Zusammenfassung von BGer-Urteil 7B_1132/2025 vom 19. November 2025

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Detaillierte Zusammenfassung des Urteils des schweizerischen Bundesgerichts (7B_1132/2025) vom 19. November 2025

Gericht: Bundesgericht, II. Strafrechtliche Abteilung Datum des Urteils: 19. November 2025 Parteien: A.__ (Beschwerdeführer) gegen das Ministère public de l'arrondissement de l'Est vaudois (Staatsanwaltschaft) Gegenstand: Untersuchungshaft

I. Sachverhalt

Die Staatsanwaltschaft des Arrondissements Ost Waadt eröffnete ein Vorverfahren gegen A._ wegen Vergewaltigung (Art. 190 StGB) und Widerhandlung gegen das Bundesgesetz über die Ausländer und die Integration (AIG). Dem Beschwerdeführer wird vorgeworfen, am 13. März 2024 B._ in den öffentlichen Toiletten des Bahnhofs U.__ vergewaltigt zu haben. Ferner sei er seit einer Verurteilung im April 2025 wegen gleicher Delikte mehrfach illegal in die Schweiz eingereist und habe sich dort widerrechtlich aufgehalten.

A._ wurde am 24. September 2025 festgenommen und am Folgetag von der Staatsanwaltschaft einvernommen. Am 25. September 2025 beantragte die Staatsanwaltschaft die Anordnung von drei Monaten Untersuchungshaft wegen Flucht- und Kollusionsgefahr. Mit Beschluss vom 27. September 2025 ordnete das Zwangsmassnahmengericht (ZMG) die Untersuchungshaft für maximal zwei Monate, d.h. bis spätestens 23. November 2025, an. Die dagegen gerichtete Beschwerde des A._ wies die Chambre des recours pénale des Tribunal cantonal du canton de Vaud (Kantonale Beschwerdekammer) mit Urteil vom 2. Oktober 2025 ab und bestätigte die Haftanordnung. A.__ reichte daraufhin eine Beschwerde in Strafsachen beim Bundesgericht ein, mit dem Hauptantrag auf sofortige Freilassung.

II. Rechtliche Erwägungen des Bundesgerichts

Das Bundesgericht prüfte die Beschwerde in Strafsachen (Art. 78 Abs. 1 BGG), da Entscheide über die Untersuchungshaft einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil (Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG) verursachen können.

2.1. Allgemeine Grundsätze zur Untersuchungshaft

Eine Anordnung von Untersuchungshaft oder Sicherheitshaft ist nur dann mit der persönlichen Freiheit (Art. 10 Abs. 2 BV und Art. 5 EMRK) vereinbar, wenn sie auf einer gesetzlichen Grundlage (Art. 31 Abs. 1 und 36 Abs. 1 BV), hier Art. 221 StPO, beruht. Zudem muss sie einem öffentlichen Interesse entsprechen und dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit genügen (Art. 36 Abs. 2 und 3 BV). Dies setzt das Vorliegen eines Haftgrundes voraus, namentlich Flucht-, Kollusions- oder Wiederholungsgefahr (Art. 221 Abs. 1 lit. a, b und c sowie Abs. 1bis lit. a und b StPO).

Als primäre Voraussetzung müssen gemäss Art. 221 Abs. 1 StPO i.V.m. Art. 5 Abs. 1 lit. c EMRK ausreichende und schwerwiegende Verdachtsgründe vorliegen. Das Bundesgericht präzisiert, dass es dem Haftrichter nicht obliegt, eine umfassende Abwägung von Belastungs- und Entlastungsmomenten vorzunehmen oder die Glaubwürdigkeit von Zeugen abschliessend zu beurteilen. Er hat lediglich zu prüfen, ob ernsthafte Anhaltspunkte für die Schuld des Betroffenen vorliegen, die eine solche Massnahme rechtfertigen. Die Beantwortung von Fragen der rechtlichen Qualifikation, der Schuldbewertung oder der Beweiskraft obliegt dem Sachgericht (BGE 143 IV 330 E. 2.1; 7B_964/2025 E. 2.2.3).

