Detaillierte Zusammenfassung des Urteils 9C_301/2025 des Schweizerischen Bundesgerichts vom 5. November 2025
Parteien:
* Beschwerdeführerin: A.__ Genève (eine in Genf ansässige Aktiengesellschaft)
* Beschwerdegegnerin: Administration fiscale cantonale de la République et canton de Genève (Kantonale Steuerverwaltung Genf)
* Beteiligte: Administration fédérale des contributions (Eidgenössische Steuerverwaltung)
Gegenstand: Nachsteuerverfahren betreffend direkte Bundessteuer sowie kantonale und kommunale Steuern für die Steuerperiode 2010.
Sachverhalt und Vorinstanzen
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Hintergrund der Gesellschaften: A._ Genève und A._ Luxembourg sind Teil eines internationalen Konzerns. A._ Genève vertreibt die Software B._ in der Schweiz. Die exklusiven Rechte zur Kommerzialisierung und Nutzung der Software in der Schweiz hält A._ Luxembourg, welche A._ Genève hierfür eine Lizenz erteilt hat. Als Gegenleistung entrichtet A._ Genève Lizenzgebühren ("redevances") in Höhe von 60% des Verkaufspreises der Software und der Wartungsgebühren an A._ Luxembourg. Es bestehen personelle Verflechtungen auf Direktions- und Verwaltungsratsebene zwischen den beiden Gesellschaften.
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Frühere Kontrollen und Veranlagungen:
- Bereits im Jahr 2000 prüfte die Kantonale Steuerverwaltung Genf die Steuererklärungen von A._ Genève für die Jahre 1995-1998, wobei auch die Lizenzvereinbarung mit A._ Luxembourg und die gezahlten Gebühren berücksichtigt wurden. Diese Kontrolle wurde ohne Beanstandung ("sans reprise") abgeschlossen.
- Eine weitere Kontrolle der Eidgenössischen Steuerverwaltung im Jahr 2001 bezüglich Verrechnungssteuer wurde ebenfalls ohne Beanstandung abgeschlossen.
- Für die Steuerperiode 2010 erklärte A.__ Genève einen Nettogewinn. Die Veranlagung erfolgte 2011 und wurde 2012 nach einer teilweisen Gutheissung einer Einsprache definitiv.
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Auslöser des Nachsteuerverfahrens:
- Im April 2013 führte die Kantonale Steuerverwaltung Genf eine Kontrolle bei A.__ Genève für die Steuerperiode 2011 durch. Ziel dieser Kontrolle war explizit die Überprüfung der Verrechnungspreise ("prix de transfert") zwischen den Konzerngesellschaften.
- Am 10. März 2014 eröffnete die Kantonale Steuerverwaltung ein Nachsteuerverfahren gegen A._ Genève für die Steuerperioden 2004-2010. Begründet wurde dies mit der Höhe der an A._ Luxembourg gezahlten Lizenzgebühren. Die Behörde gab an, nun ein "besseres Verständnis" der A._-Gruppe zu haben. Als neue Indizien wurden genannt: gemeinsame Vermarktung der Software, Medienpräsenz als Konzern, gemeinsame Verwaltungsratsmitglieder, summarische Abrechnung von Entwicklungsstunden ohne "time sheets" und der Transfer der Marke B._ nach Luxemburg in den 90er Jahren.
- Im Verlauf des Verfahrens wurde bekannt, dass A._ Luxembourg ihrerseits 50% der erhaltenen Lizenzgebühren als "Know-how"-Lizenzgebühren an einen "finalen juristischen Eigentümer" weiterleitet. Die Steuerverwaltung berechnete die Nachsteuer daher auf einer Differenz von 10% (60% von A._ Genève erhalten, 50% weitergeleitet).
- Im Juni 2021 wurden Nachsteuerverfügungen für die Jahre 2006-2010 in Höhe von insgesamt CHF 19'652'876.- erlassen.
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Verfahren vor den kantonalen Instanzen:
- Nach einer Einsprache, bei der die Verjährung für 2006 anerkannt wurde, focht A.__ Genève die Nachsteuerverfügungen für 2007-2010 vor dem Tribunal administratif de première instance (TAPI) und anschliessend vor der Cour de justice de la République et canton de Genève an.
- Strittig waren Fragen des Aktenzugangs (insbesondere zu Unterlagen aus internationaler Amtshilfe), der Anordnung eines Gutachtens zu Verrechnungspreisen und die Existenz eines Nachsteuergrundes.
