abs. 1 StGB): Trotz fehlender langfristiger physischer oder psychischer Schäden beim Opfer (87-jährig), seien die erlittenen Verletzungen in ihrer Gesamtheit als erheblich und keinesfalls zu bagatellisieren eingestuft worden. Ein körperlicher Übergriff im eigenen Zuhause führe zudem zu einer gravierenden Beeinträchtigung des Sicherheitsgefühls. Es liege ein mittelschwerer Taterfolg vor.
    • Tatbegehung: Die Tat sei nicht spontan, sondern planmässig erfolgt (Kauf von Klebeband und Kabelbindern). Die Täter hätten auf das bereits wehrlose Opfer eingeschlagen und dieses im Haus festgehalten und gefesselt, was ein erschreckendes Mass an Kaltherzigkeit und Skrupellosigkeit offenbare, das über die blosse Erfüllung des Tatbestands hinausgehe.
    • Täterbeitrag: Der Beitrag der Beschwerdeführerin sei nicht unwesentlich gewesen; sie habe dem Mittäter aktiv geholfen und sich dessen planmässiges Handeln anrechnen zu lassen.
    • Beweggründe: Handeln aus niederen Beweggründen (Selbstjustiz, Rachegedanken, da das Opfer ihrer Ansicht nach für Missbrauchstaten zu milde bestraft worden sei).
  2. Verminderte Schuldfähigkeit (Art. 19 Abs. 2 StGB): Gemäss psychiatrischem Gutachten sei die Schuldfähigkeit der Beschwerdeführerin im Tatzeitpunkt aufgrund psychischer und Verhaltensstörungen sowie Substanzeinflusses in leichtem Grad vermindert gewesen. Die Vorinstanz ging jedoch von einem nicht unerheblichen Mass an Entscheidungsfreiheit aus, da die Beschwerdeführerin mehrfach die Möglichkeit gehabt hätte, die Tat abzubrechen.
    • Strafzumessung unter Berücksichtigung: Ohne verminderte Schuldfähigkeit wäre von einem "sehr schweren Verschulden" und einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren und 10 Monaten auszugehen gewesen. Die leichtgradige Verminderung reduzierte dies auf ein "schweres Verschulden" und eine Einsatzstrafe von 2 Jahren und 8 Monaten.
  3. Täterkomponenten (Art. 47 Abs. 1 StGB):
    • Vorstrafen: Keine Vorstrafen (neutral).
    • Reue/Einsicht: Glaubhafte Reue, die über blosse Tatfolgenreue hinausgehe (strafmindernd).
    • Verfahrensverhalten: Anerkennung des erstinstanzlichen Schuldspruchs wegen einfacher Körperverletzung durch Nichtanfechtung (leichte Strafminderung).
    • Persönliche Verhältnisse: Keine für die Strafzumessung relevanten Faktoren; der Umstand, Mutter eines minderjährigen Kindes zu sein, führe nicht zu besonderer Strafempfindlichkeit (neutral).
    • Resultat Täterkomponenten: Insgesamt 2 Monate Strafminderung.
  4. Gesamtstrafe: Aus den genannten Erwägungen resultierte eine Freiheitsstrafe von 2 ½ Jahren.
  5. Unbedingter Strafvollzug: Die Strafe sei unbedingt auszusprechen, da die von der Vorinstanz angeordnete ambulante Massnahme – unangefochten im Berufungsverfahren – zugleich eine ungünstige Prognose bedeute und demnach den bedingten oder teilbedingten Aufschub einer Strafe ausschliesse.

D. Rechtliche Grundlagen (durch das Bundesgericht dargelegt)

Das Bundesgericht legte die massgeblichen Grundsätze dar:

