Zusammenfassung von BGer-Urteil 2C_6/2025 vom 20. Oktober 2025

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Detaillierte Zusammenfassung des Urteils des Schweizerischen Bundesgerichts (2C_6/2025 vom 20. Oktober 2025) I. Parteien und Streitgegenstand

Der Beschwerdeführer, A.__, ein 1996 in der Schweiz geborener kosovarischer Staatsangehöriger mit Niederlassungsbewilligung, wehrt sich gegen den Widerruf seiner Niederlassungsbewilligung. Er ist ledig, kinderlos und hat gemäss eigenen Angaben Schulden von über CHF 100'000.--.

II. Sachverhalt und Vorinstanzlicher Verfahrensgang

A._ wurde mehrfach straffällig: * 1. Dezember 2016 (Bezirksgericht Winterthur): Verurteilung zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 60 Monaten und einer Busse von CHF 500.-- wegen schwerer Körperverletzung, versuchter schwerer Körperverletzung, Raufhandels, mehrfacher versuchter Nötigung, mehrfachen Vergehens gegen das Waffengesetz, Widerhandlungen gegen das Betäubungsmittelgesetz sowie Tätlichkeiten. Die Delikte wurden vor dem 1. Oktober 2016 begangen. Der Vollzug der Freiheitsstrafe wurde zugunsten einer Massnahme für junge Erwachsene nach Art. 61 StGB aufgeschoben. A._ wurde im Februar 2017 in ein Massnahmenzentrum eingewiesen und am 15. Oktober 2021 bedingt entlassen. * 18. Juli 2022 (Bezirksgericht Zürich): Verurteilung zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von sieben Monaten und fünf Tagen sowie einer Busse von CHF 600.-- wegen Drohung, mehrfachen Fahrens ohne Berechtigung, Gewaltdarstellung und mehrfacher Tätlichkeiten (Delikte aus dem Jahr 2019). Das Gericht sah von einer Landesverweisung ab. Im Berufungsverfahren reduzierte das Obergericht Zürich (10. April 2024) die Strafe auf drei Monate und 20 Tage unbedingt. * 3./4. Juli 2024 (Kreisgericht Wil): Verurteilung zu drei Jahren unbedingter Freiheitsstrafe und einer Landesverweisung von acht Jahren wegen versuchter schwerer Körperverletzung. Dieses Urteil wurde vom Kantonsgericht St. Gallen (1. Mai 2025) im Wesentlichen bestätigt, die Landesverweisung jedoch auf fünf Jahre reduziert. Gegen dieses Urteil wurde Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht erhoben, es ist daher nicht rechtskräftig. Seit dem 31. Oktober 2022 befindet sich A.__ im vorzeitigen Strafvollzug.

Das Migrationsamt des Kantons St. Gallen widerrief die Niederlassungsbewilligung bereits am 20. August 2018. Der Rekurs des Beschwerdeführers wurde vom Sicherheits- und Justizdepartement des Kantons St. Gallen (SJD) am 1. Juli 2019 sistiert, um den Verlauf der Massnahme nach Art. 61 StGB abzuwarten. Am 13. Juli 2023 nahm das SJD das Verfahren wieder auf und wies den Rekurs am 25. März 2024 ab. Das Verwaltungsgericht des Kantons St. Gallen bestätigte diesen Entscheid am 14. November 2024.

III. Bundesgerichtliche Erwägungen

Das Bundesgericht trat auf die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten ein, da grundsätzlich ein Anspruch auf den Fortbestand der Niederlassungsbewilligung besteht und der Beschwerdeführer ein aktuelles Rechtsschutzinteresse aufweist, zumal das kantonsgerichtliche Urteil vom 1. Mai 2025 betreffend die Landesverweisung noch nicht rechtskräftig ist.