Entscheidend ist die Intensität der Verdachtsgründe, die sich mit dem Fortschreiten des Strafverfahrens verändert. Während in den Anfangsphasen der Untersuchung auch noch wenig präzise Verdachtsmomente genügen können ("raisons plausibles"), muss die Aussicht auf eine Verurteilung nach Durchführung der wesentlichen Untersuchungshandlungen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit gegeben sein ("perspective d'une condamnation doit apparaître avec une certaine vraisemblance"). Mit anderen Worten müssen die objektiven Gründe von plausibel zu wahrscheinlich werden (BGE 143 IV 330 E. 2.1; 143 IV 316 E. 3.2; 7B_631/2025 E. 3.2.1).

2.2. Anwendung auf den vorliegenden Fall 2.2.1. Intensität der Verdachtsgründe und Verfahrensstadium

Der Beschwerdeführer machte geltend, die ersten Untersuchungshandlungen hätten bereits vor über einem Jahr stattgefunden, weshalb das Verfahren als weit fortgeschritten anzusehen sei und die Verdachtsgründe eine "hohe Wahrscheinlichkeit" aufweisen müssten.

Das Bundesgericht hielt fest, dass der Vorfall zwar vom 13. März 2024 datiert und verschiedene Untersuchungshandlungen (wie die Einvernahme der Beschwerdeführerin, Videoüberwachung, forensische Berichte des CURML und der Kriminalpolizei, Alkoholtest, DNA-Analyse, Einvernahme des Beschwerdeführers) bereits durchgeführt wurden. Es betonte jedoch, dass die Festnahme des Beschwerdeführers erst kürzlich erfolgte. Angesichts dessen müssten noch weitere Untersuchungshandlungen, insbesondere eine Einvernahme in Konfrontation der beiden Protagonisten, durchgeführt werden. Eine solche Konfrontation könne in Fällen, in denen sich die Ereignisse "unter vier Augen" abgespielt haben, von entscheidender Bedeutung sein (vgl. Beschluss des ZMG vom 27. September 2025). Vor diesem Hintergrund hat die Kantonale Beschwerdekammer nach Ansicht des Bundesgerichts kein Bundesrecht verletzt, indem sie die Anforderungen an die Intensität der Verdachtsgründe als weniger hoch einstufte.

2.2.2. Beurteilung der Glaubwürdigkeit und Beweislage

Der Beschwerdeführer behauptete weiter, der sexuelle Kontakt sei einvernehmlich gewesen und die Aussagen der Beschwerdeführerin seien unglaubwürdig und substanzlos. Das Bundesgericht wies diese Argumentation als unzulässige appellatorische Kritik zurück (Art. 106 Abs. 2 BGG), da sie lediglich eine erneute freie Diskussion der Beweismittel und eine persönliche Lesart der Ereignisse darstelle, ohne eine willkürliche Sachverhaltsfeststellung (Art. 9 BV) der kantonalen Instanz zu rügen.

Die Kantonale Beschwerdekammer hatte anerkannt, dass die Aussagen der Beschwerdeführerin "relativ wichtige Widersprüche" zu den festgestellten Elementen des Dossiers (insbesondere Videoüberwachung) aufwiesen. Sie erachtete diese Widersprüche jedoch als erklärbar, namentlich durch die emotionale Verfassung der Beschwerdeführerin bei ihrer ersten Befragung, ihre Alkoholisierung zum Tatzeitpunkt oder psychische Probleme. Das Bundesgericht befand, dass es nicht offensichtlich unhaltbar war, diese Erklärungen zu berücksichtigen. Auch der mögliche vorherige "persönliche Kontakt" zwischen den Beteiligten (wie vom Beschwerdeführer behauptet) widerspreche der Version der Beschwerdeführerin nicht zwingend. Ebenso wenig entziehe das Fehlen von DNA-Spuren des Beschwerdeführers an der Kleidung der Beschwerdeführerin deren Aussage die Glaubwürdigkeit, noch sei die anfängliche Unsicherheit der Beschwerdeführerin über den genauen Ablauf der Ereignisse ausreichend, um die Wahrscheinlichkeit ihrer Aussagen zu diesem frühen Zeitpunkt zu beurteilen.

