Zusammenfassung von BGer-Urteil 7B_857/2025 vom 17. November 2025

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Das vorliegende Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts (Referenz 7B_857/2025 vom 17. November 2025) befasst sich detailliert mit der Aufrechterhaltung der Sicherheitshaft im Kontext einer bevorstehenden unabhängigen Gerichtsentscheidung, namentlich der Verlängerung einer institutionellen therapeutischen Massnahme gemäss Art. 59 StGB. Der Beschwerdeführer, A.__, focht die Anordnung des Vizepräsidenten der Strafkammer des Kantonsgerichts Neuenburg vom 30. Juli 2025 an, mit der seine Sicherheitshaft bis zum Eintritt der Rechtskraft des kantonalen Urteils verlängert wurde.

I. Sachverhalt

Der Beschwerdeführer, ein 1972 geborener Schweizer Staatsangehöriger, weist ein umfangreiches Strafregister mit sieben Verurteilungen zwischen 1994 und 2018 auf. Zu den schwerwiegendsten Verurteilungen zählen: * 1997: Zwei Jahre Haft wegen sexueller Handlungen mit Kindern, sexueller Nötigung und Vergewaltigung. * 2006: Sechzehn Monate Haft (zugunsten einer Internierung suspendiert) wegen versuchter schwerer Körperverletzung (gewalttätiger Übergriff auf einen Polizisten mit einem Messer), Beschimpfung, Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte. * 2018: 150 Tage Freiheitsstrafe wegen Drohung gegen einen Krankenpfleger und zwei Wärter. Daneben finden sich Verurteilungen wegen einfacher Körperverletzung, Sachbeschädigung, Beschimpfung, Drogenvergehen und weiterer Delikte.

Die ursprünglich im Urteil von 2006 angeordnete Internierung gemäss Art. 64 aStGB (bzw. Art. 64 nStGB) wurde am 16. Oktober 2009 bestätigt. Mit Entscheid vom 22. März 2016 wandelte die Beschwerdeinstanz in Strafsachen des Kantons Neuenburg (ARMP) die Internierung in eine institutionelle therapeutische Massnahme gemäss Art. 59 Abs. 1 und 3 StGB um, die in einer geschlossenen Einrichtung zu vollziehen war. Diese Massnahme wurde am 21. Mai 2021 und erneut am 13. März 2023 um jeweils zwei Jahre verlängert, zuletzt bis zum 22. März 2025.

Kurz vor Ablauf dieser Verlängerung, am 17. März 2025, beantragte das Kriminalgericht Neuenburg beim Zwangsmassnahmengericht (ZMG) die Aufrechterhaltung der Haft des Beschwerdeführers für drei Monate. Dies wurde mit organisatorischen Gründen und der Kürze der verbleibenden Zeit begründet, die eine rechtzeitige Beendigung des Verlängerungsverfahrens vor dem 22. März 2025 verunmöglichte. Das ZMG ordnete daraufhin am 19. März 2025 die Fortführung der therapeutischen Massnahme als Ersatzmassnahme für die Sicherheitshaft bis zum 17. Juni 2025 an.

Am 7. Mai 2025 verlängerte das Kriminalgericht die therapeutische Massnahme um weitere drei Jahre, d.h. bis zum 22. März 2028. Dagegen legte der Beschwerdeführer am 16. Mai 2025 Berufung ein. Während des Berufungsverfahrens ordnete der Vizepräsident der Strafkammer des Kantonsgerichts Neuenburg am 21. Mai 2025 die Fortführung der Sicherheitshaft an. Eine gegen diese Anordnung erhobene Beschwerde des Beschwerdeführers wurde vom Bundesgericht am 15. Juli 2025 (Urteil 7B_559/2025) teilweise gutgeheissen, die Anordnung aufgehoben und die Sache zur Gewährung einer Stellungnahmefrist an die Vorinstanz zurückgewiesen. Nach dieser Rückweisung erliess der Vizepräsident der Strafkammer des Kantonsgerichts Neuenburg am 30. Juli 2025 die erneut angefochtene Anordnung, welche die Sicherheitshaft bis zum Eintritt der Rechtskraft des Berufungsurteils aufrechterhielt.

II. Rechtliche Würdigung des Bundesgerichts

1. Zulässigkeit der Beschwerde Das Bundesgericht trat auf die Beschwerde ein, soweit sie die Aufrechterhaltung der Sicherheitshaft betraf. Eine neue Rüge des Beschwerdeführers, die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Freiheitsentziehung für eine bereits vergangene Periode (21. Mai 2025 bis zum Datum des vorliegenden Urteils), wurde jedoch als unzulässig erachtet (Art. 80 Abs. 1 und 99 Abs. 2 BGG). Dies, weil der Beschwerdeführer diese Rüge nach der Rückweisung durch das Bundesgericht am 15. Juli 2025 nicht vor der kantonalen Vorinstanz geltend gemacht hatte und somit der kantonale Instanzenzug nicht ausgeschöpft war.

