Detaillierte Zusammenfassung des Urteils des Schweizerischen Bundesgerichts (6B_932/2024 vom 30. Oktober 2025)
Einleitung
Das Bundesgericht hatte in diesem Fall über eine Beschwerde in Strafsachen von A.__ (nachfolgend: Beschwerdeführer) gegen ein Urteil des Obergerichts des Kantons Zug zu befinden. Der Beschwerdeführer wurde erst- und zweitinstanzlich der versuchten schweren Körperverletzung (Art. 122 i.V.m. Art. 22 Abs. 1 StGB) sowie des Raufhandels (Art. 133 Abs. 1 StGB) für schuldig befunden. Das Obergericht verurteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe von 30 Monaten, wovon 18 Monate bei einer Probezeit von fünf Jahren aufgeschoben wurden, und ordnete eine Landesverweisung von fünf Jahren an. Der Beschwerdeführer beantragte vor Bundesgericht eine tiefere Freiheitsstrafe, deren vollbedingten Vollzug sowie den Verzicht auf die Landesverweisung.
Sachverhalt
Dem Urteil des Obergerichts lag ein komplexer Geschehensablauf in der Nacht vom 30. Mai 2020 zugrunde, der sich in fünf Phasen gliedern lässt:
- Phase 1 (Provokation): Der alkoholisierte Beschwerdeführer und seine Kollegen provozierten den Privatkläger (einen Taxifahrer), nachdem sie bereits andere Autofahrer belästigt hatten. Der Kollege C._ öffnete provokativ den Kofferraum des Taxis. Der Privatkläger stieg daraufhin aus, um C._ zu verfolgen.
- Phase 2 (Gerangel): Der Privatkläger geriet mit dem Beschwerdeführer aneinander, schubste diesen und beide umklammerten sich gegenseitig. Der Privatkläger riss dem Beschwerdeführer an den Haaren und traf ihn im Rahmen eines ungezielten Herumschlagens am Oberkörper oder Kopf.
- Phase 3 (Eskalation durch Beschwerdeführer): Der Beschwerdeführer löste sich vom Privatkläger und drängte diesen mit Faustschlägen zum Taxi zurück. Der Privatkläger lehnte angeschlagen und defensiv am Taxi. Nach einer kurzen Pause und einem Abstand von ca. zwei Metern näherte sich der Beschwerdeführer erneut und schlug den Privatkläger mit Faustschlägen ins Gesicht, bis dieser zu Boden ging. Spätestens ab diesem Zeitpunkt war der Beschwerdeführer der Aggressor.
- Phase 4 (Bodenlage-Attacke): Der Beschwerdeführer traktierte den hinter dem Taxi am Boden liegenden Privatkläger von oben herab mit Fäusten und schliesslich mit Fusstritten gegen Kopf und Oberkörper.
- Phase 5 (Finaler, massiver Tritt): Der Beschwerdeführer wurde von C.__ kurz vom Privatkläger weggezogen. Er löste sich jedoch, drehte sich um und trat unvermittelt, schnell, heftig und mit voller Wucht (im Sinne eines Fussballkicks) willentlich gegen den Kopf des Privatklägers. Dieser letzte Tritt des deutlich jüngeren, körperlich überlegenen (19 Jahre, 181 cm, 79.5 kg, kampfsporterfahren) Beschwerdeführers traf den 60-jährigen, wehrlosen und bereits am Boden liegenden Privatkläger (173 cm, 85 kg) unabwehrbar. Der Privatkläger erlitt ein leichtes Schädel-Hirn-Trauma, eine Rissquetschwunde am Hinterkopf, eine Nasenbeinfraktur sowie weitere Prellungen und Hautverfärbungen. Der Beschwerdeführer kümmerte sich nicht um das Opfer, sondern flüchtete.
Erwägungen des Bundesgerichts
Das Bundesgericht prüfte die Rügen des Beschwerdeführers betreffend die Strafzumessung, den Vollzug der Freiheitsstrafe und die Landesverweisung.
1. Zur Strafzumessung (Art. 47 f. StGB)
- Rüge des Beschwerdeführers: Die Vorinstanz habe seinen emotionalen Zustand unberücksichtigt gelassen und dadurch Art. 47 StGB (ggf. Art. 48 lit. c StGB) verletzt. Er habe in einer entschuldbaren heftigen Gemütsbewegung oder unter grosser seelischer Belastung gehandelt.
