Zusammenfassung von BGer-Urteil 6B_743/2025 vom 31. Oktober 2025

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Detaillierte Zusammenfassung des Urteils des Schweizerischen Bundesgerichts 6B_743/2025 vom 31. Oktober 2025

Parteien und Gegenstand Der vorliegende Fall betrifft die Beschwerde in Strafsachen von A.__ (Beschwerdeführer), vertreten durch Rechtsanwalt Martin Klaus, gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Bern vom 14. März 2025. Gegenstand der Beschwerde ist die Anordnung einer achtjährigen Landesverweisung sowie deren Ausschreibung im Schengener Informationssystem (SIS) durch die Vorinstanz.

Sachverhalt und Vorinstanzentscheid Das Regionalgericht Berner Jura-Seeland verurteilte A.__ am 9. Januar 2024 wegen qualifizierten Raubes (Art. 140 Ziff. 4 StGB), mehrfachen, teilweise versuchten betrügerischen Missbrauchs einer Datenverarbeitungsanlage, geringfügigen Diebstahls, Hausfriedensbruchs und Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz zu einer Freiheitsstrafe von 3.5 Jahren und einer Busse von CHF 800.--. Es verzichtete auf die Anordnung einer Landesverweisung.

Auf Berufung der Staatsanwaltschaft und Anschlussberufung von A.__ bestätigte das Obergericht des Kantons Bern am 14. März 2025 den Schuldspruch wegen qualifizierten Raubes und sprach den Beschwerdeführer zusätzlich des betrügerischen Missbrauchs einer Datenverarbeitungsanlage schuldig. Es verurteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und ordnete eine achtjährige Landesverweisung sowie deren Ausschreibung im SIS an.

Argumentation des Beschwerdeführers Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung von Art. 66d StGB durch die Vorinstanz. Er macht geltend, das Obergericht habe das aktuell und auch zum Zeitpunkt der voraussichtlichen bedingten Entlassung im April 2026 vorhersehbar bestehende Hindernis für den Vollzug der obligatorischen Landesverweisung nicht beachtet. Er argumentiert, es stehe bereits mit hinreichender Sicherheit fest, dass seine Ausschaffung nach Somalia im April 2026 nicht möglich sein werde, weshalb die Vorinstanz dieses Vollzugshindernis hätte berücksichtigen und auf die Landesverweisung hätte verzichten müssen.

Begründung der Vorinstanz zur Landesverweisung

  1. Härtefallprüfung (Art. 66a Abs. 2 StGB):

    • Persönliche Verhältnisse: Der 1991 in Mogadischu, Somalia, geborene Beschwerdeführer lebte dort bis zu seinem 16. Lebensjahr. Er reiste 2008 in die Schweiz ein, sein Asylgesuch wurde 2009 abgewiesen, jedoch wurde eine vorläufige Aufnahme wegen Unzumutbarkeit des Vollzugs angeordnet. Er hat weder in Somalia noch in der Schweiz eine Ausbildung abgeschlossen und wird seit 2020 durchgehend von Sozialhilfe unterstützt (über CHF 100'000.--). Er hat Verlustscheine und Betreibungen. Seine berufliche und finanzielle Zukunft wird als unsicher beurteilt. Er spricht gut Deutsch, pflegt aber wenige soziale Kontakte und es fehle an einer tiefen sozialen Integration. Er ist ledig, kinderlos und gesund. Seine Eltern und sein einziger Bruder sind verstorben, womit er keine engen familiären Beziehungen in der Schweiz oder Somalia unterhält.
    • Strafrechtliche Vergangenheit und Rückfallrisiko: Der Beschwerdeführer ist vorbestraft (BetmG, Raufhandel, Hehlerei), diese Taten liegen jedoch Jahre zurück und fielen in seine Entwicklungsphase als junger Erwachsener. Die aktuelle Tat ist die erste nach über acht Jahren straffreien Verhaltens. Er zeige aufrichtige Reue. Allerdings habe er im Regionalgefängnis U.__ wiederholt wegen Cannabiskonsums sanktioniert werden müssen. Seine Resozialisierungschancen in der Schweiz seien angesichts fehlender beruflicher Perspektiven und prekärer finanzieller Verhältnisse als schwierig einzuschätzen, mit einem moderaten Rückfallrisiko im Rahmen seiner bisherigen Delinquenz.
    • Rückkehr nach Somalia: Da er in Somalia aufgewachsen sei, die Landessprache beherrsche und die ersten 16 Lebensjahre dort verbracht habe, sei davon auszugehen, dass er mit Kultur und Gepflogenheiten vertraut sei. Eine Resozialisierung dort sei nicht unmöglich, aber aufgrund der Lebensbedingungen und Sicherheitslage mit einer Härte verbunden.
    • Fazit Härtefallprüfung: Die Landesverweisung sei zweifellos mit einer persönlichen Härte verbunden, und die 17-jährige Aufenthaltsdauer in der Schweiz stelle ein gewichtiges Interesse an einem Verbleib dar. Angesichts der fehlenden sozialen und beruflichen Integration, der grundsätzlich möglichen (wenn auch schwierigen) Wiedereingliederung in Somalia und der schwierigen Wiedereingliederungschancen in der Schweiz sei ein schwerer persönlicher Härtefall im Sinne von Art. 66a Abs. 2 StGB jedoch zu verneinen. Selbst bei Annahme eines solchen würde die Interessenabwägung aufgrund des schwerwiegenden Verstosses gegen die Rechtsordnung (fünf Jahre Freiheitsstrafe), der Vorstrafen und des moderaten Rückfallrisikos nicht zugunsten des Beschwerdeführers ausfallen; das öffentliche Interesse an der Landesverweisung sei als hoch zu gewichten.
  2. Prüfung von Vollzugshindernissen (Art. 66d StGB, Art. 83 AIG):

