Zusammenfassung von BGer-Urteil 7B_1386/2024 vom 29. Oktober 2025

Es handelt sich um ein experimentelles Feature. Es besteht keine Gewähr für die Richtigkeit der Zusammenfassung.

Gerne fasse ich das bereitgestellte Urteil des schweizerischen Bundesgerichts (7B_1386/2024 vom 29. Oktober 2025) detailliert zusammen:

Parteien und Gegenstand: Das Verfahren betrifft ein Rechtsmittel des Ministère public de la République et canton de Neuchâtel (Beschwerdeführer) gegen ein Urteil der Cour pénale du Tribunal cantonal de la République et canton de Neuchâtel (Vorinstanz). Gegenstand ist eine Verurteilung wegen Fahrens in qualifiziertem Alkoholzustand und der Widerruf eines bedingten Strafvollzugs.

Sachverhalt: A.__ (Intimierter), geboren 1954, wurde bereits am 4. Februar 2014 wegen Fahrens in qualifiziertem Alkoholzustand (Art. 91 Abs. 1 Ziff. 2 aLCR) und am 10. August 2021 wegen qualifizierter Fahrunfähigkeit (Art. 91 Abs. 2 lit. a LCR, 0.58 mg/l Atemalkohol) verurteilt. Letztere Verurteilung erfolgte zu einer Geldstrafe von 25 Tagessätzen à 30 Fr. mit einem bedingten Vollzug von vier Jahren.

Am 13. Dezember 2021 wurde der Intimierte von der Polizei angehalten, nachdem er trotz "Stop police"-Signal nicht angehalten hatte. Atemalkoholtests vor Ort ergaben Werte von 0.53 mg/l und 0.49 mg/l. Eine spätere Kontrolle mit einem Éthylomètre auf dem Polizeiposten (um 22:16 Uhr) zeigte einen Wert von 0.43 mg/l Atemalkohol an. Eine Blutprobe wurde nicht angeordnet, der Intimierte unterzeichnete das Éthylomètre-Protokoll. Seine spätere Einwendung, er habe seinen Mund vor den Tests nicht spülen können, wurde von der Polizei als nicht relevant beurteilt, da die internen Protokolle und die Gebrauchsanweisungen der Geräte ein Mundspülen untersagen.

Bisheriger Instanzenzug: 1. Tribunal de police: Verurteilte A._ wegen Übertretungen gemäss Art. 27 und Art. 91 Abs. 2 lit. a LCR (qualifizierter Alkoholzustand) zu einer unbedingten Geldstrafe von 30 Tagessätzen à 95 Fr. und einer Busse von 200 Fr. Gleichzeitig widerrief es den am 10. August 2021 gewährten bedingten Vollzug der Geldstrafe von 25 Tagessätzen. 2. Cour pénale du Tribunal cantonal (Vorinstanz): Hiess die Berufung von A._ teilweise gut. Sie sprach ihn vom Vorwurf des Fahrens in qualifiziertem Alkoholzustand (Art. 91 Abs. 2 lit. a LCR) frei und verurteilte ihn lediglich wegen Übertretungen gemäss Art. 27 Abs. 1 i.V.m. Art. 90 Abs. 1 LCR sowie Art. 91 Abs. 1 lit. a LCR (einfache Trunkenheit). Die Strafe wurde auf eine Busse von 1'000 Fr. reduziert. Folglich wurde der Widerruf des bedingten Vollzugs nicht aufrechterhalten. Die Vorinstanz begründete dies damit, dass Art. 20 der Verordnung des ASTRA über die Kontrolle des Strassenverkehrs (OOCCR-OFROU), welche keinen Sicherheitsabzug auf Éthylomètre-Werte vorsieht, mangels Kompetenz des ASTRA bzw. des Bundesrates für die Festlegung solcher Regeln nicht anwendbar sei. Sie wandte stattdessen einen pauschalen Sicherheitsabzug von 7.5% auf den gemessenen Wert von 0.43 mg/l an, was zu einem Wert von 0.397 mg/l führte. Dieser liegt unter dem Grenzwert für qualifizierten Alkoholzustand (0.40 mg/l).

Streitpunkt vor Bundesgericht: Der Beschwerdeführer rügt im Wesentlichen, die Vorinstanz habe Art. 20 OOCCR-OFROU zu Unrecht für unanwendbar erklärt und damit bundesrechtswidrig einen Sicherheitsabzug von 7.5% vorgenommen. Dies führte zur Herabstufung der Tat von einem qualifizierten Alkoholzustand (Art. 91 Abs. 2 lit. a LCR) zu einer einfachen Trunkenheit (Art. 91 Abs. 1 lit. a LCR) und zur Nicht-Widerrufung des bedingten Vollzugs.

