Zusammenfassung von BGer-Urteil 2C_16/2025 vom 4. November 2025

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Gerichtsentscheid: Bundesgericht, Urteil 2C_16/2025 vom 4. November 2025

Parteien: * Beschwerdeführer: A.__ (Rechtsanwalt) * Beschwerdegegnerin: Kommission für Disziplinarfragen der Rechtsanwälte des Kantons Tessin * Vorinstanz: Verwaltungsgericht des Kantons Tessin

Gegenstand: Disziplinarbusse wegen unzulässiger Honorarforderung gegenüber einer Klientin mit unentgeltlicher Rechtspflege.

1. Sachverhalt und Verfahrensgang

Der Rechtsanwalt A._ vertrat im November 2021 B._ in einer Zivilstreitigkeit betreffend die elterliche Sorge und den Kindesunterhalt. B.__ wurde sowohl für das Schlichtungsverfahren (Januar 2022) als auch für das nachfolgende Hauptverfahren (Februar 2023) die unentgeltliche Rechtspflege (URP) mit unentgeltlichem Rechtsbeistand gewährt.

Die vom Rechtsanwalt für seine Leistungen im Schlichtungsverfahren eingereichte Honorarnote von CHF 5'336.- wurde von der Pretura auf CHF 2'024.76 gekürzt und genehmigt. Eine weitere Zwischenrechnung für das Hauptverfahren von CHF 24'424.55 wurde auf CHF 8'175.50 genehmigt.

Am 26. Juli 2023 forderte Rechtsanwalt A._ seine Klientin B._ schriftlich zur Zahlung von CHF 6'000.- (inkl. 7.7% MWST) auf, unter Verweis auf ein telefonisches Gespräch und die Formulierung "wie erklärt und verstanden". Die Klientin leistete daraufhin in vier Teilzahlungen CHF 4'300.-.

Im Februar 2024 wandte sich B._ an die Pretura, welche die potenzielle disziplinarische Relevanz des Verhaltens des Anwalts bei der Stellung von Zusatzrechnungen gegenüber URP-Klienten feststellte und sie an die Disziplinarkommission verwies. Am 29. Februar 2024 reichte B._ eine Meldung bei der Disziplinarkommission ein, in welcher sie bemängelte, dass der Anwalt eine "Akontozahlung" von CHF 6'000.- gefordert habe, obwohl ihr die URP bewilligt worden sei.

Die Disziplinarkommission eröffnete am 6. März 2024 ein Disziplinarverfahren wegen möglicher Verletzung der Sorgfalts- und Diligenzpflicht sowie des Verbots, Zusatzhonorare zu fordern. Im März 2024 entzog der Anwalt das Mandat und stellte zwei weitere Honorarnoten für das Hauptverfahren in Höhe von insgesamt CHF 56'667.30 aus, die vom Pretore nur im Umfang von CHF 1'709.15 genehmigt wurden.

Mit Entscheid vom 21. Mai 2024 verhängte die Disziplinarkommission gegen Rechtsanwalt A.__ eine Busse von CHF 1'200.-. Sie befand, der Anwalt habe versucht, den ungedeckten Verdienst teilweise zu kompensieren, indem er widerrechtlich ein Zusatzhonorar von der Klientin gefordert habe. Das Verwaltungsgericht des Kantons Tessin bestätigte diese Sanktion mit Urteil vom 19. November 2024.

Gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts reichte Rechtsanwalt A.__ am 7. Januar 2025 Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und subsidiäre Verfassungsbeschwerde beim Bundesgericht ein. Die subsidiäre Verfassungsbeschwerde wurde als unzulässig erklärt, da die ordentliche Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten zulässig war. Die darin vorgebrachten Argumente wurden im Rahmen der Prüfung der ordentlichen Beschwerde berücksichtigt.

2. Rechtliche Würdigung durch das Bundesgericht

2.1. Grundlagen der anwaltlichen Berufspflichten im Kontext der unentgeltlichen Rechtspflege

Das Bundesgericht weist darauf hin, dass das Bundesgesetz über die Freizügigkeit der Anwältinnen und Anwälte (BGFA; SR 935.61) die Regeln für die Ausübung des Anwaltsberufs umfassend auf Bundesebene vereinheitlicht (E. 4.1). Gemäss Art. 12 BGFA unterliegt der Anwalt unter anderem der Pflicht, den Beruf sorgfältig und gewissenhaft auszuüben (lit. a) und Mandate im Rahmen der unentgeltlichen Rechtspflege (URP) in dem Kanton zu übernehmen, in dem er im Register eingetragen ist (lit. g).

