Gericht: Schweizerisches Bundesgericht, I. öffentlich-rechtliche Abteilung
Urteilsdatum: 8. Oktober 2025
Aktenzeichen: 1C_364/2024
Parteien: A._, B._, C.__ (Beschwerdeführer) gegen Gemeinderat Kallern, Regierungsrat des Kantons Aargau.
Gegenstand: Baubewilligung (Baugesuch und Rückbau Wochenendhaus)
I. Sachverhalt und Verfahrensgeschichte
Im Jahr 1962 erteilte der Gemeinderat Kallern eine Baubewilligung für ein "Ferienhäuschen" auf Parzelle Nr. 432 in Kallern unter der Bedingung der Landschaftsanpassung. Die Beschwerdeführer erwarben die Parzelle mit dem darauf befindlichen "Wochenendhaus Nr. 109" im Jahr 2010.
Im Jahr 2016 stellten die Beschwerdeführer ein Voranfragegesuch für einen "Ersatzbau Waldhaus", der den Ausbau eines Wohnwagens und eine Neuerstellung der Gebäudehülle vorsah. Sie räumten ein, keine Bewilligungen für den bestehenden Ausbau vorweisen zu können. Das Departement Bau, Verkehr und Umwelt des Kantons Aargau (BVU) beurteilte das Wochenendhaus Nr. 109 im Juni 2017 als "nicht rechtmässig erstellte altrechtliche Baute", die nicht vom Besitzstandschutz erfasst werde.
Nach Hinweisen auf Umbauarbeiten ordnete der Gemeinderat Kallern im Februar 2021 einen Baustopp an. Die Beschwerdeführer reichten daraufhin im März 2021 ein Baugesuch "Sanierung Wochenendhaus" ein. Das BVU wies dieses Baugesuch im Juli 2021 ab und verfügte den vollständigen Rückbau des Gebäudes Nr. 109 innert sechs Monaten, die Wiederherstellung des ursprünglichen Boden- und Topographiezustands sowie die Rekultivierung und Entsorgung widerrechtlich abgelagerten Materials. Diese Verfügung wurde vom Regierungsrat des Kantons Aargau und später vom Verwaltungsgericht des Kantons Aargau bestätigt. Dagegen richtet sich die vorliegende Beschwerde an das Bundesgericht.
II. Rechtliche Problematik und Rügen der Beschwerdeführer
Die Beschwerdeführer rügen im Wesentlichen:
1. Eine Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 3 BV) und des Willkürverbots (Art. 9 BV), indem die Vorinstanz die Rechtmässigkeit der Baute im Sinne von Art. 24c RPG verneint habe. Sie argumentieren, das kantonale Forstgesetz von 1860 (ForstG/AG) und das kantonale Einführungsgesetz zum ZGB (EG ZGB/AG) seien nicht relevant gewesen, und der Waldabstand gemäss EG ZGB/AG sei eine privatrechtliche Vorschrift, die einer Baubewilligung nicht entgegenstehen könne.
2. Der verfügte vollständige Rückbau sei unverhältnismässig und verletze ihre Eigentumsgarantie (Art. 26 Abs. 1 BV). Sie kritisieren, dass die Vorinstanz keinen Augenschein und keine Parteibefragung durchgeführt habe und die Sachverhaltsfeststellung auf einem falschen Sachverhalt beruhe.
3. Die Wiederherstellung des rechtmässigen Zustands sei mit Blick auf die beschlossene, aber noch nicht in Kraft getretene Änderung von Art. 25 Abs. 5 RPG (30-jährige Verjährungsfrist für den Wiederherstellungsanspruch) unverhältnismässig.
III. Erwägungen des Bundesgerichts
Das Bundesgericht beurteilt die Beschwerde unter Berücksichtigung der strengen Rügepflichten für die Verletzung von Bundesrecht (Art. 95 lit. a BGG), Grundrechten (Art. 106 Abs. 2 BGG) und kantonalem Recht (Willkürprüfung gemäss Art. 9 BV). Die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz ist für das Bundesgericht grundsätzlich bindend (Art. 105 Abs. 1 BGG), es sei denn, sie sei offensichtlich falsch oder beruhe auf einer Rechtsverletzung.
1. Zur Rechtmässigkeit der Baute im Sinne von Art. 24c RPG
Das Bundesgericht bestätigt die vorinstanzliche Beurteilung, wonach die Baute nicht als rechtmässig erstellt im Sinne von Art. 24c RPG qualifiziert werden kann.