- Rechtliche Grundlagen: Das Bundesgericht legt die Grundsätze der Strafzumessung nach Art. 47 ff. StGB dar, wonach das Gericht die Strafe nach dem Verschulden bemisst und Vorleben, persönliche Verhältnisse und Strafwirkung berücksichtigt. Art. 48 lit. c StGB sieht eine Strafmilderung vor, wenn der Täter in einer nach den Umständen entschuldbaren heftigen Gemütsbewegung oder unter grosser seelischer Belastung handelte. "Entschuldbar" setzt voraus, dass die Gemütsbewegung bei objektiver Betrachtung gerechtfertigt wäre und auch eine andere, anständig gesinnte Person in dieser Situation leicht in einen solchen Affekt geraten wäre. Eigene Verschuldung der Konfliktsituation schliesst die Entschuldbarkeit aus. Das Bundesgericht greift nur bei Ermessensüberschreitung oder -missbrauch ein.
- Prüfung durch das Bundesgericht:
- Raufhandel: Die Vorinstanz bejahte einen Notwehrexzess (Art. 16 Abs. 1 StGB) zu Beginn der Auseinandersetzung, verneinte jedoch eine entschuldbare Aufregung oder Bestürzung (Art. 16 Abs. 2 StGB). Sie stellte fest, dass die Notwehrlage über den wesentlichen Teil der Auseinandersetzung hinweg nicht mehr bestand und der Beschwerdeführer deutlich exzessiv handelte. Spätestens ab Phase 3 war der Beschwerdeführer der Aggressor, und seine Handlungen dienten der "Abstrafung". Eine entschuldbare Aufregung wurde verneint, da dem kampfsporterfahrenen, körperlich überlegenen Beschwerdeführer keine erhebliche Verletzung durch den Privatkläger drohte und er sich ohne Weiteres hätte entfernen können.
- Versuchte schwere Körperverletzung: Beim finalen Tritt gegen den wehrlosen Privatkläger auf dem Boden lag erst recht keine Notwehrsituation mehr vor. Die Vorinstanz würdigte den Eventualvorsatz als leicht mildernd, betonte aber die besondere Verwerflichkeit des unnötigen und leicht vermeidbaren "finalen Kicks".
- Fazit zur Gemütsbewegung: Das Bundesgericht schloss sich der Vorinstanz an. Angesichts des Sachverhalts, insbesondere der einseitigen, eskalierenden Aggression und der "körperlichen Züchtigung bzw. Abstrafung" eines wehrlosen Opfers, konnte keine nach den Umständen entschuldbare heftige Gemütsbewegung im Sinne von Art. 48 lit. c StGB bejaht werden. Der Beschwerdeführer hatte zudem selbst einen Anteil an der initialen Belästigung. Eine Ermessensverletzung der Vorinstanz wurde verneint. Die verhängte Freiheitsstrafe von 30 Monaten wurde als im Rahmen des sachrichterlichen Ermessens liegend bestätigt.
2. Zum Vollzug der Freiheitsstrafe (Art. 42 f. StGB)
- Rüge des Beschwerdeführers: Die Vorinstanz habe bei der Legalprognose die Tatumstände ausser Acht gelassen und sich auf ein nicht mehr beweistaugliches, veraltetes Jugendgutachten gestützt, was Art. 42 StGB verletze. Die Tat sei ein singuläres Ereignis.
- Rechtliche Grundlagen: Gemäss Art. 43 StGB kann der Vollzug einer Freiheitsstrafe von 1 bis 3 Jahren teilbedingt aufgeschoben werden, wenn dies dem Verschulden Rechnung trägt. Das Verhältnis von unbedingt und bedingt vollziehbarem Teil muss die Legalbewährung und die Einzeltatschuld widerspiegeln. Für die Legalprognose ist eine Gesamtwürdigung aller wesentlichen Umstände vorzunehmen (Tatumstände, Vorleben, Leumund, Sozialisationsbiografie, Arbeitsverhalten, soziale Bindungen). Dem Sachgericht steht ein Ermessensspielraum zu. Eine sachverständige Begutachtung ist anders als bei Massnahmen (Art. 56 Abs. 3 StGB) nicht zwingend.
- Prüfung durch das Bundesgericht:
- Die Vorinstanz hatte sich ausführlich mit der Frage des teilbedingten Vollzugs auseinandergesetzt und eine detaillierte Gesamtwürdigung vorgenommen. Sie berücksichtigte die 16 rechtskräftigen Vorstrafen des Beschwerdeführers (u.a. Diebstahl, Betäubungsmittel-, Strassenverkehrsdelikte), seine vorsorgliche Unterbringung, abgebrochene Suchttherapie, seine finanziellen Verhältnisse sowie seinen Charakter (mögliche pro- oder anti-soziale Neigungen).