  1. Strafzumessung (Art. 47 StGB): Das Gericht misst die Strafe nach dem objektiven und subjektiven Verschulden des Täters zu und berücksichtigt Täterkomponenten (Vorleben, persönliche Verhältnisse, Wirkung der Strafe, Verhalten nach der Tat und im Strafverfahren). Es verfügt über ein weites Ermessen; das Bundesgericht greift nur bei Rechtsverletzung, nicht massgebenden Kriterien oder Ermessensmissbrauch ein (BGE 149 IV 217 E. 1.1).
  2. Begründungspflicht (Art. 50 StGB, Art. 29 Abs. 2 BV): Der Entscheid muss nachvollziehbar begründet werden, sodass der Betroffene die Tragweite erkennen und ihn an die höhere Instanz weiterziehen kann. Es müssen die wesentlichen Überlegungen genannt werden, nicht jede Parteiargumentation detailliert widerlegt werden (BGE 147 IV 409 E. 5.3.4).
  3. Verminderte Schuldfähigkeit (Art. 19 Abs. 2 StGB): Eine festgestellte Verminderung der Schuldfähigkeit ist ein obligatorischer Strafmilderungsgrund. Es gibt keine fixen prozentualen Reduktionen, aber es muss ein bestimmtes Verhältnis zwischen Verminderung und Strafreduktion bestehen. Die Reduktion erfolgt in einem dreistufigen Prozess (Qualifikation der Einschränkung, Bestimmung der hypothetischen Strafe, Anpassung aufgrund Täterkomponenten) (BGE 136 IV 55 E. 5.7).
  4. Bedingter/Teilbedingter Strafvollzug (Art. 42 Abs. 1, Art. 43 StGB):
    • Voraussetzung ist eine günstige Legalprognose (keine Befürchtung weiterer Straftaten). Nur bei ungünstiger oder höchst ungewisser Prognose ist ein Aufschub zu verweigern (BGE 135 IV 180 E. 2.1).
    • Massgeblich für den Entscheid der Vorinstanz: Die Anordnung einer Massnahme bedeutet zugleich eine ungünstige Prognose und schliesst demnach den bedingten oder teilbedingten Aufschub einer Strafe aus (BGE 135 IV 180 E. 2.3; Urteil 6B_986/2021 vom 19. Mai 2022 E. 1.3).
  5. Aufschub des Strafvollzugs zugunsten einer ambulanten Massnahme (Art. 63 Abs. 2 StGB):
    • Dies ist eine Ausnahme vom Grundsatz des gleichzeitigen Vollzugs von Strafe und Massnahme (BGE 129 IV 161 E. 4.1).
    • Voraussetzungen: Der Täter muss ungefährlich sein, und die ambulante Therapie muss vordringlich sein.
    • Ein Aufschub ist gerechtfertigt, wenn der sofortige Strafvollzug die Erfolgsaussichten der Behandlung erheblich beeinträchtigen würde.
    • Dabei sind die Auswirkungen des Strafvollzugs, die Erfolgsaussichten der Therapie und bisherige Therapiebemühungen zu berücksichtigen, aber auch das kriminalpolitische Erfordernis der schuldangemessenen Ahndung.
    • Eine sachverständige Einschätzung (Art. 56 Abs. 3 lit. c StGB) zur Zweckmässigkeit eines Aufschubs ist erforderlich (BGE 129 IV 161 E. 4.1).

E. Beurteilung durch das Bundesgericht

  1. Abweisung der Rügen zur Prognose und zum bedingten/teilbedingten Vollzug:

    • Das Bundesgericht wies die Rüge der unrichtigen Sachverhaltsfeststellung und Verletzung von Art. 42 Abs. 1 StGB ab. Es hielt fest, dass die Vorinstanz gerade nicht von einer günstigen Prognose ausgegangen sei. Sie habe vielmehr korrekt die bundesgerichtliche Rechtsprechung (BGE 135 IV 180 E. 2.3) angewandt, wonach die Anordnung einer Massnahme die Gewährung des bedingten oder teilbedingten Strafvollzuges (welcher aufgrund der Strafhöhe allein in Frage kam) ausschliesst.
    • Die Rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs wurde ebenfalls abgewiesen. Angesichts der Berufung der Staatsanwaltschaft, welche eine deutlich höhere Freiheitsstrafe beantragt hatte, sei für die Beschwerdeführerin klar gewesen, dass eine unbedingte Strafe im Raum stehe. Sie hatte in den schriftlichen Verfahrensschritten die Möglichkeit zur Stellungnahme.
  2. Abweisung der Rügen zur Strafzumessung (Art. 47 StGB):