- Rechtslage 1962: Das Bundesgericht führt aus, dass die Vorinstanz zu Recht § 111 des damals gültigen Aargauer Forstgesetzes (ForstG/AG) als massgebend erachtete. Diese Bestimmung, die die Zustimmung des Regierungsrates für Bauten im Waldabstand erforderte, wurde als "Gültigkeitsvorschrift" interpretiert. Das Fehlen dieser Zustimmung macht die Baubewilligung von 1962 von vornherein materiell rechtswidrig.
- Waldabstand und Privatrecht: Die Rüge der Beschwerdeführer, der Waldabstand von 20m gemäss § 87 Abs. 2 des Einführungsgesetzes zum Zivilgesetzbuch (EG ZGB/AG) sei eine privatrechtliche Vorschrift und könne einer Baubewilligung nicht entgegenstehen, wird vom Bundesgericht verworfen. Es hält fest, dass die Verweisung in § 111 ForstG/AG – einer forstpolizeilichen Bestimmung – die Regelung in den öffentlich-rechtlichen Bereich überführt. Die Unterscheidung zwischen privatem und öffentlichem Recht sei zudem damals weniger strikt gehandhabt worden. Es sei nicht willkürlich, § 1 Abs. 1 ForstG/AG auf Privatwaldungen anzuwenden.
- Art. 24c RPG und Vertrauensgrundsatz: Das Bundesgericht bekräftigt, dass Art. 24c RPG auf nicht rechtmässig erstellte Bauten grundsätzlich nicht anwendbar ist (Art. 41 Abs. 1 e contrario RPV). Ein Vertrauensgrundsatz, der die Anwendung von Art. 24c RPG auf eine rechtswidrige Baute ermöglichen würde, wird explizit verneint.
- Rechtliches Gehör: Eine Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art. 29 Abs. 2 BV) wird ebenfalls nicht festgestellt, da die Vorinstanz die für den Entscheid wesentlichen Punkte erörtert und die Begründung es den Beschwerdeführern ermöglichte, den Entscheid sachgerecht anzufechten.
2. Zur Verhältnismässigkeit des vollständigen Rückbaus
Das Bundesgericht bestätigt die Verhältnismässigkeit des verfügten vollständigen Rückbaus.
- Sachverhaltsfeststellung: Die Rügen der Beschwerdeführer bezüglich der Sachverhaltsfeststellung und der Ablehnung eines Augenscheins oder einer Parteibefragung werden als unbegründet abgewiesen. Das Bundesgericht ist an den von der Vorinstanz verbindlich festgestellten Sachverhalt gebunden, zumal die Beschwerdeführer keine willkürliche Beweiswürdigung rechtsgenüglich dargelegt haben. Die Vorinstanz konnte auf einen Augenschein verzichten, da die Aktenlage, inklusive Fotos vom Baustopp 2021, ausreichend klar war und die Durchführung des Augenscheins bereits im Rahmen des Gemeinderatsverfahrens erfolgte.
- Umfang der Bauarbeiten: Die Vorinstanz stellte fest, dass die von den Beschwerdeführern vorgenommenen Massnahmen "deutlich über reine Unterhaltsarbeiten hinaus gingen". Elementare Gebäudeteile wie das Dach, der Boden und Wände seien abgebaut und teilweise neu erstellt worden, was faktisch zu einem "Neubau" geführt habe.
- Öffentliches Interesse: Das öffentliche Interesse am Rückbau wird vom Bundesgericht als erheblich bejaht. Die Parzelle liegt ausserhalb der Bauzone in einer Landwirtschafts- und Landschaftsschutzzone von kantonaler Bedeutung und dient nicht landwirtschaftlichen Zwecken. Sie unterschreitet zudem den heute gültigen Waldabstand von 18 Metern erheblich. Die Ziele des Waldabstands (Schutz des Waldes vor Zerstörung, ökologischer Wert des Waldrands) und der Grundsatz der Trennung von Baugebiet und Nichtbaugebiet sind von fundamentaler Bedeutung im Raumplanungsrecht. Eine Duldung illegaler Bauten würde diesen Grundsatz infrage stellen und rechtswidriges Verhalten belohnen.