- Jugendgutachten: Die Vorinstanz bezog das forensisch-psychiatrische Jugendgutachten aus dem Jahr 2018 zwar mit ein, würdigte dessen Feststellungen aber explizit "zurückhaltend und differenziert", da es älter sei und in einem anderen Verfahren erstellt wurde. Entgegen der Rüge des Beschwerdeführers stützte sie sich nicht vornehmlich darauf.
- Legalprognose: Die Vorinstanz sah aufgrund der gehäuften kriminogenen Faktoren (narzisstische/dissoziale Persönlichkeitsmerkmale, Verantwortungslosigkeit, fehlende stabile Erwerbstätigkeit, Schulden, instabile Wohnverhältnisse) eine insgesamt negative Legalprognose. Sie erwartete mit hoher Wahrscheinlichkeit zukünftige Verbrechen oder Vergehen, insbesondere im Bereich der Betäubungsmittel- und Vermögenskriminalität.
- Jüngste Entwicklungen: Dennoch berücksichtigte die Vorinstanz ausdrücklich die "deutlich positiven Entwicklungen" des Beschwerdeführers in den Jahren 2023/2024 (wie den erneuten Versuch einer Lehre) als ausreichend gewichtig, um einen teilbedingten Vollzug zu prüfen und schliesslich auch zu gewähren (12 Monate unbedingt, 18 Monate aufgeschoben), jedoch mit der maximalen Probezeit von fünf Jahren aufgrund der "erheblichen Restbedenken".
- Fazit zum Vollzug: Das Bundesgericht befand, dass die Vorinstanz eine sorgfältige und umfassende Gesamtwürdigung vorgenommen hatte. Die Rüge, die Tatumstände seien ausser Acht gelassen worden, wurde zurückgewiesen. Auch die Rüge bezüglich des Jugendgutachtens wurde abgewiesen, da die Vorinstanz es lediglich als einen von vielen Faktoren differenziert gewürdigt und die jüngsten positiven Entwicklungen ebenfalls einbezogen hatte, ohne ihnen aber eine "alles überragende Bedeutung" beizumessen. Eine Verletzung von Bundesrecht war nicht ersichtlich.
3. Zur Landesverweisung (Art. 66a Abs. 2 StGB)
- Rüge des Beschwerdeführers: Seine Interessen am Verbleib in der Schweiz würden die öffentlichen Interessen an seiner Wegweisung überwiegen. Die Landesverweisung verletze Art. 66a Abs. 2 StGB und Art. 5 Abs. 1 Anhang I FZA.
- Rechtliche Grundlagen: Art. 66a Abs. 1 lit. b StGB sieht eine obligatorische Landesverweisung von 5-15 Jahren für Ausländer vor, die wegen (versuchter) schwerer Körperverletzung verurteilt wurden. Als deutscher Staatsangehöriger erfüllt der Beschwerdeführer die Voraussetzungen. Von der Landesverweisung kann ausnahmsweise abgesehen werden (Härtefallklausel, Art. 66a Abs. 2 StGB), wenn kumulativ ein schwerer persönlicher Härtefall vorliegt UND die öffentlichen Interessen an der Landesverweisung die privaten Interessen des Ausländers nicht überwiegen. Massgebend sind hier die Kriterien der Integration, sowie das Recht auf Privat- und Familienleben (Art. 13 BV, Art. 8 EMRK).
- Prüfung durch das Bundesgericht:
- Schwerer persönlicher Härtefall (Art. 66a Abs. 2 StGB): Die Vorinstanz bejahte einen Härtefall. Ausschlaggebend waren die engen sozialen Bindungen des Beschwerdeführers zu seiner Freundin, seinem Kollegenkreis und seinen Verwandten (Mutter, Schwester) in der Schweiz, die seine Integration in diesem Bereich als schwergewichtig in der Schweiz ansiedelten. Auch die ersten positiven Entwicklungen in den Jahren 2023/2024 wurden berücksichtigt, obwohl die Integration in Beruf, Ausbildung, Finanzen und Gesetzesnachachtung als ungenügend bewertet wurde.
- Interessenabwägung (Art. 66a Abs. 2 StGB):
- Private Interessen des Beschwerdeführers: Soziale Bindungen zu Familie und Freundin wurden anerkannt, aber relativiert: Als erwachsener und selbstständiger Mann könne er diese Bindungen zu seiner Mutter und Schwester auch aus Deutschland (Nachbarland) aufrechterhalten. Eine Fernbeziehung mit seiner Freundin oder ihr Umzug nach Deutschland sei zumutbar. Die begonnene Lehre sei ein privates Interesse, aber der Beschwerdeführer sei jung, ungebunden, arbeitsfähig, selbstständig und habe keine Lehre abgeschlossen, was einen Wechsel nach Deutschland zumutbar mache. Deutschland sei ein demokratischer Rechtsstaat mit vergleichbaren Freiheitsrechten.