- Die Cour de justice hob die Nachsteuer für 2009 wegen Verjährung auf, bestätigte aber im Übrigen die Nachsteuer für 2010. Sie begründete dies damit, dass ein Nachsteuergrund vorliege, da die Steuerverwaltung erst nach der Veranlagung 2010 entdeckt habe, dass A._ Genève Teil eines Konzerns sei und A._ Luxembourg eine nahestehende Gesellschaft. Die früher bekannten Tatsachen (wie die Lizenzvereinbarung) seien nicht ausreichend gewesen, um alle "relevanten Elemente" für die Beurteilung der Konzernzugehörigkeit zu haben. Eine grobe Fahrlässigkeit der Behörde sei nicht gegeben.
Rechtliche Würdigung durch das Bundesgericht
Das Bundesgericht prüfte in erster Linie, ob die Voraussetzungen für ein Nachsteuerverfahren gemäss Art. 151 Abs. 1 des Bundesgesetzes über die direkte Bundessteuer (DBG) erfüllt waren.
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Grundsatz der Periodizität und Rechtskraft:
- Das Bundesgericht hält fest, dass die Steuerbehörde aufgrund des Periodizitätsprinzips grundsätzlich nicht an frühere Veranlagungen gebunden ist und Sachverhalte und Rechtslagen für spätere Steuerperioden neu beurteilen kann (E. 5.1). Ein Steuerpflichtiger kann sich einer Korrektur nicht widersetzen, nur weil die Behörde diese zuvor nicht vorgenommen hat, es sei denn, es gab explizite Zusicherungen.
- Anders verhält es sich jedoch bei bereits in Rechtskraft erwachsenen Veranlagungsverfügungen. Diese können zu Ungunsten des Steuerpflichtigen nur dann revidiert werden, wenn die strengen und abschliessend in Art. 151 DBG genannten Voraussetzungen für ein Nachsteuerverfahren erfüllt sind (E. 5.1). Diese Bestimmung stellt einen Ausgleich zwischen den Prinzipien der Legalität und Gleichbehandlung einerseits sowie der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes andererseits dar.
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Voraussetzungen für ein Nachsteuerverfahren (Art. 151 Abs. 1 DBG):
- Objektive Bedingungen sind ein Steuerverlust (Veranlagung wurde nicht oder unvollständig vorgenommen) und das Vorliegen eines Nachsteuergrundes (E. 5.2.1).
- Die Nachsteuergründe sind abschliessend: Entdeckung eines Steuerverbrechens/-vergehens ODER die Entdeckung von bisher unbekannten Tatsachen oder Beweismitteln (E. 5.2.1).
- Definition "bisher unbekannte Tatsachen oder Beweismittel": Es handelt sich um Fakten oder Belege, die sich zum Zeitpunkt der Veranlagung nicht aus den Akten der Steuerbehörde ergaben. Hierbei wird ein Ausgleich zwischen der Pflicht der Behörde zur umfassenden Sachverhaltsklärung (Inquisitionsmaxime) und der Mitwirkungspflicht des Steuerpflichtigen gesucht (E. 5.2.2).
- Grenzen des Nachsteuerverfahrens: Das Nachsteuerverfahren kann nicht dazu dienen, eine mangelhafte Sachverhaltsermittlung der Steuerbehörde im ordentlichen Verfahren zu heilen. Wurde der Kausalzusammenhang zwischen unvollständiger/ungenauer Deklaration und ungenügender Veranlagung durch grobe Fahrlässigkeit der Behörde unterbrochen (weil sie sich des unvollständigen Sachverhalts hätte bewusst werden müssen), so sind die Voraussetzungen für ein Nachsteuerverfahren nicht erfüllt (E. 5.2.2).
- Entscheidender Punkt: Die spätere Erkenntnis der Steuerbehörde, dass sie bestehende Tatsachen oder Beweismittel falsch gewürdigt oder das Recht falsch angewendet hat, ist kein Nachsteuergrund (E. 5.2.2). Eine in Rechtskraft erwachsene Veranlagung kann nicht allein wegen eines ursprünglichen Rechtsirrtums der Behörde mittels Nachsteuerverfahren revidiert werden. Das Bundesgericht verweist hier auf seine Rechtsprechung, z.B. in den Urteilen 2C_200/2014 und 2C_803/2019, wo die Neubeurteilung einer Kapitalleistung als Vorsorgecharakter oder die Qualifikation von Gehältern an Töchter als verdeckte Gewinnausschüttung explizit als Rechtsirrtümer qualifiziert wurden, die keine Nachsteuer begründen.