- Bösgläubigkeit der Beschwerdeführer: Das Bundesgericht bejaht die Bösgläubigkeit der Beschwerdeführer. Bereits im Juni 2017 hatte das BVU ihr Bauvorhaben als nicht bewilligungsfähig beurteilt. Trotzdem nahmen sie "tiefgreifende Eingriffe in die Bausubstanz" ohne Bewilligung vor. Bei bösgläubigem Handeln misst die Behörde den Interessen an der Wiederherstellung des gesetzmässigen Zustands, insbesondere zum Schutz der Rechtsgleichheit und der baulichen Ordnung, erhöhtes Gewicht bei. Die den Bauherren allenfalls erwachsenden Nachteile werden nicht oder nur in verringertem Masse berücksichtigt.
- Abwägung der Interessen: Die finanziellen Interessen der Beschwerdeführer treten hinter den gewichtigen raumplanerischen und naturschützerischen Anliegen zurück. Investitionen nach der ablehnenden Stellungnahme von 2017 sind von vornherein irrelevant. Die Kosten für den Erwerb des illegal erstellten Wochenendhauses im Jahr 2010 dürften durch die unbeschränkte Nutzung bis zum Baustopp zumindest teilweise amortisiert worden sein. Eine allfällige Nutzungsunmöglichkeit seit dem Baustopp ist dem eigenen rechtswidrigen Verhalten der Beschwerdeführer zuzuschreiben.
3. Zum künftigen Art. 25 Abs. 5 RPG (30-jährige Verjährungsfrist)
Die Beschwerdeführer argumentieren, die geplante Einführung einer 30-jährigen Verjährungsfrist für den Wiederherstellungsanspruch gemäss dem neuen Art. 25 Abs. 5 RPG mache den Rückbau unverhältnismässig und rechtfertige eine Sistierung des Verfahrens. Das Bundesgericht weist dies entschieden zurück:
- Die Neuerung zielt auf die Duldung bestehender widerrechtlicher Bauten ab, nicht auf den Schutz oder die Legitimierung von massiv umgebauten oder faktisch neu erstellten Bauten.
- Die ursprünglich unrechtmässige Baute existiert aufgrund der weitreichenden, unbewilligten Eingriffe der Beschwerdeführer praktisch nicht mehr. Die Beschwerdeführer haben ihr Eigentum durch ihr rechtswidriges Handeln selbst zerstört.
- Die Eigentumsgarantie (Art. 26 Abs. 1 BV) verleiht keinen Anspruch, eine Baute zu ändern, zu erweitern, wiederaufzubauen oder einen baurechtswidrigen Zustand zu verstärken.
- Da die neue Bestimmung den vorliegenden Fall nicht betreffen würde, erübrigt sich auch eine Sistierung des Verfahrens.
IV. Schlussfolgerung des Bundesgerichts
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist. Die Gerichtskosten werden den Beschwerdeführern auferlegt.
Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:
- Unrechtmässigkeit der Baute: Das 1962 erstellte Wochenendhaus war von Anfang an materiell rechtswidrig, da die damals erforderliche Zustimmung des Regierungsrats gemäss Forstgesetz fehlte und der Waldabstand nicht eingehalten wurde. Art. 24c RPG ist auf solche Bauten nicht anwendbar.
- Faktischer Neubau: Die von den Beschwerdeführern durchgeführten Arbeiten gingen weit über blosse Unterhaltsarbeiten hinaus und führten faktisch zu einem Neubau, der keinerlei Bestandes- oder Vertrauensschutz geniessen kann.
- Hohes öffentliches Interesse am Rückbau: Die Baute befindet sich ausserhalb der Bauzone in einer sensiblen Landschafts- und Landwirtschaftsschutzzone und missachtet den Waldabstand. Das öffentliche Interesse an der Wiederherstellung des rechtmässigen Zustands und der strikten Trennung von Bau- und Nichtbaugebiet überwiegt.
- Bösgläubigkeit: Die Beschwerdeführer handelten bösgläubig, da sie trotz expliziter Ablehnung ihres Vorhabens durch die Behörden umfangreiche unbewilligte Arbeiten vornahmen. Ihre finanziellen Interessen treten daher stark in den Hintergrund.
- Keine Relevanz des neuen Art. 25 Abs. 5 RPG: Die geplante Verjährungsfrist für den Wiederherstellungsanspruch betrifft nur bestehende unrechtmässige Bauten und schützt nicht die Erneuerung oder den Ausbau eines illegalen Zustands. Die Eigentumsgarantie erlaubt keine Verstärkung eines rechtswidrigen Zustands.