Rechtliche Erwägungen des Bundesgerichts:

  1. Prüfungsbefugnis bei Verordnungen (Erw. 3.2): Das Bundesgericht kann die Rechtmässigkeit und Verfassungsmässigkeit von Verordnungen des Bundesrates oder gestützt auf eine Delegationsnorm des ASTRA vorfrageweise prüfen. Es untersucht, ob die Verordnung innerhalb der vom Gesetz dem Bundesrat übertragenen Befugnisse bleibt. Bei unpräziser Delegation prüft es, ob die Verordnung den Rahmen der Kompetenzdelegation offensichtlich überschreitet.

  2. Rechtliche Grundlagen (Erw. 3.3, 3.4):

    • LCR (Erw. 3.3.1, 3.3.2): Art. 91 Abs. 1 lit. a LCR ahndet Fahren in einfachem Alkoholzustand mit Busse, während Art. 91 Abs. 2 lit. a LCR den qualifizierten Alkoholzustand mit Freiheitsstrafe oder Geldstrafe bestraft. Art. 55 Abs. 6 lit. b LCR delegiert an die Bundesversammlung, die qualifizierten Blut- und Atemalkoholwerte festzulegen. Art. 55 Abs. 7 lit. b LCR delegiert an den Bundesrat, Vorschriften über Voruntersuchungen, das Vorgehen bei Atemalkohol- und Blutproben sowie die Auswertung zu erlassen. Seit dem 1. Oktober 2016 verleiht Art. 55 Abs. 3bis LCR dem Éthylomètre-Ergebnis Beweiskraft und beendete das Primat der Blutprobe.
    • LCR (Erw. 3.3.3): Art. 106 Abs. 1 Satz 2 LCR erlaubt dem Bundesrat, das ASTRA zur Regelung von Einzelheiten zu ermächtigen. Dies umfasst auch normative Regeln, um der raschen technischen Entwicklung Rechnung zu tragen.
    • Verordnung der Bundesversammlung (Erw. 3.4.1): Gemäss Art. 2 lit. b der Verordnung der Bundesversammlung über die zugelassenen Alkoholgrenzwerte (RS 741.13) gilt ein Atemalkoholwert von 0.4 mg/l oder mehr als qualifiziert. Die Botschaft Via sicura (Erw. 3.4.1.2) weist darauf hin, dass der gewählte Umrechnungsfaktor von 2000 (Atem zu Blut) bereits eine Sicherheitsmarge zugunsten der Betroffenen darstellt.
    • Verordnung des Bundesrates (OCCR, Erw. 3.4.2): Art. 9 Abs. 2 lit. b OCCR ermächtigt das ASTRA, die Anforderungen an Messsysteme und Messarten sowie die technisch bedingten Sicherheitsabzüge festzulegen. Art. 11a Abs. 4 OCCR beauftragt das ASTRA mit der Regelung der Handhabung von Éthylometern.
    • Verordnung des ASTRA (OOCCR-OFROU, Erw. 3.4.3): Art. 20 OOCCR-OFROU hält fest, dass kein Abzug auf die von Atemalkohol- und Alkoholmessgeräten angezeigten Werte angewendet wird. Die Kommentare des ASTRA (Erw. 3.4.3.2) bestätigen, dass der Gesetzgeber bereits eine Sicherheitsmarge bei der Festlegung der Grenzwerte (Umrechnungsfaktor 2000) berücksichtigt hat.
    • Messgeräteverordnungen (OIMes, OIAA, Erw. 3.4.4): Diese regeln die Eichung und Kontrolle der Geräte. Art. 11 OIAA verweist auf Anhang 3 OIAA, Ziff. 4, welcher maximale Toleranzfehler bei Kontrollen (z.B. 7.5% für Werte >0.40 mg/l) festlegt, die jedoch der metrologischen Überprüfung der Geräte dienen und nicht als pauschaler Abzug für gemessene Werte zu verstehen sind. Zudem sieht die referenzierte OIML R 126 (Erw. 3.4.4.2) eine Abrundung nach unten auf zwei Dezimalstellen vor, was eine geringfügige Sicherheitsmarge darstellt.
  3. Widerlegung der Argumentation der Vorinstanz (Erw. 3.6):