- Qualifikation der streitigen Frage: Die Frage, ob eine Ausgabe (hier: Lizenzgebühren) geschäftsmässig begründet ist oder eine verdeckte Gewinnausschüttung darstellt, ist eine Rechtsfrage. Eine fehlerhafte rechtliche Beurteilung dieser Frage durch die Steuerbehörde stellt keinen Nachsteuergrund dar (E. 5.2.2).
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Anwendung auf den vorliegenden Fall durch das Bundesgericht:
- Das Bundesgericht widerspricht der Begründung der Cour de justice, wonach die Steuerverwaltung erst nach der Veranlagung 2010 die Konzernzugehörigkeit und das Naheverhältnis der Gesellschaften entdeckt habe (E. 5.4).
- Begründung des Bundesgerichts:
- Bereits die Kontrolle von 2000-2001 hatte die Lizenzgebühren und die Vereinbarung geprüft. Dies implizierte notwendigerweise eine rechtliche Würdigung der Frage, ob es sich um geschäftsmässig begründete Kosten oder um verdeckte Gewinnausschüttungen an eine nahestehende Gesellschaft handelte. Der Abschluss ohne Beanstandung bedeutete die Akzeptanz der geschäftsmässigen Begründetheit.
- Die ähnlichen Gesellschaftsnamen ("A._"), die gleichen Unternehmenszwecke und die überlappenden Führungspersonen (E._, F.__) waren Tatsachen, die der Steuerverwaltung bereits lange bekannt waren und klar auf ein Naheverhältnis hindeuteten.
- Die 2013 durchgeführte Kontrolle für die Periode 2011 hatte explizit die Überprüfung der "Verrechnungspreise, die zwischen den Gesellschaften des Konzerns praktiziert wurden" zum Ziel (E. A.e). Dies belegt, dass die Steuerverwaltung bereits zu diesem Zeitpunkt die Konzernzugehörigkeit und das Naheverhältnis der Gesellschaften als bekannt und relevant erachtete.
- Die Argumentation der Vorinstanz, die Behörde habe die Konzernzugehörigkeit nicht gekannt, weil die Gesellschaften nicht in den Medien als Gruppe aufgetreten seien oder A.__ Genève keine Angaben zu Website/LinkedIn gemacht habe, wird vom Bundesgericht als nicht überzeugend verworfen.
- Fazit: Die Steuerverwaltung wollte mit dem Nachsteuerverfahren im Grunde eine frühere Tatsachenwürdigung und rechtliche Qualifikation der Lizenzgebühren als geschäftsmässig begründete Ausgaben revidieren. Dies stellt jedoch, wie das Bundesgericht unter Verweis auf seine konstante Rechtsprechung klarstellt, keinen Nachsteuergrund gemäss Art. 151 Abs. 1 DBG dar (E. 5.4).
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Kantonale und kommunale Steuern:
- Da die Bestimmungen des harmonisierten kantonalen Steuerrechts (Art. 59 LPFisc Genf, Art. 53 Abs. 1 StHG) denjenigen des Bundesrechts entsprechen und den Kantonen keinen Ermessensspielraum lassen, gelten die Ausführungen des Bundesgerichts zur direkten Bundessteuer analog für die kantonalen und kommunalen Steuern (E. 6).
Schlussfolgerung des Bundesgerichts
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut. Es stellt fest, dass die Voraussetzungen für ein Nachsteuerverfahren nicht erfüllt sind, da die Steuerverwaltung keinen gültigen Nachsteuergrund im Sinne von Art. 151 Abs. 1 DBG nachweisen konnte. Das Urteil der Cour de justice vom 15. April 2025 wird aufgehoben. Die Angelegenheit wird zur Neuregelung der Kosten und Entschädigungen an die Vorinstanz zurückgewiesen.
Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte
Das Bundesgericht hat entschieden, dass eine Steuerverwaltung eine in Rechtskraft erwachsene Veranlagung nicht durch ein Nachsteuerverfahren revidieren darf, wenn sie lediglich eine frühere Fehlerhaftigkeit ihrer rechtlichen Würdigung oder Tatsachenbeurteilung korrigieren möchte. Ein Nachsteuergrund liegt nur bei der Entdeckung von bisher unbekannten Tatsachen oder Beweismitteln vor. Im vorliegenden Fall waren der Steuerverwaltung die Konzernstruktur, das Naheverhältnis der Gesellschaften und die Lizenzzahlungen bereits bei früheren Kontrollen bekannt. Die nachträgliche Neubewertung der geschäftsmässigen Begründetheit dieser Zahlungen als verdeckte Gewinnausschüttung aufgrund eines "besseren Verständnisses" stellt daher keinen Nachsteuergrund dar, sondern lediglich eine Änderung der rechtlichen Beurteilung.