Das Bundesgericht betont die Besonderheit eines URP-Mandats: Es handelt sich nicht um ein privates Mandat, sondern um eine staatliche Aufgabe. Der Anwalt tritt in ein öffentlich-rechtliches Verhältnis zum Staat ein und hat Anspruch auf eine Entschädigung nach kantonalem Recht (E. 4.2; Verweis auf BGE 122 I 1 E. 3a und Urteil 2C_250/2021). Ein Pflichtverteidiger oder URP-Anwalt hat keinen Anspruch auf eine Vergütung von der vertretenen Person. Insbesondere ist es ihm untersagt, von dieser eine zusätzliche Zahlung zu der vom Staat erhaltenen Entschädigung zu verlangen. Dies gilt selbst dann, wenn der vom Staat gezahlte Betrag nicht einem vollständigen Honorar entspricht und die unterstützte Person einer zusätzlichen Zahlung zustimmt (E. 4.2; Verweis auf BGE 108 Ia 11 E. 1 und Urteil 2C_250/2021 sowie Literatur). Ein Verhalten, das gegen diese Grundsätze verstösst, stellt eine Verletzung der beruflichen Pflichten des Anwalts im Sinne von Art. 12 lit. a und g BGFA dar (E. 4.3; Verweise auf Urteile 2C_250/2021, 2C_550/2015, 2C_452/2011).

2.2. Überprüfung der Sachverhaltsfeststellung und Beweiswürdigung

Der Beschwerdeführer machte geltend, er habe detailliert erklärt und durch umfangreiche Dokumente bewiesen, dass die am 26. Juli 2023 von B.__ geforderten CHF 6'000.- keine Leistungen betrafen, die im funktionellen Zusammenhang mit dem URP-Verfahren standen (E. 3.2, 6.1). Das Bundesgericht prüft diese Rüge der willkürlichen Sachverhaltsfeststellung und Beweiswürdigung (Art. 9 BV, Art. 105 Abs. 2 LTF) mit Zurückhaltung.

Das Bundesgericht bekräftigt die Einschätzung der Vorinstanz, wonach die vom Beschwerdeführer vorgelegten Belege nicht ausreichen, um seine Behauptung zu stützen: * "B.__ - diversi" (Dokument 6/G): Dieses Dokument erwies sich als zu vage. Es liess keine Rückschlüsse darauf zu, auf welche Themen sich die verschiedenen Posten (E-Mails, Telefonate, Studien, Konferenzen zwischen Anwalt und Praktikanten) bezogen, die direkt an B.__ in Rechnung gestellt wurden. Insbesondere die Position "Studio", die den grössten Teil des geforderten Honorars ausmachen sollte, umfasste gemäss Dokument G "Aktivitäten, Kompetenzen, Vorbereitungen, Strategien, interne Konferenzen, Projekterstellung, Denkschriften, Schriften und Korrespondenz im Allgemeinen, Recherchen, Aktenprüfung, Redaktionen und Ähnliches" – eine Formulierung, die eine Zuordnung zu den URP-Leistungen nicht ausschliesst (E. 5.1, 6.3.1). * Anwaltsliste in den Stellungnahmen (Seiten 10-11 der Disziplinarkommission, Seiten 8-9 der kantonalen Beschwerde): Auch diese Liste wurde vom Bundesgericht als völlig vage und generisch erachtet (E. 5.2). Sie stellte eine Parteibehauptung dar, die nicht geeignet war, die Erbringung von Leistungen nachzuweisen, die eindeutig von denjenigen Leistungen getrennt waren, für die der Anwalt einen öffentlich-rechtlichen Honoraranspruch gegenüber dem Staat hatte (E. 6.3.2). Im Gegenteil, die aufgeführten Punkte (z.B. "tiefe und endlose Streitigkeiten zwischen den Parteien", "wiederholte Mängel bei der Einhaltung von Tagen und Zeiten", "Missverständnisse und Beschwerden über das Verhalten des Vaters der gemeinsamen Tochter", "Interventionen Dritter und anderer Familienangehöriger") konnten nach Ansicht des Bundesgerichts ohne Willkür dahingehend interpretiert werden, dass sie mit den Zivilverfahren (elterliche Sorge und Unterhalt) in Verbindung standen, für die die URP bewilligt worden war (E. 6.3.2).

Das Bundesgericht kam zum Schluss, dass die Beweiswürdigung der Vorinstanz keineswegs unhaltbar oder willkürlich war (E. 6.3). Da der Betrag von CHF 6'000.- somit Leistungen betraf, für die eine zusätzliche Vergütung unzulässig war, ist ein allfälliges Einverständnis von B.__ zur Zahlung bedeutungslos (E. 6.4; Verweis auf E. 4.2). Auch die Tatsache, dass sowohl der Zivilrichter als auch die Disziplinarkommission dem Anwalt eine sorgfältige Mandatsführung attestierten, ändert nichts an der unzulässigen Honorarforderung, da zwischen der Ausführung des Mandats und dessen Vergütung zu unterscheiden ist (E. 6.4).