- Öffentliche Interessen an der Landesverweisung: Die Vorinstanz sah ein erhebliches Wegweisungsinteresse, das in mehrfacher Hinsicht erhöht wurde:
- Das Strafmass von 30 Monaten Freiheitsstrafe manifestiere ein ausländerrechtlich schweres Verschulden. Bei einer Verurteilung von über einem Jahr Freiheitsstrafe liege bereits ein Grund für den Widerruf einer Niederlassungsbewilligung vor (Art. 62 Abs. 1 lit. b AIG). Bei zwei Jahren ("Zweijahresregel") werde sogar von einem sehr schweren Verstoss ausgegangen.
- Die Tat (finaler Tritt gegen den wehrlosen Kopf) sei eine sinnlose, vorsätzliche Gewalttat, bei der ein starkes öffentliches Wegweisungsinteresse bestehe.
- Die zahlreichen Vorstrafen (Diebstahl, Betäubungsmittelhandel) kennzeichneten den Beschwerdeführer als "über Jahre hinweg uneinsichtigen Intensivtäter" mit geringer Ansprechbarkeit auf Sanktionen.
- Die daraus abgeleitete Kriminalprognose stütze das Wegweisungsinteresse. Obwohl ein teilbedingter Vollzug gewährt wurde, gelten bei der Landesverweisung strengere Anforderungen an eine biographische Kehrtwende. Die kriminogenen Faktoren (narzisstische/dissoziale Züge, Verantwortungslosigkeit, keine stabile Erwerbstätigkeit, Schulden, instabile Wohnverhältnisse) seien jahrelang nicht in wesentlichem Ausmass gemindert worden. Die jüngsten positiven Entwicklungen seien "verhalten positiv", aber nicht "alles überragend". Es bestehe weiterhin ein erhebliches Potenzial für zukünftige Straftaten.
- Gesamtabwägung: Die Vorinstanz kam zum Schluss, dass das erhebliche öffentliche Wegweisungsinteresse die stark relativierbaren privaten Interessen des Beschwerdeführers am Verbleib in der Schweiz überwiegt. Ausschlaggebend waren die Schwere der Straftat, das damit verbundene Verschulden, die erhebliche Zahl von Vorstrafen und die mangelnde berufliche und finanzielle Integration.
- Fazit zur Landesverweisung: Das Bundesgericht bestätigte die vorinstanzliche Interessenabwägung als nicht zu beanstanden. Die Rügen des Beschwerdeführers bezüglich des Strafmasses, des Jugendgutachtens und der angeblich unberücksichtigten protektiven Faktoren wurden als unbegründet oder appellatorisch zurückgewiesen. Die Rüge zur Verletzung des FZA wurde mangels Begründung nicht behandelt.
Schlussfolgerung
Das Bundesgericht wies die Beschwerde in Strafsachen ab, soweit darauf eingetreten wurde. Das Gesuch des Beschwerdeführers um unentgeltliche Rechtspflege wurde aufgrund der Aussichtslosigkeit der Beschwerde abgewiesen, die Gerichtskosten wurden ihm unter Berücksichtigung seiner finanziellen Lage auf CHF 1'200.00 auferlegt.
Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:
Das Bundesgericht bestätigte die Verurteilung des Beschwerdeführers wegen versuchter schwerer Körperverletzung und Raufhandels. Es wies die Rügen zur Strafzumessung (30 Monate Freiheitsstrafe) ab, da die Vorinstanz den emotionalen Zustand des Beschwerdeführers korrekt gewürdigt und eine entschuldbare Gemütsbewegung angesichts seiner eskalierenden Aggression verneint hatte. Auch die Rügen zum Vollzug der Freiheitsstrafe (12 Monate unbedingt, 18 Monate teilbedingt) wurden abgewiesen; die Vorinstanz hatte die Legalprognose umfassend und unter differenzierter Berücksichtigung sowohl der Vielzahl früherer Delikte als auch jüngster positiver Entwicklungen vorgenommen. Schliesslich hielt das Bundesgericht die Landesverweisung für fünf Jahre für rechtmässig. Obwohl ein persönlicher Härtefall bejaht wurde, überwiegen die öffentlichen Interessen an der Wegweisung die privaten Interessen des Beschwerdeführers deutlich, insbesondere aufgrund der Schwere der Gewalttat, des hohen Strafmasses, der zahlreichen Vorstrafen und der weiterhin als erheblich eingeschätzten Legalprognose.