1. Formelle Rüge: Sistierung und Wiederaufnahme des Rekursverfahrens (E. 4)

Der Beschwerdeführer rügte, die Wiederaufnahme des Rekursverfahrens vor dem SJD verstosse gegen das Willkürverbot und Treu und Glauben (Art. 9 BV). Das Bundesgericht hält fest, dass Entscheide über die Sistierung und Wiederaufnahme eines Verfahrens Zwischenentscheide im Sinne von Art. 93 BGG darstellen. Den Behörden komme dabei ein erhebliches Ermessen zu, wobei dem Beschleunigungsgebot (Art. 29 Abs. 1 BV) Vorrang einzuräumen sei und keine unverhältnismässige Verzögerung eintreten dürfe. Im vorliegenden Fall hatte das SJD das Verfahren sistiert, um den Verlauf der gerichtlich angeordneten Massnahme für junge Erwachsene (Art. 61 StGB) bei der Beurteilung der Verhältnismässigkeit des Bewilligungswiderrufs berücksichtigen zu können. Da der Beschwerdeführer während des Massnahmevollzugs erneut straffällig wurde (Urteil 18. Juli 2022) und weitere Strafverfahren gegen ihn liefen, erachtete das Bundesgericht die Wiederaufnahme des Verfahrens am 13. Juli 2023 als rechtmässig. Es konnte keine Willkür oder ein Verstoss gegen Treu und Glauben festgestellt werden, da der Beschwerdeführer weder einen Vertrauenstatbestand noch ein widersprüchliches Verhalten der Behörde darlegen konnte.

2. Materielle Rüge: Verletzung des Dualismusverbots gemäss Art. 63 Abs. 3 AIG (E. 5)

Der Beschwerdeführer machte geltend, das angefochtene Urteil verletze das "Dualismusverbot" von Art. 63 Abs. 3 AIG. * Widerrufsgrund: Gemäss Art. 63 Abs. 1 lit. a i.V.m. Art. 62 Abs. 1 lit. b AIG kann eine Niederlassungsbewilligung widerrufen werden, wenn die ausländische Person zu einer längerfristigen Freiheitsstrafe (praxisgemäss über einem Jahr) verurteilt wurde. Die Verurteilung des Beschwerdeführers vom 1. Dezember 2016 zu 60 Monaten Freiheitsstrafe erfüllt diesen Widerrufsgrund unbestritten. * Das Dualismusverbot (Art. 63 Abs. 3 AIG): Ein Widerruf ist unzulässig, wenn er nur damit begründet wird, dass ein Strafgericht für ein Delikt bereits eine Strafe oder Massnahme verhängt, aber von einer Landesverweisung abgesehen hat. Zweck dieser Bestimmung ist es, widersprüchliche Beurteilungen des Aufenthaltsstatus durch Straf- und Migrationsbehörden zu verhindern (BGE 146 II 321 E. 4.6.3 f.). Delikte, die vor dem 1. Oktober 2016 begangen wurden, können zwar nicht Grundlage einer obligatorischen oder fakultativen Landesverweisung sein, dürfen aber bei der Härtefall- oder Verhältnismässigkeitsprüfung berücksichtigt werden (BGE 146 II 49 E. 5.2; 146 II 1 E. 2.1.2). Werden solche Delikte vom Strafgericht bei dieser Prüfung berücksichtigt, dürfen die Migrationsbehörden sie für einen administrativen Widerruf nicht mehr heranziehen (BGE 146 II 1 E. 2.2). * Ausnahmen vom Dualismusverbot: Das Dualismusverbot greift jedoch nicht, wenn das Strafgericht aufgrund der Geringfügigkeit eines nach dem 1. Oktober 2016 begangenen Delikts von vornherein keine fakultative Landesverweisung in Betracht gezogen hat (BGE 146 II 49 E. 5.6). Ebenso wenig greift es, wenn das Strafgericht ohne besondere Begründung auf eine strafrechtliche Landesverweisung verzichtet hat, insbesondere wenn das Urteil ohne schriftliche Begründung oder im abgekürzten Verfahren erging und keine Erläuterungen aus der Anklageschrift hervorgehen (BGE 146 II 321 E. 5.1). * Anwendung auf den vorliegenden Fall: Die Vorinstanz hatte sich im Wesentlichen auf die vor dem 1. Oktober 2016 begangenen Straftaten aus dem Urteil vom 1. Dezember 2016 gestützt. Der Beschwerdeführer argumentierte, das Bezirksgericht Zürich habe im Urteil vom 18. Juli 2022 unter Einbezug seiner Vorstrafen von einer Landesverweisung abgesehen und somit die Aufenthaltsbeendigung abschliessend beurteilt. Das Bundesgericht verwarf diese Argumentation: * Das Bezirksgericht Zürich hat im Urteil vom 18. Juli 2022 eine nicht obligatorische Landesverweisung zwar kurz erwähnt, diese aber ohne nähere Prüfung der Voraussetzungen von Art. 66a bis StGB oder der Tragweite des Urteils vom 1. Dezember 2016 verworfen. * Aufgrund der Geringfügigkeit der im Urteil von 2022 beurteilten Delikte (hauptsächlich aus dem Jahr 2019) fiel eine Landesverweisung von vornherein nicht ernsthaft in Betracht. Zudem erfolgte der Verzicht auf eine fakultative Landesverweisung ohne Begründung. * Das Strafgericht hat die Delikte von 2016 nicht in seine Beurteilung der Landesverweisung für die Delikte von 2019 einbezogen, und die Migrationsbehörden haben die Verurteilung von 2022 nicht als Anlasstat für den Widerruf genutzt. Es liegt somit keine Konstellation vor, in der Art. 63 Abs. 3 AIG zur Anwendung kommt, da keine "doppelte Beurteilung" desselben Sachverhalts erfolgte. Eine gegenteilige Auslegung würde zu einem Wertungswiderspruch führen. * Zwischenergebnis: Das Bundesgericht kam zum Schluss, dass die Vorinstanz rechtmässig auf das Urteil des Bezirksgerichts Winterthur vom 1. Dezember 2016 als Grundlage für den Widerruf abstellen durfte.