Folglich wurde die Verletzung des Verbots, zusätzliche Zahlungen zu der im Rahmen der URP bewilligten Entschädigung zu verlangen (Art. 12 lit. g i.V.m. Art. 12 lit. a BGFA), bestätigt (E. 6.4).

2.3. Verhältnismässigkeit der Sanktion

Der Beschwerdeführer rügte auch die Unverhältnismässigkeit der Disziplinarbusse von CHF 1'200.- und beantragte eine Einstellung des Verfahrens ohne Massnahmen oder höchstens eine Verwarnung (E. 3.2, 7).

Das Bundesgericht weist darauf hin, dass die Wahl der Disziplinarmassnahmen (Art. 17 Abs. 1 BGFA) primär den kantonalen Aufsichtsbehörden obliegt und es sich bei deren Überprüfung Zurückhaltung auferlegt. Eine Korrektur erfolgt nur, wenn die Sanktion das Ermessen überschreitet oder missbraucht und als unverhältnismässig erscheint (E. 7.1; Verweise auf Urteile 2C_354/2021, 2C_988/2017, 2C_1006/2022).

Die Rüge der Willkür in Bezug auf die Sanktion wurde vom Bundesgericht zurückgewiesen (E. 7.2). Die vom Beschwerdeführer behauptete Missachtung "der Prozessakten und der dort bewiesenen Umstände" konnte nicht nachgewiesen werden, da die Sachverhaltsfeststellung als plausibel erachtet wurde (E. 7.2.1). Die Vorinstanz begründete die Verhängung einer Busse anstelle einer Verwarnung oder eines Verweises überzeugend: * Das Versenden einer ergänzenden Honorarnote an eine URP-Klientin zeugt von einer Unterschätzung der Tätigkeit eines Anwalts im Rahmen der unentgeltlichen Rechtspflege (E. 7.2.2). * Obwohl der Beschwerdeführer eine lange Berufserfahrung ohne disziplinarische Vorstrafen aufweist, hätte gerade diese Erfahrung ihn dazu bringen müssen, das Einfordern von Zusatzhonoraren zu unterlassen (E. 7.2.2). * Die Busse von CHF 1'200.- ist im Vergleich zum Höchstbetrag von CHF 20'000.- gemäss Art. 17 Abs. 1 lit. c BGFA als moderat und den Umständen angemessen zu betrachten (E. 7.2.2; Verweise auf ähnliche Fälle und Bussenhöhen in den Urteilen 2C_550/2015 und 2C_783/2008).

Da keine klare Verletzung des Verhältnismässigkeitsprinzips vorliegt, wurde auch die Höhe der Sanktion bestätigt (E. 7.3).

3. Entscheid des Bundesgerichts

Das Bundesgericht erklärte die subsidiäre Verfassungsbeschwerde für unzulässig und wies die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten, soweit zulässig, ab. Die Gerichtskosten von CHF 2'000.- wurden dem Beschwerdeführer auferlegt.

4. Zusammenfassung der wesentlichen Punkte

  • Verstoss gegen Berufspflichten: Ein Rechtsanwalt, der im Rahmen der unentgeltlichen Rechtspflege tätig ist, darf von seiner Klientin keine zusätzlichen Honorare oder Akontozahlungen fordern, auch nicht bei deren Einverständnis oder wenn die staatliche Entschädigung nicht kostendeckend ist. Dies stellt eine Verletzung der Sorgfalts- und Diligenzpflichten sowie des Verbots der Zusatzhonorarforderung gemäss Art. 12 lit. a und g BGFA dar.
  • Anforderungen an den Nachweis: Behauptet der Anwalt, die zusätzlichen Forderungen hätten Leistungen ausserhalb des URP-Mandats betroffen, muss er dies detailliert und schlüssig beweisen. Vage oder generische Leistungsbeschreibungen, die plausible Bezüge zum URP-Mandat zulassen, sind nicht ausreichend, um eine Willkürrüge bei der Sachverhaltsfeststellung zu begründen.
  • Irrelevanz des Einverständnisses: Das Einverständnis der Klientin zu einer zusätzlichen Zahlung ist rechtlich unbeachtlich, da die URP-Vergütung eine staatliche Leistung ist und die Beziehung Anwalt-Staat betrifft.
  • Verhältnismässigkeit der Sanktion: Eine Disziplinarbusse von CHF 1'200.- für das unrechtmässige Fordern von Zusatzhonoraren im URP-Kontext wird als verhältnismässig erachtet, insbesondere unter Berücksichtigung der Obergrenze von CHF 20'000.- und der Tatsache, dass ein erfahrener Anwalt diese Regelung kennen sollte. Die gerichtliche Überprüfung disziplinarischer Ermessensentscheide erfolgt mit Zurückhaltung.