Das Bundesgericht hob hervor, dass die Kantonale Beschwerdekammer auch Widersprüche in den Aussagen des Beschwerdeführers festgestellt hatte, die dieser in seiner Beschwerde nicht thematisierte (z.B. seine Behauptung, nicht ejakuliert zu haben, obwohl in einem am Tatort gefundenen Kondom seine DNA gefunden wurde; oder eine angeblich fünfsekündige Dauer des Akts, während er sechs Minuten mit der Beschwerdeführerin in den Toiletten verbrachte). Trotz der "legitimen Zweifel" am fehlenden Konsens, die die kantonale Instanz selbst hervorgehoben hatte, hat sie somit kein Bundesrecht verletzt, indem sie die Verdachtsgründe für die Vergewaltigung als ausreichend betrachtete.

Das Bundesgericht betonte, dass es dem Sachgericht und nicht dem Haftrichter obliegt, die Fragen der rechtlichen Qualifikation, der Schuld und der Beweiskraft der Erklärungen abschliessend zu klären (vgl. E. 2.2.2). Dies gelte insbesondere in einer "Aussage gegen Aussage"-Konstellation, in der die direkten Kenntnisse des Gerichts von den Erklärungen der Beteiligten für die Urteilsfindung unerlässlich sind (Art. 343 Abs. 3 StPO; BGE 140 IV 196 E. 4.4.3).

Wichtig ist der vom Bundesgericht gegebene Hinweis an die Staatsanwaltschaft: Angesichts der von der kantonalen Instanz hervorgehobenen Zweifel am fehlenden Konsens muss die Staatsanwaltschaft im Rahmen eines allfälligen Antrags auf Verlängerung der Untersuchungshaft darlegen, inwiefern die Verurteilung des Beschwerdeführers angesichts der Ergebnisse der noch durchzuführenden Untersuchungshandlungen als voraussichtlich erscheint.

2.2.3. Weitere Haftgründe

Der Beschwerdeführer bestritt vor dem Bundesgericht weder die von der kantonalen Behörde festgestellte Fluchtgefahr noch das Fehlen von Ersatzmassnahmen, die diese Gefahr abwenden könnten. Folglich hat die Kantonale Beschwerdekammer auch insoweit kein Bundesrecht verletzt, indem sie die Anordnung der Untersuchungshaft bestätigte.

III. Fazit

Das Bundesgericht kam zum Schluss, dass die Beschwerde in Strafsachen abzuweisen ist. Es bejahte die Voraussetzungen für die Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege und bestellte den Anwalt des Beschwerdeführers als Offizialverteidiger.

IV. Zusammenfassung der wesentlichen Punkte
  1. Ausreichende Verdachtsgründe: Das Bundesgericht bejahte das Vorliegen ausreichend schwerwiegender Verdachtsgründe für die Anordnung der Untersuchungshaft wegen Vergewaltigung, obwohl die kantonalen Instanzen "legitime Zweifel" am fehlenden Konsens der Geschädigten eingeräumt hatten.
  2. Evolvierende Intensität der Verdachtsgründe: Die Intensität der notwendigen Verdachtsgründe hängt vom Stadium des Verfahrens ab. Obwohl der Tatzeitpunkt schon länger zurückliegt, war die Verhaftung des Beschwerdeführers erst kürzlich erfolgt und entscheidende Untersuchungshandlungen (namentlich eine Konfrontationseinvernahme) stehen noch aus, was geringere Anforderungen an die Verdichtungsdichte rechtfertigt.
  3. Glaubwürdigkeit und "Aussage gegen Aussage": Die Einwände des Beschwerdeführers gegen die Glaubwürdigkeit der Geschädigten wurden als unzulässige appellatorische Kritik abgewiesen. Das Bundesgericht bestätigte, dass Widersprüche in den Aussagen der Geschädigten durch deren Umstände erklärbar sein können und wies auf Widersprüche in den Aussagen des Beschwerdeführers hin. In "Aussage gegen Aussage"-Konstellationen bedarf es der direkten Beweiswürdigung durch das Sachgericht.
  4. Hinweis an die Staatsanwaltschaft: Für eine allfällige Verlängerung der Untersuchungshaft muss die Staatsanwaltschaft darlegen, inwiefern eine Verurteilung des Beschwerdeführers als "voraussichtlich" erscheint, unter Berücksichtigung der noch zu erhebenden Beweise.
  5. Unbestrittene Fluchtgefahr: Die von der kantonalen Instanz festgestellte Fluchtgefahr wurde vom Beschwerdeführer vor Bundesgericht nicht mehr bestritten und bildet somit einen weiteren, unangefochtenen Haftgrund.