Zusammenfassung von BGer-Urteil 7B_1387/2024 vom 7. November 2025

Es handelt sich um ein experimentelles Feature. Es besteht keine Gewähr für die Richtigkeit der Zusammenfassung.

Detaillierte Zusammenfassung des Urteils des Bundesgerichts 7B_1387/2024 vom 7. November 2025

1. Einleitung und Sachverhalt

Das vorliegende Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts (II. Strafrechtliche Abteilung) vom 7. November 2025 betrifft eine Beschwerde in Strafsachen von A.__ (nachfolgend: Beschwerdeführer) gegen das Urteil des Appellationsgerichts des Kantons Waadt vom 4. Juni 2024. Der Beschwerdeführer wurde wegen grober Verletzung der Verkehrsregeln im Sinne von Art. 90 Abs. 2 des Strassenverkehrsgesetzes (SVG) zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen zu 30 Franken verurteilt. Sein Rekurs richtet sich auf Freispruch.

Der Sachverhalt, wie er vom Appellationsgericht festgestellt wurde und teilweise vor Bundesgericht umstritten war, ist wie folgt: Der 1998 geborene Beschwerdeführer, bereits vorbestraft wegen einer ähnlichen Verkehrsregelverletzung (60 Tagessätze à 30 CHF, bedingt), fuhr am 29. Januar 2023 gegen 15:30 Uhr auf der Autobahn A5 (Lausanne - Neuchâtel) auf der linken Spur. Zunächst folgte er einem Fahrzeug der Kantonspolizei Waadt auf einer Strecke von 500 Metern bei 120 km/h "dicht" auf. Nachdem die Polizisten ihn mittels optischer Zeichen zum Folgen aufgefordert hatten, fuhr der Beschwerdeführer weitere 1'500 Meter mit einer Geschwindigkeit von 110 km/h und einem Abstand von ca. 15 Metern hinter dem Polizeifahrzeug her. Auf einem Parkplatz forderten die Polizisten den Beschwerdeführer auf, sein Fahrzeug in dem Abstand hinter dem Polizeifahrzeug zu positionieren, den er auf der Autobahn eingehalten hatte. Anschliessend befragten die Polizisten den Beschwerdeführer und seine Begleiterin.

2. Materieller Überprüfungspunkt: Verwertbarkeit von Beweismitteln (Art. 158 StPO)

Der Beschwerdeführer rügte, das Appellationsgericht habe sein Urteil auf unverwertbare Beweismittel gestützt. Insbesondere seien das Polizeirapport vom 7. Februar 2023 und die darin enthaltenen Aussagen des Beschwerdeführers und seiner Begleiterin, die vor der Information über seine Rechte als Beschuldigter und die damit verbundenen Informationspflichten (Art. 158 Abs. 1 StPO) erhoben wurden, nicht verwertbar.

2.1. Rechtliche Grundlagen und bundesgerichtliche Rechtsprechung

Das Bundesgericht zitierte die massgeblichen Bestimmungen von Art. 158 StPO und präzisierte die diesbezügliche Rechtsprechung:

  • Informationspflicht (Art. 158 Abs. 1 StPO): Zu Beginn der ersten Einvernahme muss die Polizei oder Staatsanwaltschaft den Beschuldigten in einer ihm verständlichen Sprache darüber informieren, dass ein Vorverfahren gegen ihn eröffnet ist (und wegen welcher Straftaten), dass er die Aussage und Mitwirkung verweigern darf, dass er das Recht auf einen Verteidiger hat (oder einen amtlichen Verteidiger beantragen kann) und dass er die Unterstützung eines Übersetzers oder Dolmetschers verlangen kann.
  • Formelle vs. materielle Einvernahme: Das Bundesgericht betonte, dass die Garantien von Art. 158 und 159 StPO nicht durch informelle Befragungen umgangen werden dürfen (vgl. BGE 151 IV 73 E. 2.4.5). Eine rein formale Auffassung des Begriffs der "Einvernahme" im Sinne von Art. 158 Abs. 1 StPO ist zu eng. Entscheidend ist, ob eine Aussage von einer Strafverfolgungsbehörde provoziert wurde. Ist dies der Fall, darf eine Einvernahmesituation nur verneint werden, wenn die Fragen lediglich dazu dienen, das Vorliegen eines Tatverdachts zu klären. Bei spontanen, nicht provozierten Äusserungen liegt keine informationspflichtbegründende Einvernahmesituation vor, es sei denn, diese spontanen Äusserungen erfolgen im Rahmen einer vorläufigen Festnahme. Ort und Kontext der Äusserungen sind unerheblich (BGE 151 IV 73 E. 2.4.5).
  • Unverwertbarkeit bei Verletzung der Informationspflicht (Art. 158 Abs. 2 StPO): Einvernahmen, die ohne die in Art. 158 Abs. 1 StPO vorgesehenen Informationen durchgeführt wurden, sind unverwertbar. Diese Unverwertbarkeit ist definitiv, da die Bestimmung andernfalls weitgehend leerliefe (vgl. Urteile 6B_202/2024 vom 17. Februar 2025 E. 1.3.3; 6B_359/2021 vom 20. Mai 2021 E. 1.5.2).
  • Mittelbare Verwertbarkeit: Der Inhalt einer unverwertbaren Einvernahme kann auch nicht mittelbar verwertet werden, d.h. nicht durch die Erwähnung in einem Polizeirapport über Äusserungen, die der Beschuldigte gegenüber den Strafverfolgungsbehörden gemacht haben soll.