3. Materielle Rüge: Verhältnismässigkeit der Interessenabwägung (E. 6)

Der Beschwerdeführer rügte die Verletzung des Verhältnismässigkeitsprinzips (Art. 96 Abs. 2 AIG, Art. 36 Abs. 3 BV) und des Rechts auf Achtung des Privatlebens (Art. 8 EMRK, Art. 13 Abs. 1 BV). Das Bundesgericht führte eine umfassende Interessenabwägung durch, die sowohl nationale als auch konventionsrechtliche Standards berücksichtigt. Dabei wurden namentlich folgende Kriterien gewürdigt (vgl. BGE 139 I 145 E. 2.4; EGMR B.F. gegen Schweiz): Art und Schwere der Straftat, Aufenthaltsdauer, seit der Tat vergangener Zeitraum, Verhalten währenddessen, soziale/familiäre Bindungen, Gesundheitszustand und drohende Nachteile.

  • Öffentliches Interesse an der Aufenthaltsbeendigung:

    • Gravierende Straffälligkeit: Die Verurteilung von 2016 wegen schwerer Körperverletzung und weiterer Delikte zu 60 Monaten Freiheitsstrafe indiziert ein gravierendes ausländerrechtliches Verschulden.
    • Unbelehrbarkeit: Die Massnahme für junge Erwachsene nach Art. 61 StGB hielt den Beschwerdeführer nicht von weiteren Straftaten ab. Die erneute Verurteilung von 2022/2024 wegen Drohung, Fahrens ohne Berechtigung, Gewaltdarstellung und Tätlichkeiten, noch während des Massnahmevollzugs, belegt seine Gleichgültigkeit gegenüber der Rechtsordnung und die Geringschätzung der Unversehrtheit anderer Personen.
    • Rückfallgefahr: Die Behauptung, es gehe keine Rückfallgefahr von ihm aus, ist angesichts der wiederholten Delikte (inkl. der nicht rechtskräftigen Verurteilung von 2024/2025, die eine erneute gewalttätige Situation zeigt) nicht stichhaltig. Das Bundesgericht hielt fest, dass diese jüngste Verurteilung im Rahmen der Interessenabwägung berücksichtigt werden kann, auch wenn sie nicht rechtskräftig ist.
    • Fazit: Die wiederholte Straffälligkeit des Beschwerdeführers indiziert ein sehr hohes öffentliches Interesse an seiner Aufenthaltsbeendigung.
  • Privates Interesse am Verbleib in der Schweiz:

