Detaillierte Zusammenfassung des Urteils des Schweizerischen Bundesgerichts 7B_1388/2024 vom 29. Oktober 2025
1. Einführung und Streitgegenstand
Das vorliegende Urteil des Bundesgerichts befasst sich mit der Frage der Anwendbarkeit eines Sicherheitsabzugs auf Messwerte von Atemalkoholgeräten (Ethylometern) im Rahmen von Strassenverkehrskontrollen. Es ging um die Verurteilung eines Fahrzeuglenkers wegen Fahrens in angetrunkenem Zustand mit qualifizierter Atemalkoholkonzentration. Die massgebende Rechtsfrage war, ob Art. 20 der Verordnung des ASTRA über die Verkehrskontrollverordnung (VVKS-ASTRA), welcher explizit die Nichtanwendung eines Sicherheitsabzugs auf Atemalkoholmesswerte vorsieht, rechtmässig ist oder ob – wie von der Vorinstanz angenommen – ein solcher Abzug vorgenommen werden muss.
2. Sachverhalt und Verfahrensgang
A.__ (der Intimierte) wurde am 2. Juli 2022 von der Polizei kontrolliert, wobei ein Atemalkoholtest mit einem Ethylometer eine Konzentration von 0,41 mg/l ergab.
- Erste Instanz (Tribunal de police): Verurteilte A.__ wegen qualifizierter Trunkenheit (Art. 31 Abs. 2 i.V.m. Art. 91 Abs. 2 Bst. a des Strassenverkehrsgesetzes, SVG) zu einer bedingten Geldstrafe und einer zusätzlichen Busse. Die Schwelle für qualifizierte Trunkenheit liegt bei 0,40 mg/l Atemalkohol. Der gemessene Wert von 0,41 mg/l überschritt diese Schwelle somit.
- Zweite Instanz (Cour pénale des Tribunal cantonal de Neuchâtel): Gab der Berufung des Intimierten statt. Die Cour pénale reformierte das Urteil dahingehend, dass A.__ lediglich wegen einfacher Trunkenheit (Art. 91 Abs. 1 Bst. a SVG) verurteilt wurde, was zu einer tieferen Busse führte.
- Begründung der Cour pénale: Sie lehnte die Anwendung von Art. 20 VVKS-ASTRA ab, der besagt, dass auf die angezeigten Werte von Ethylometern kein Sicherheitsabzug vorgenommen wird ("aucune déduction ne sera appliquée"). Die Vorinstanz vertrat die Auffassung, dem Bundesrat bzw. dem ASTRA fehle die Kompetenz, eine Bestimmung zu erlassen, die eine unwiderlegbare Vermutung der Richtigkeit von Atemalkoholmesswerten festlege und damit die Anwendung eines Sicherheitsabzugs ausschliesse. Sie interpretierte die Delegationsnormen (insbesondere Art. 55 Abs. 7 Bst. b SVG) restriktiv und kam zum Schluss, diese umfassten zwar die Regelung der "Verfahrensmodalitäten" der Messung, nicht aber die "Interpretation" der Ergebnisse oder die Frage eines Sicherheitsabzugs. Infolgedessen nahm die Cour pénale einen Sicherheitsabzug von 7,5% auf den gemessenen Wert von 0,41 mg/l vor, was zu einem Wert von 0,37925 mg/l führte – und somit unterhalb der qualifizierten Schwelle von 0,40 mg/l lag.
- Beschwerde an das Bundesgericht: Das Ministère public (Staatsanwaltschaft) des Kantons Neuenburg reichte Beschwerde beim Bundesgericht ein und beantragte die Aufhebung des kantonalen Urteils und die Verurteilung des Intimierten wegen qualifizierter Trunkenheit ohne Sicherheitsabzug.
3. Massgebende Rechtsgrundlagen und frühere Rechtsprechung
Das Bundesgericht prüfte die Angelegenheit im Lichte verschiedener Bestimmungen:
- Art. 91 Abs. 1 Bst. a SVG: Ahndet einfaches Fahren in angetrunkenem Zustand.
- Art. 91 Abs. 2 Bst. a SVG: Ahndet qualifiziertes Fahren in angetrunkenem Zustand (ab 0,8 Promille Blutalkohol oder 0,40 mg/l Atemalkohol).
- Art. 55 Abs. 3bis SVG: Seit 1. Oktober 2016 verleiht diese Bestimmung der Feststellung der Trunkenheit mittels Atemalkoholmessung Beweiskraft und beendete das System der "Blutprobenprimat", sofern Art. 55 Abs. 6bis SVG nicht anwendbar ist.
- Art. 55 Abs. 6 Bst. a und b SVG: Delegiert der Bundesversammlung die Kompetenz, die Grenzwerte für Atem- und Blutalkohol festzulegen, ab denen Fahruntauglichkeit (einfach und qualifiziert) vermutet wird, und zwar "unabhängig von jedem anderen Beweis und vom Grad der individuellen Alkoholtoleranz".