    • Lage in Somalia: Die Vorinstanz verweist auf die aktuellen Reisehinweise des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA), die von Reisen nach Somalia generell abraten (hohe Sicherheitsrisiken, Entführungsrisiko, Terroranschläge, Gewaltkriminalität). Das Bundesverwaltungsgericht (BVGer) gehe davon aus, dass der Vollzug von Wegweisungen in den zentralen und südlichen Teil Somalias grundsätzlich unzumutbar sei, während er unter Umständen in die nördlichen Landesteile (Somaliland und Puntland) erfolgen könne (Verweis auf BVGer-Urteile E-591/2018 und E-1722/2020).
    • Flüchtlingsrechtliches Non-refoulement (Art. 66d Abs. 1 lit. a StGB): Der Beschwerdeführer sei kein anerkannter Flüchtling (Asylgesuch 2009 rechtskräftig abgewiesen). Daher sei das flüchtlingsrechtliche Non-refoulement-Gebot nicht anwendbar.
    • Menschenrechtliches Non-refoulement (Art. 66d Abs. 1 lit. b StGB, Art. 3 EMRK): Die Aussage des Beschwerdeführers, eine Rückkehr nach Somalia bedeute "Sterben auf der Strasse", beziehe sich auf die allgemeinen prekären Lebensumstände und nicht auf eine individuelle Gefährdung im Sinne von Art. 3 EMRK. Konkrete, gegen ihn gerichtete potenzielle Menschenrechtsverletzungen oder Lebensgefahren habe er weder im Asylverfahren noch aktuell glaubhaft gemacht. Das menschenrechtliche Non-refoulement-Gebot finde daher keine Anwendung.
    • Unzumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs (Art. 83 Abs. 4 AIG): Das Staatssekretariat für Migration (SEM) hatte 2009 und 2020 eine vorläufige Aufnahme wegen Unzumutbarkeit des Vollzugs verfügt. Die Vorinstanz stellte fest, dass die Situation in Somalia sich seit Jahren nicht verändert habe. Jedoch habe sich die Praxis des BVGer zur Zumutbarkeit einer Rückführung nach Mogadischu geändert (2013 bejaht, später verneint), was zeige, dass sich Umstände ändern könnten. Es könne zum Urteilszeitpunkt nicht mit hinreichender Sicherheit prognostiziert werden, wie sich die Situation in Somalia mittel- bis langfristig entwickeln werde. Auch wenn zwangsweise Ausschaffungen aktuell nicht möglich seien, seien freiwillige Ausreisen weiterhin denkbar. Es sei nicht angezeigt, bereits zum jetzigen Zeitpunkt von einer stabilen, definitiv bestimmbaren Unzumutbarkeit auszugehen und infolgedessen von einer Landesverweisung abzusehen. Die gemäss Art. 66d Abs. 2 StGB zuständigen Vollzugsbehörden würden zu gegebener Zeit allfällige Vollzugshindernisse prüfen müssen. Die Vorinstanz verneinte daher das Vorliegen von Vollzugshindernissen, die der Anordnung der Landesverweisung entgegenstünden.

Erwägungen des Bundesgerichts

  1. Prüfungsrahmen: Das Bundesgericht prüft Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 BGG. Für die Rüge der Verletzung von Grundrechten gelten qualifizierte Rügeanforderungen (Art. 106 Abs. 2 BGG). Der Beschwerdeführer rügte primär eine Verletzung von Art. 66d StGB und nicht die Härtefallprüfung oder die Interessenabwägung der Vorinstanz.

  2. Flüchtlingsrechtliches Non-refoulement (Art. 66d Abs. 1 lit. a StGB): Das Bundesgericht bestätigt die Einschätzung der Vorinstanz, wonach der Beschwerdeführer sich mangels anerkannter Flüchtlingseigenschaft nicht auf dieses Gebot berufen kann. Sein Asylgesuch wurde rechtskräftig abgewiesen.