    • Lange Anwesenheit: Der Beschwerdeführer wurde in der Schweiz geboren und lebte zum Zeitpunkt des vorinstanzlichen Urteils 28 Jahre durchgehend hier.
    • Integration: Seine wirtschaftliche Integration wird aufgrund der unbeständigen Arbeitssituation und hoher Schulden als mangelhaft beurteilt.
    • Familienbeziehungen: Er ist ledig und kinderlos. Seine Mutter und Geschwister leben in der Schweiz. Sein Vater und seine Grossmutter leben im Kosovo. Der Vater wurde ebenfalls wegen Straffälligkeit des Landes verwiesen und ein Familiennachzugsgesuch wurde abgewiesen.
    • Anknüpfungspunkte im Kosovo: Der Beschwerdeführer verfügt über einen sozialen Empfangsraum im Kosovo (Vater, Grossmutter), beherrscht die albanische Sprache und ist durch Ferienaufenthalte mit den Verhältnissen vertraut. Dies relativiert die zu erwartenden Integrationsschwierigkeiten.
    • Einsicht und Besserung: Aus seinem Verhalten kann nicht geschlossen werden, dass er Lehren aus den strafrechtlichen Sanktionen gezogen hat oder eine deutliche Änderung seines Lebensplans eingetreten wäre.
    • Kontakt zur Familie in der Schweiz: Der Kontakt zu seiner Mutter und den Geschwistern kann durch moderne Kommunikationsmittel und Besuche im Kosovo aufrechterhalten werden. Diese Beziehungen sind in diesem Kontext nicht spezifisch durch Art. 8 Ziff. 1 EMRK geschützt, da sie ortsungebunden gepflegt werden können (vgl. BGE 144 II 1 E. 6.1).
  • Gesamtabwägung: Das Bundesgericht kam zum Schluss, dass das sehr gewichtige öffentliche Fernhalteinteresse angesichts der langjährigen und wiederholten, gravierenden Straffälligkeit des Beschwerdeführers durch seine privaten Interessen am Verbleib in der Schweiz nicht aufgewogen werden kann. Die mangelhafte Integration, die fehlende Einsicht und Besserung sowie die vorhandenen Anknüpfungspunkte im Kosovo machen eine Rückkehr verhältnismässig. Die Auffassung der Vorinstanz, wonach der Widerruf bundes- und konventionsrechtlich nicht zu beanstanden sei, wurde bestätigt.

IV. Schlussfolgerung

Die Beschwerde des A.__ wurde vom Bundesgericht abgewiesen. Sein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Rechtsverbeiständung wurde gutgeheissen.

V. Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:
  • Widerrufsgrund erfüllt: Die Verurteilung zu 60 Monaten Freiheitsstrafe (Urteil vom 1. Dezember 2016) wegen schwerer Gewaltdelikte erfüllte den Widerrufsgrund gemäss Art. 63 Abs. 1 lit. a AIG.
  • Dualismusverbot nicht anwendbar: Das Bundesgericht lehnte die Rüge des Dualismusverbots (Art. 63 Abs. 3 AIG) ab. Der Verzicht auf eine Landesverweisung im Urteil von 2022 bezog sich auf spätere, geringfügigere Delikte und erfolgte ohne nähere Begründung und ohne Einbezug der früheren gravierenden Taten. Somit durften die Migrationsbehörden auf die erste Verurteilung abstellen.
  • Verhältnismässigkeit gegeben: Die umfassende Interessenabwägung ergab, dass das hohe öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung des Beschwerdeführers aufgrund seiner schweren und wiederholten Straffälligkeit die privaten Interessen am Verbleib in der Schweiz überwiegt.
  • Fehlende Integration und Einsicht: Die mangelhafte wirtschaftliche Integration, die wiederholte Delinquenz während des Massnahmevollzugs und die fehlende glaubhafte Einsicht des Beschwerdeführers wurden stark gewichtet.
  • Anknüpfungspunkte im Herkunftsland: Das Vorhandensein von familiären Anknüpfungspunkten und Sprachkenntnissen im Kosovo relativiert die Härte des Widerrufs.