2.2. Anwendung im vorliegenden Fall

Die Polizisten haben den Beschwerdeführer angehalten, da sie ihn verdächtigten, eine Verkehrsregelverletzung begangen zu haben. Ihre Aufforderung, sich einer "reconstitution sommaire" (vereinfachten Rekonstruktion) mittels seines Fahrzeugs zu unterziehen, stellte eine gezielte Beweiserhebung dar, bevor der Beschwerdeführer über seine Rechte belehrt wurde. Dieses Vorgehen versucht genau das Verhalten zu verhindern, welches Art. 158 StPO vermeiden will. Folglich sind die durch diese vereinfachte Rekonstruktion gewonnenen Beweise sowie die darauf bezogenen Aussagen des Beschwerdeführers und seiner Begleiterin im Polizeirapport vom 7. Februar 2023 und in späteren Protokollen unverwertbar.

Das Argument des Appellationsgerichts, die Rüge der Unverwertbarkeit sei verspätet vorgebracht worden, wurde vom Bundesgericht verworfen. Die Unverwertbarkeit wegen Verletzung der Informationspflicht nach Art. 158 StPO ist definitiv und kann nicht geheilt werden. Das Polizeigericht hätte diesen Mangel von Amtes wegen feststellen müssen.

Hingegen wurden die Aussagen des Beschwerdeführers und seiner Begleiterin, die nachdem sie ordnungsgemäss über ihre Rechte belehrt worden waren (um 15:54 Uhr bzw. 16:30 Uhr), als verwertbar erachtet.

Das Bundesgericht kam zum Schluss, dass die Rüge des Beschwerdeführers bezüglich der Verletzung von Art. 158 Abs. 2 StPO teilweise begründet ist. Dies führt jedoch nicht automatisch zur Gutheissung der Beschwerde, da es möglich ist, dass die Sachverhaltsfeststellung des Appellationsgerichts auch unabhängig von den unverwertbaren Beweismitteln nicht willkürlich ist.

3. Materieller Überprüfungspunkt: Willkürliche Sachverhaltsfeststellung (Art. 9 BV, Art. 97 Abs. 1, 105 Abs. 2 BGG)

Der Beschwerdeführer rügte zudem, das Appellationsgericht habe den Sachverhalt offensichtlich unrichtig, d.h. willkürlich, festgestellt. Insbesondere seien die Aussagen der Polizisten, die sich auf die visuelle Einschätzung der Fahrbahnmarkierungen im Rückspiegel stützten, nicht ausreichend beweiskräftig.

3.1. Massstab für Willkür

Das Bundesgericht ist keine Appellationsinstanz, bei der die Fakten frei neu diskutiert werden könnten. Es ist an die Sachverhaltsfeststellungen der Vorinstanz gebunden (Art. 105 Abs. 1 BGG), es sei denn, diese wurden unter Verletzung des Rechts oder in offensichtlich unrichtiger Weise (willkürlich im Sinne von Art. 9 BV) festgestellt (Art. 97 Abs. 1 und 105 Abs. 2 BGG), und die Behebung des Mangels ist geeignet, den Ausgang des Verfahrens zu beeinflussen. Eine Entscheidung ist nur dann willkürlich, wenn sie schlechterdings unhaltbar ist, und dies nicht nur in ihrer Begründung, sondern auch in ihrem Ergebnis. Bei der Beweiswürdigung liegt Willkür nur vor, wenn die Behörde ein entscheidwesentliches Beweismittel ohne ernsthaften Grund nicht berücksichtigt, sich in dessen Sinn und Tragweite offensichtlich vergreift oder aufgrund der erhobenen Beweise unhaltbare Schlussfolgerungen zieht.

3.2. Anwendung im vorliegenden Fall

Das Appellationsgericht hatte festgestellt, dass der Polizeirapport vom 7. Februar 2023, der den Abstand zwischen den Fahrzeugen auf etwa 15 Meter schätzte, klar, vollständig und frei von Zweifeln oder Widersprüchen sei. Dieser Abstand sei zudem durch die Zeugin C.__, ein Mitglied der betreffenden Polizeipatrouille, während ihrer Einvernahme vor dem Polizeigericht bestätigt worden. Demgegenüber hätten die Aussagen des Beschwerdeführers zum Abstand zwischen den beiden Fahrzeugen im Laufe des Verfahrens geschwankt.