2. Voraussetzungen der Sicherheitshaft im Rahmen späterer unabhängiger Gerichtsentscheidungen Das Bundesgericht präzisiert die anwendbaren Bestimmungen der Strafprozessordnung (StPO) für die Sicherheitshaft im Rahmen von Verfahren, die zu späteren unabhängigen Gerichtsentscheidungen führen, wie die Verlängerung therapeutischer Massnahmen (Art. 363 ff. StPO). Gemäss Art. 364a Abs. 1 StPO (in Kraft seit 1. März 2021) kann die zuständige Behörde eine verurteilte Person festnehmen lassen, wenn ernsthafte Gründe für die Annahme bestehen, dass eine freiheitsentziehende Strafe oder Massnahme angeordnet wird (lit. a), und die Person sich deren Vollzug entziehen oder erneut ein Verbrechen oder schweres Vergehen begehen wird (lit. b). Art. 364b Abs. 1 StPO (ebenfalls in Kraft seit 1. März 2021) ermöglicht die Festnahme während des gerichtlichen Verfahrens unter denselben Voraussetzungen.

Entscheidend ist, dass in diesen Fällen kein dringender Tatverdacht im Sinne von Art. 221 Abs. 1 StPO erforderlich ist, da bereits ein rechtskräftiges Verurteilungsurteil vorliegt. Vielmehr muss die Wahrscheinlichkeit der Anordnung einer freiheitsentziehenden Massnahme oder Internierung gegeben sein, und es muss ein spezifischer Haftgrund vorliegen (Art. 364a Abs. 1 lit. a StPO). Der massgebliche Haftgrund in diesem Fall ist die potenzielle Gefährlichkeit des Beschwerdeführers, d.h. die ernsthafte Furcht vor der Begehung neuer schwerer Verbrechen oder Vergehen (Art. 364a Abs. 1 lit. b Ziff. 2 StPO). Das Bundesgericht betont in ständiger Rechtsprechung (u.a. BGE 146 IV 136, 143 IV 9), dass die Anforderungen an das Rückfallrisiko umso geringer sind, je schwerwiegender die befürchteten Taten und deren Auswirkungen auf die Sicherheit sind. Ein ungünstiger Prognosebericht ist hierfür grundsätzlich ausreichend.

3. Prüfung der Wahrscheinlichkeit der Massnahmenverlängerung Der Beschwerdeführer machte geltend, die Massnahme sei wahrscheinlich zum Scheitern verurteilt und werde im Berufungsverfahren aufgehoben. Das Bundesgericht wies dies zurück. Es hielt fest, die Vorinstanz habe ohne Willkür angenommen, dass die Anordnung bzw. Verlängerung einer Massnahme gemäss Art. 59 StGB nicht nur nicht ausgeschlossen, sondern vielmehr ausreichend wahrscheinlich sei. Diese Einschätzung stützte sich auf die zahlreichen Vorstrafen des Beschwerdeführers und die Ablehnung eines Antrags auf bedingte Entlassung durch das Amt für Straf- und Massnahmenvollzug Neuenburg (OESP) aufgrund einer ungünstigen Zukunftsprognose. Diese Prognose basierte auf einem psychiatrischen Gutachten von Prof. B.__ vom 17. Februar 2021.

Das Bundesgericht rügte die Beschwerdebegründung als eine partielle und eigenwillige Interpretation des Gutachtens. Es stellte klar, dass die vom Beschwerdeführer angeführten Punkte – wie die angeblich illusorischen Aussichten auf psychische Besserung oder die Verschlechterung des psychischen Zustands durch fortgesetzte Haft – aus dem Kontext gerissen seien. Das Gutachten habe vielmehr festgehalten, dass es verfrüht sei, von einem Scheitern der Massnahme zu sprechen, und die Bedingungen für deren Fortsetzung immer noch erfüllt schienen. Ein klares therapeutisches Konzept mit einer sehr schrittweisen Öffnung verdiene es, in Betracht gezogen zu werden, bevor ein definitives Scheitern der therapeutischen Massnahme angenommen werde. Die Erfolgsaussichten würden zwar begrenzt erscheinen, seien aber nicht ausgeschöpft. Auch die Entwicklung eines Ausstiegsplans ändere nichts an der Wahrscheinlichkeit der Massnahmenverlängerung. Die Tatsache, dass das Kriminalgericht die Massnahme bereits um drei Jahre verlängert habe, bestätige zudem die Wahrscheinlichkeit für die Zwecke der Sicherheitshaft.