    • Das Bundesgericht hält fest, dass die Argumentation der Vorinstanz, die Kompetenz des ASTRA/Bundesrates reiche nicht aus, um Art. 20 OOCCR-OFROU zu erlassen, nicht tragfähig ist.
    • Kompetenz (Erw. 3.6.1): Art. 55 Abs. 7 lit. b LCR ("Verwendung" der Alcotests) in Verbindung mit Art. 106 Abs. 1 Satz 2 LCR und Art. 9 Abs. 2 lit. b OCCR (Explizite Befugnis zur Festlegung technisch bedingter Sicherheitsabzüge) bilden eine ausreichende Rechtsgrundlage. Die "Handhabung" eines Gerätes umfasst auch die Art und Weise, wie die angezeigten Ergebnisse zu lesen und zu verstehen sind, insbesondere hinsichtlich ihrer Zuverlässigkeit. Die Vorinstanz hat die Delegationsnormen zu eng ausgelegt.
    • Teleologie (Erw. 3.6.2): Diese Auslegung steht im Einklang mit dem Willen des Gesetzgebers, der eine rasche Anpassung an technische Fortschritte durch den Verordnungsgeber ermöglichen wollte.
    • Systematik (Erw. 3.6.3): Die OOCCR-OFROU regelt Sicherheitsabzüge für verschiedene Messgeräte; es ist konsistent, dass für Éthylometer eine solche Festlegung (auch Null) getroffen wird.
    • In dubio pro reo und Zuverlässigkeit der Messung (Erw. 3.6.4): Die Abwesenheit eines zusätzlichen pauschalen Sicherheitsabzugs ist weder unhaltbar noch verletzt sie den Grundsatz "in dubio pro reo".
      • Der Bundesgesetzgeber hat bereits bei der Festlegung der qualifizierten Atemalkoholwerte einen Sicherheitsabzug von 0.05 g/l durch den Umrechnungsfaktor 2000 berücksichtigt (BGE 6B_404/2022). Gerichte dürfen daher keine weiteren Abzüge vornehmen.
      • Die enge Zusammenarbeit des ASTRA mit dem Eidgenössischen Institut für Metrologie (METAS) bei der Erarbeitung der OOCCR-OFROU sowie die umfassenden Eich- und Kontrollverfahren gemäss OIMes und OIAA gewährleisten die technische Zuverlässigkeit der Éthylometer.
      • Die Rechte des Kontrollierten sind gewahrt: Er kann eine Blutprobe verlangen (Art. 55 Abs. 3 lit. c LCR). Bei Anfechtung der Messung wird die Einhaltung der Vorschriften, inkl. maximaler Toleranzfehler, geprüft (Art. 29 Abs. 1 OIMes).
      • Die Abrundung der Messwerte nach unten (z.B. 0.427 mg/l auf 0.42 mg/l) gemäss OIML R 126, auf die die OIAA verweist, stellt eine weitere, wenn auch geringfügige, Sicherheitsmarge dar.
    • Fazit zur Kompetenz (Erw. 3.6.5): Es besteht eine ausreichende Rechtsgrundlage für den Bundesrat bzw. das ASTRA, Vorschriften zur Verwendung von Éthylometern zu erlassen, einschliesslich der Frage eines Sicherheitsabzugs. Die Vorinstanz hat mit ihrer gegenteiligen Ansicht Bundesrecht verletzt.

Entscheid des Bundesgerichts: Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut. Das Urteil der Cour pénale du Tribunal cantonal vom 21. Mai 2024 wird aufgehoben und die Sache zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen. Die Vorinstanz muss eine neue Entscheidung über die Verurteilung wegen Fahrens in qualifiziertem Alkoholzustand (Art. 91 Abs. 2 lit. a LCR), das Strafmass und den Widerruf des am 10. August 2021 gewährten bedingten Vollzugs treffen.

Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:

Das Bundesgericht hat entschieden, dass die Bestimmung des ASTRA (Art. 20 OOCCR-OFROU), wonach kein Sicherheitsabzug auf Éthylomètre-Messwerte angewendet wird, eine gültige Rechtsgrundlage besitzt. Es verneinte die Argumentation der Vorinstanz, dem ASTRA fehle die Kompetenz zum Erlass einer solchen Regelung. Das Gericht betonte, dass der Gesetzgeber bereits im qualifizierten Atemalkoholgrenzwert (0.4 mg/l) eine Sicherheitsmarge (Umrechnungsfaktor 2000) berücksichtigt hat und die technische Zuverlässigkeit der Geräte durch Eich- und Kontrollvorschriften gewährleistet ist. Eine weitere gerichtliche Abzugspraxis ist daher unzulässig. Der gemessene Wert von 0.43 mg/l ist somit als qualifizierter Alkoholzustand zu werten, was die Vorinstanz bei der Neuberechnung des Strafmasses und der Prüfung des Widerrufs des bedingten Vollzugs berücksichtigen muss.