    • Die Rügen der Beschwerdeführerin bezüglich des Verschuldens bei der einfachen Körperverletzung wurden als weitestgehend appellatorisch abgewiesen. Das Bundesgericht bestätigte die vorinstanzliche Würdigung des sehr schweren Tatverschuldens, das aufgrund der leicht verminderten Schuldfähigkeit zu einem schweren Verschulden reduziert wurde. Die Vorinstanz habe den mittelschweren Taterfolg, die geplante und kaltherzige Tatbegehung, die niederen Beweggründe und den nicht unbedeutenden Tatbeitrag korrekt gewürdigt.
    • Die Berücksichtigung der Einsicht und Reue der Beschwerdeführerin als strafmindernd und die neutrale Bewertung der persönlichen Verhältnisse der Vorinstanz wurden als bundesrechtskonform befunden.
    • Die festgesetzte Freiheitsstrafe von 2 ½ Jahren lag im weiten Ermessen der Vorinstanz.
    • Rügen bezüglich der Geldstrafe für die Vergehenstatbestände wurden mangels Konkretisierung ebenfalls abgewiesen.
  3. Teilweise Gutheissung und Rückweisung betreffend Art. 63 Abs. 2 StGB:

    • Obwohl die Rügen der Beschwerdeführerin zur Strafzumessung und zur Prognose abgewiesen wurden, stellte das Bundesgericht von Amtes wegen fest, dass das vorinstanzliche Urteil in einem entscheidenden Punkt unvollständig ist.
    • Die Vorinstanz hatte es unterlassen, sich zur Frage eines allfälligen Aufschubs der unbedingt ausgesprochenen Freiheitsstrafe zugunsten der ambulanten Behandlung im Sinne von Art. 63 Abs. 2 StGB zu äussern. Es fehlten sowohl tatsächliche Feststellungen als auch rechtliche Erwägungen, um prüfen zu können, ob die Voraussetzungen für einen solchen Aufschub gegeben sind.
    • Insbesondere sei der Urteilsbegründung nicht zu entnehmen, wie sich der Sachverständige D.__ in seinem Gutachten zur Frage einer vollzugsbegleitenden Durchführung oder eines Aufschubs geäussert hatte. Eine sachverständige Einschätzung zur Zweckmässigkeit eines Aufschubs ist aber gemäss Art. 56 Abs. 3 lit. c StGB und der bundesgerichtlichen Rechtsprechung (BGE 129 IV 161 E. 4.1) erforderlich, wenn zu beurteilen ist, ob der sofortige Vollzug der Strafe den Therapieerfolg erheblich gefährden würde.
    • Das Bundesgericht kann diesen Sachverhalt nicht ergänzen. Daher wurde das Urteil in diesem Punkt als unvollständig im Sinne von Art. 112 Abs. 1 lit. b BGG erachtet und in Anwendung von Art. 112 Abs. 3 BGG aufgehoben. Die Sache wurde an die Vorinstanz zurückgewiesen, damit diese die erforderlichen Feststellungen und Anordnungen zum Aufschub der Freiheitsstrafe zugunsten der ambulanten Massnahme trifft.

F. Kostenfolgen

  • Soweit die Beschwerde abgewiesen wurde, trägt die Beschwerdeführerin reduzierte Gerichtskosten von Fr. 800.--. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wurde in diesem Umfang abgewiesen.
  • Soweit das Urteil aufgehoben und zurückgewiesen wurde, hat der Kanton Aargau den Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin, Rechtsanwalt Marcel Buttliger, mit Fr. 1'000.-- zu entschädigen.

Kurzzusammenfassung der wesentlichen Punkte:

Das Bundesgericht hat die Beschwerde der A.__ gegen die Strafzumessung im Wesentlichen abgewiesen. Es bestätigte die vorinstanzliche Bemessung des sehr schweren Tatverschuldens für die einfache Körperverletzung, die Reduktion aufgrund leicht verminderter Schuldfähigkeit und die Berücksichtigung von Täterkomponenten, was zur unbedingten Freiheitsstrafe von 2 ½ Jahren führte. Insbesondere wies das Bundesgericht die Argumentation der Beschwerdeführerin zurück, dass eine Massnahmeanordnung nicht zu einer ungünstigen Prognose führen dürfe, da gemäss konstanter Rechtsprechung die Anordnung einer Massnahme den bedingten oder teilbedingten Strafvollzug ausschliesst (BGE 135 IV 180 E. 2.3).

Allerdings hob das Bundesgericht das Urteil von Amtes wegen teilweise auf und wies die Sache an die Vorinstanz zurück, weil diese es versäumt hatte, sich zur Frage des Aufschubs der Freiheitsstrafe zugunsten der ambulanten Massnahme im Sinne von Art. 63 Abs. 2 StGB zu äussern. Für eine solche Entscheidung sind spezifische Feststellungen und eine sachverständige Einschätzung erforderlich, ob der sofortige Strafvollzug den Therapieerfolg erheblich beeinträchtigen würde, was im vorinstanzlichen Urteil fehlte.