4. Prüfung der Rückfallgefahr Der Beschwerdeführer bestritt das Vorliegen einer Rückfallgefahr. Das Bundesgericht bestätigte die Einschätzung der Vorinstanz, wonach der Beschwerdeführer weiterhin ein erhebliches Rückfallrisiko darstelle. Die Vorinstanz stützte sich dabei auf die umfangreiche Vorstrafengeschichte, die einschliesslich des gewaltsamen Übergriffs auf einen Polizisten und der Drohungen gegen Anstaltspersonal Delikte gegen die körperliche Integrität und die Autorität umfasste, sowie insbesondere auf die Verurteilung wegen sexueller Handlungen mit Kindern und Vergewaltigung.

Gemäss Gutachten von Prof. B.__ leidet der Beschwerdeführer an einer gemischten Persönlichkeitsstörung mit paranoiden und dissozialen Zügen sowie schizotypischen Störungen. Diese Störungen seien als schwerwiegend und chronisch einzustufen und stünden in Zusammenhang mit den Taten von 2006. Der Gutachter habe das globale Rückfallrisiko für ähnliche Taten als hoch eingestuft. Für die Sexualdelikte sei das Risiko als mässig bis hoch bewertet worden. Das Bundesgericht wies auch hier die appellatorische Kritik des Beschwerdeführers am Gutachten zurück. Es betonte, dass die im Gutachten festgestellten schweren und chronischen Beeinträchtigungen sowie die Aussage, eine unvorbereitete Freilassung könnte seinen psychischen Zustand verschlimmern und illegale Handlungen begünstigen, relevant seien. Des Weiteren sei hervorzuheben, dass der Beschwerdeführer, während er sich bereits in der therapeutischen Massnahme befand, zu 150 Tagen Freiheitsstrafe verurteilt wurde, weil er einen Krankenpfleger und zwei Wärter mit dem Tod bedroht hatte. Angesichts der betroffenen Rechtsgüter, der zahlreichen Vorstrafen und der ungünstigen Prognose sei die Annahme einer Rückfallgefahr im Sinne von Art. 364a Abs. 1 lit. b Ziff. 2 StPO nicht willkürlich oder bundesrechtswidrig.

5. Prüfung der Verhältnismässigkeit Schliesslich rügte der Beschwerdeführer eine Verletzung des Verhältnismässigkeitsprinzips. Das Bundesgericht bestätigte die Verhältnismässigkeit der Sicherheitshaft. Angesichts der Wahrscheinlichkeit einer Massnahmenverlängerung um drei Jahre und der Tatsache, dass das Berufungsurteil kurzfristig erwartet werde, sei die Dauer der Haft angemessen. Das Gutachten habe zudem klar dargelegt, dass nur eine Behandlung im institutionellen Rahmen das erhebliche Rückfallrisiko des Beschwerdeführers eindämmen könne, um wichtige Rechtsgüter wie die körperliche Integrität oder das Leben von Polizeibeamten sowie die sexuelle Integrität von sehr jungen Mädchen zu schützen.

Die vom Beschwerdeführer vorgeschlagenen milderen Ersatzmassnahmen, wie ein Platz in einer offenen Einrichtung oder eine ambulante therapeutische Behandlung, seien angesichts der Art der bedrohten Rechtsgüter und des hohen Rückfallrisikos nicht geeignet, den gleichen Zweck zu erfüllen. Die Vorinstanz habe daher ohne Willkür das Eingehen auf solche Alternativen abgelehnt.

III. Fazit des Bundesgerichts

Das Bundesgericht erachtete die Argumentation der Vorinstanz, die Sicherheitshaft des Beschwerdeführers bis zum Eintritt der Rechtskraft des Urteils der Strafkammer aufrechtzuerhalten, als bundesrechtskonform und nicht willkürlich. Die Beschwerde wurde abgewiesen, soweit darauf eingetreten werden konnte. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wurde gutgeheissen.

Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:

Das Bundesgericht bestätigte die Aufrechterhaltung der Sicherheitshaft für A.__ im Hinblick auf die Berufungsentscheidung über die Verlängerung seiner institutionellen therapeutischen Massnahme. Es befand, dass die Wahrscheinlichkeit der Massnahmenverlängerung und eine erhebliche Rückfallgefahr – begründet durch zahlreiche, auch gravierende Vorstrafen (u.a. Sexualdelikte, Gewalt gegen Beamte) und ein ungünstiges psychiatrisches Gutachten – gegeben waren. Die vom Beschwerdeführer erhobenen Rügen der willkürlichen Sachverhaltsfeststellung und der Verletzung des Verhältnismässigkeitsprinzips wurden zurückgewiesen, da seine Argumente als appellatorisch oder als partielle Lektüre des Gutachtens gewertet wurden und die vorgeschlagenen milderen Massnahmen das hohe Rückfallrisiko nicht adäquat abfangen könnten. Die Haft wurde als verhältnismässig erachtet, da das Berufungsurteil über die dreijährige Massnahmenverlängerung kurzfristig erwartet wurde. Eine Rüge betreffend die Rechtswidrigkeit der Haft für eine vergangene Periode wurde aus prozessualen Gründen nicht behandelt.