- Art. 55 Abs. 7 Bst. b SVG: Delegiert dem Bundesrat die Kompetenz, "Vorschriften über die Voruntersuchungen [...], das Vorgehen bei der Atemalkohol- und der Blutprobe, die Auswertung dieser Proben und die zusätzliche ärztliche Untersuchung der Fahrunfähigkeit verdächtigten Person" zu erlassen.
- Art. 106 Abs. 1 SVG: Ermächtigt den Bundesrat zum Erlass von Ausführungsvorschriften und kann das ASTRA zur Regelung von Einzelheiten ermächtigen.
- Art. 1 und 2 der Verordnung der Bundesversammlung über die zugelassenen Alkoholgrenzwerte im Strassenverkehr: Legt die Grenzwerte von 0,25 mg/l für einfache und 0,40 mg/l für qualifizierte Trunkenheit fest. Die Entstehungsgeschichte dieser Verordnung (Message Via sicura) zeigt, dass der verwendete Umrechnungsfaktor von 2000 (anstatt 2300) zwischen Blut- und Atemalkohol bereits eine Sicherheitsmarge zugunsten des Lenkers enthält, um eine ungerechte Verurteilung zu vermeiden.
- Art. 9 Abs. 2 Bst. b der Verkehrskontrollverordnung (VKS): Ermächtigt das ASTRA, "die Anforderungen an die Messsysteme und Messarten sowie die technisch bedingten Sicherheitsabzüge" festzulegen.
- Art. 11a Abs. 4 VKS: Ermächtigt das ASTRA, die "Handhabung" von Ethylometern zu regeln.
- Art. 20 VVKS-ASTRA: Bestimmt: "Keine Abzüge auf die angezeigten Werte von Vortest- und Messgeräten."
- Art. 11 AAMessMV (Atemalkoholmessmittelverordnung): Legt die "maximal zulässigen Fehler" für Ethylometer bei der Geräteprüfung fest (z.B. 0,03 mg/l für Konzentrationen ≤ 0,40 mg/l oder 7,5% für > 0,40 mg/l). Dies sind jedoch keine Abzüge, die auf jeden Messwert angewendet werden, sondern Fehlertoleranzen für die Eichung und Wartung der Geräte.
- Bundesgerichtliche Rechtsprechung: Das Bundesgericht hatte bereits festgehalten, dass zusätzliche Abzüge auf die in der Verordnung der Bundesversammlung festgelegten Grenzwerte unzulässig sind, da diese Grenzwerte bereits eine Reduktion (von 0,05 mg/l oder 0,1 Promille) beinhalten (BGE 147 IV 439 E. 3.3.2; BGer 6B_404/2022 vom 2. August 2023 E. 4.3.2).
4. Detaillierte Begründung des Bundesgerichts
Das Bundesgericht kam zum Schluss, dass die Argumentation der Vorinstanz nicht stichhaltig sei und Bundesrecht verletze.
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Kompetenzdelegation (Art. 55 Abs. 7 Bst. b SVG, Art. 106 Abs. 1 SVG, VKS-Bestimmungen):
- Wörtliche Auslegung: Die Formulierung "Vorschriften über ... das Vorgehen bei der Atemalkoholprobe" (Art. 55 Abs. 7 Bst. b SVG) ist weit genug gefasst, um auch die "Anwendung" der Geräte zu umfassen. Die "Anwendung" wiederum impliziert, wie die Messergebnisse zu lesen, zu verstehen und zu bewerten sind, einschliesslich der Frage der Zuverlässigkeit. Ohne solche Anweisungen wäre die Durchführung der Kontrollen und die Bestimmung der weiteren Schritte kaum praktikabel. Art. 9 Abs. 2 Bst. b VKS ermächtigt das ASTRA zudem ausdrücklich zur Festlegung "technisch bedingter Sicherheitsabzüge".
- Historische und teleologische Auslegung: Die Gesetzesgeschichte (insbesondere die Botschaft zur SVG-Änderung von 1999 und die Botschaft Via sicura) zeigt den Willen des Gesetzgebers, die Verordnungsgeber (Bundesrat, ASTRA) zu ermächtigen, auf den raschen technischen Fortschritt bei Messmitteln reagieren zu können. Die Einführung des Ethylometers als vollwertiges Beweismittel im Rahmen von Via sicura zielt darauf ab, die Verkehrssicherheit zu erhöhen. Eine präzise Regelung zur Interpretation der Messwerte, einschliesslich der Frage von Sicherheitsabzügen, ist für die effektive Umsetzung dieser Ziele unerlässlich.