Das Bundesgericht bestätigte die Glaubwürdigkeit der Polizistin. Die Sergente C.__ habe sich bei ihrer Schätzung auf die (normativ vereinheitlichten) Fahrbahnmarkierungen (SN 640 850a der VSS: 6 Meter lange weisse Linien im Abstand von 12 Metern) gestützt, die in ihren Aussagen erwähnt wurden und diese bestätigten. Ihr Bericht erschien somit zuverlässiger als die Angaben des Beschwerdeführers, dessen anfängliche Aussagen (ca. 20 Meter bei 110-115 km/h) sich lediglich um etwa 5 Meter von der Schätzung der Polizei unterschieden.

Die Argumentation des Beschwerdeführers, eine Geschwindigkeit von über 100 km/h führe zu einem "Tunneleffekt", der die effektive Nutzung visueller Referenzpunkte wie Fahrbahnmarkierungen verhindere, wurde vom Bundesgericht nicht berücksichtigt, da sie im Beschwerdememorandum nicht ausreichend substantiiert und mit präzisen Verweisen auf die Akten belegt wurde.

Das Bundesgericht befand daher, dass das Appellationsgericht nicht in Willkür verfiel, indem es sich auf den Polizeirapport und die Einvernahme der Sergente C.__ stützte, um festzustellen, dass der Beschwerdeführer das Polizeifahrzeug über 1'500 Meter bei 110 km/h mit einem Abstand von ca. 15 Metern verfolgt hatte. Die Rüge des Beschwerdeführers wurde abgewiesen.

4. Weitere Rügen

Die Rüge des Beschwerdeführers bezüglich der Verletzung der Unschuldsvermutung wurde aufgrund mangelnder Begründung (Verweis auf Appellationsschrift statt vollständiger Darlegung im Bundesgerichts-Memorandum) nicht berücksichtigt.

5. Anwendung von Art. 90 Abs. 2 SVG

Obwohl der Beschwerdeführer keine ausdrückliche rechtliche Rüge zur Anwendung von Art. 90 Abs. 2 SVG erhob, prüfte das Bundesgericht dies von Amtes wegen. Bei einer Geschwindigkeit von 110 km/h (entsprechend 30.55 m/s) beträgt der Mindestabstand für eine effektive Bremsung (unter Berücksichtigung einer Reaktionszeit von 0.6 Sekunden) gemäss ständiger Rechtsprechung 18.33 Meter (vgl. Urteile 7B_114/2023 vom 19. Mai 2025 E. 4.2; 7B_687/2023 vom 11. April 2025 E. 3.2.2; BGE 131 IV 133 E. 3.2.2). Da der Beschwerdeführer einen Abstand von etwa 15 Metern einhielt, unterschritt er diesen Wert und beging somit eine grobe Verletzung der Verkehrsregeln.

Die Behauptung des Beschwerdeführers, das Polizeifahrzeug habe die strittige Situation selbst provoziert, wurde zurückgewiesen. Er folgte dem Fahrzeug über 1'500 Meter und hatte somit ausreichend Zeit, einen ausreichenden Abstand wiederherzustellen. Er machte zudem nicht geltend, daran gehindert worden zu sein.

6. Fazit und Ergebnis

Das Bundesgericht wies die Beschwerde ab. Die Gerichtskosten wurden dem Beschwerdeführer auferlegt.

Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:

Das Bundesgericht bestätigte, dass Beweismittel, die aus einer "vereinfachten Rekonstruktion" vor der ordnungsgemässen Belehrung des Beschuldigten über seine Rechte gewonnen wurden, gemäss Art. 158 Abs. 2 StPO unverwertbar sind, und dass eine solche Unverwertbarkeit definitiv ist und nicht geheilt werden kann. Trotz dieser teilweisen Unverwertbarkeit von Beweismitteln stellte das Gericht fest, dass die Vorinstanz den Sachverhalt – insbesondere den Abstand von ca. 15 Metern bei 110 km/h – gestützt auf die verwertbaren Aussagen der Polizeibeamten nicht willkürlich festgestellt hatte. Da der festgestellte Abstand von 15 Metern deutlich unter dem gemäss Rechtsprechung bei dieser Geschwindigkeit erforderlichen Sicherheitsabstand von 18.33 Metern liegt, wurde die Verurteilung wegen grober Verletzung der Verkehrsregeln gemäss Art. 90 Abs. 2 SVG als rechtmässig erachtet. Die Beschwerde wurde abgewiesen.