  3. Menschenrechtliches Non-refoulement (Art. 66d Abs. 1 lit. b StGB, Art. 3 EMRK): Das Bundesgericht schliesst sich der Vorinstanz an. Die Aussagen des Beschwerdeführers zur Rückkehr nach Somalia (Sterben auf der Strasse) beziehen sich auf die allgemeinen Lebensumstände und nicht auf eine konkrete, individuelle Gefährdung im Sinne von Art. 3 EMRK, die ein absolutes Vollzugshindernis darstellen würde. Der Beschwerdeführer habe auch vor Bundesgericht keine konkreten Argumente für eine solche individuelle Gefährdung vorgebracht. Die Verneinung dieses Vollzugshindernisses ist bundesrechtskonform.

  4. Unzumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs (Art. 83 Abs. 4 AIG) und Ausschlussgründe: Dies ist der zentrale Punkt der bundesgerichtlichen Prüfung.

    • Das Bundesgericht hält fest, dass selbst wenn die Schlussfolgerung der Vorinstanz zur (Nicht-)Bestimmbarkeit der Unzumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs nach Somalia als nicht haltbar erachtet würde und somit von einer Unzumutbarkeit auszugehen wäre, dies vorliegend nicht zum Verzicht auf eine Landesverweisung führen würde.
    • Art. 83 Abs. 4 AIG regelt den Verzicht auf eine Wegweisung aus humanitären Gründen, bietet jedoch keinen absoluten Schutz vor einer Wegweisung.
    • Entscheidend sind die Ausschlussgründe gemäss Art. 83 Abs. 7 AIG. Diese Bestimmung listet Sachverhalte auf, die zum Ausschluss oder zur Aufhebung der vorläufigen Aufnahme wegen Unzumutbarkeit des Vollzuges führen. Gemäss der Rechtsprechung (u.a. BVGE 2014/26 E. 7.9.4; Urteil 6B_566/2017 E. 3.4) überwiegt in diesen qualifizierten Fällen das öffentliche Interesse am Vollzug das private Interesse der gefährdeten Person am Verbleib in der Schweiz.
    • Im vorliegenden Fall hat der Beschwerdeführer gleich mehrere dieser Ausschlussgründe verwirklicht:
      • Er wurde zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt (Art. 83 Abs. 7 lit. a AIG).
      • Mit dem qualifizierten Raub gemäss Art. 140 Ziff. 4 StGB (Zufügen einer schweren Körperverletzung) hat er erheblich gegen die öffentliche Sicherheit in der Schweiz verstossen (Art. 83 Abs. 7 lit. b AIG).
    • Da der Beschwerdeführer somit die Ausschlussgründe nach Art. 83 Abs. 7 lit. a und b AIG erfüllt, kann er sich nicht auf eine Unzumutbarkeit nach Art. 83 Abs. 4 AIG berufen. Das öffentliche Interesse an der Landesverweisung überwiegt somit.

Schlussfolgerung des Bundesgerichts Das Bundesgericht kommt zum Schluss, dass die Vorinstanz zu Recht ein Vollzugshindernis verneint hat, welches der Anordnung der Landesverweisung entgegenstünde. Die Rügen des Beschwerdeführers erweisen sich als unbegründet, soweit darauf überhaupt einzutreten war.

Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte

  • Das Bundesgericht bestätigt die obligatorische Landesverweisung eines in Somalia geborenen Beschwerdeführers nach einer Verurteilung zu fünf Jahren Freiheitsstrafe, u.a. wegen qualifizierten Raubes.
  • Es verneint das Vorliegen eines schweren persönlichen Härtefalls gemäss Art. 66a Abs. 2 StGB aufgrund der fehlenden sozialen und beruflichen Integration des Beschwerdeführers in der Schweiz sowie seiner grundsätzlich möglichen Wiedereingliederung in Somalia. Das öffentliche Interesse an der Landesverweisung überwiegt.
  • Es liegen keine flüchtlings- oder menschenrechtlichen Non-refoulement-Hindernisse vor (Art. 66d Abs. 1 StGB), da der Beschwerdeführer kein anerkannter Flüchtling ist und keine konkrete individuelle Gefährdung im Sinne von Art. 3 EMRK nachweisen konnte.
  • Entscheidend ist, dass selbst bei Annahme einer Unzumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs nach Somalia (Art. 83 Abs. 4 AIG) die Anordnung der Landesverweisung Bestand hat. Der Beschwerdeführer hat Ausschlussgründe gemäss Art. 83 Abs. 7 lit. a und b AIG (Verurteilung zu einer längerfristigen Freiheitsstrafe und erhebliche Verstösse gegen die öffentliche Sicherheit) verwirklicht, welche das öffentliche Interesse am Vollzug der Landesverweisung überwiegen lassen.
  • Die definitive Prüfung allfälliger Vollzugshindernisse obliegt zum Zeitpunkt der Haftentlassung den zuständigen Vollzugsbehörden.