- Systematische Auslegung: Die Systematik der OOCCR-OFROU zeigt, dass das ASTRA bei anderen Messgeräten (Geschwindigkeit, Gewicht, Dimensionen) sehr wohl spezifische Sicherheitsabzüge festlegt (Art. 8, 13, 16 OOCCR-OFROU). Dies belegt, dass die Festlegung (oder Nicht-Festlegung) eines Sicherheitsabzugs eine Modalität zur korrekten Nutzung eines technischen Geräts darstellt und im Kompetenzbereich des ASTRA liegt. Die Entscheidung, bei Ethylometern keinen generellen Abzug vorzusehen, ist somit eine bewusste und begründete Wahl im Rahmen der delegierten Kompetenz, nicht ein Kompetenzüberschritt.
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Zuverlässigkeit der Messung und Schutz des Beschuldigten:
- Kein Verstoss gegen in dubio pro reo: Die Nichtanwendung eines pauschalen Sicherheitsabzugs ist weder unhaltbar noch widerspricht sie dem Grundsatz "in dubio pro reo". Das Bundesgericht verweist auf seine frühere Rechtsprechung (BGer 6B_404/2022), wonach Gerichte die gesetzlich festgelegten Grenzwerte nicht durch zusätzliche Abzüge relativieren dürfen, da die Verordnung der Bundesversammlung bereits einen Sicherheitsabzug (durch den bewusst zugunsten des Lenkers gewählten Umrechnungsfaktor von 2000 und eine Reduktion von 0,05 mg/l oder 0,1 Promille bei der Festlegung der Grenzwerte) berücksichtigt.
- Technische Zuverlässigkeit: Die technische Zuverlässigkeit der Ethylometer wird durch ein umfassendes System von Verordnungen (OIMes, AAMessMV) und durch die Zusammenarbeit mit dem Eidgenössischen Institut für Metrologie (METAS) gewährleistet. METAS ist für die Zulassung, Eichung und Überwachung der Geräte zuständig. Die "maximal zulässigen Fehler" (Art. 11 AAMessMV) beziehen sich auf die Kalibrierung und Überprüfung der Geräte, nicht auf eine pauschale Reduktion jedes einzelnen Messwerts.
- Rechte des Beschuldigten: Der Beschuldigte ist nicht schutzlos. Er hat das Recht, eine Blutprobe zu verlangen (Art. 55 Abs. 3 Bst. c SVG, Art. 12 Abs. 1 Bst. d VKS), eine Möglichkeit, auf die der Intimierte in diesem Fall verzichtet hatte. Zudem kann er im Rahmen eines Verfahrens die Richtigkeit einer Messung anfechten, woraufhin die Einhaltung der gesetzlichen Vorschriften für die Messmittel geprüft wird (Art. 29 Abs. 1 MessMV).
5. Ergebnis und Rückweisung
Das Bundesgericht kommt zum Schluss, dass eine ausreichende gesetzliche Grundlage besteht, die es dem Bundesrat bzw. dem ASTRA erlaubt, die Vorschriften für die Verwendung von Ethylometern festzulegen. Die Prüfung und Entscheidung über die Anwendbarkeit (oder Nicht-Anwendbarkeit) eines Sicherheitsabzugs ist eine dieser Modalitäten für die korrekte Verwendung der Geräte. Indem die Cour pénale dies verneinte und Art. 20 VVKS-ASTRA nicht anwendete, hat sie Bundesrecht verletzt.
Das Bundesgericht hiess die Beschwerde gut, hob das Urteil der Cour pénale vom 8. Juli 2024 auf und wies die Sache zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurück. Die Vorinstanz muss nun den gemessenen Wert von 0,41 mg/l ohne Sicherheitsabzug zugrunde legen, was zur Verurteilung wegen qualifizierter Trunkenheit führt, und entsprechend über die Strafe sowie die Kosten und Entschädigungen neu entscheiden.
6. Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte
- Ablehnung eines pauschalen Sicherheitsabzugs: Das Bundesgericht bestätigt die Gültigkeit von Art. 20 VVKS-ASTRA, der einen pauschalen Sicherheitsabzug auf Atemalkoholmesswerte ausschliesst.
- Kompetenz des ASTRA: Es besteht eine ausreichende Kompetenzdelegation an den Bundesrat und das ASTRA, um detaillierte Vorschriften zur Verwendung von Ethylometern und zur Frage von Sicherheitsabzügen zu erlassen.
- Zuverlässigkeit der Messung: Die modernen Ethylometer gelten aufgrund technischer Standards und regelmässiger Eichungen als hinreichend zuverlässig.
- Berücksichtigter Sicherheitsfaktor: Die in der Verordnung der Bundesversammlung festgelegten Grenzwerte für Atemalkohol enthalten bereits einen Sicherheitsfaktor zugunsten des Lenkers. Zusätzliche Abzüge sind daher nicht vorgesehen.
- Rechte des Beschuldigten: Das Recht auf eine Blutprobe und die Möglichkeit, die Messung technisch anzufechten, schützen den Beschuldigten ausreichend.
- Konsequenz: Der gemessene Wert von 0,41 mg/l ist ohne Abzug massgeblich, was zur Verurteilung wegen qualifizierter Trunkenheit führt.