Zusammenfassung von BGer-Urteil 6B_277/2024 vom 29. Oktober 2025

Es handelt sich um ein experimentelles Feature. Es besteht keine Gewähr für die Richtigkeit der Zusammenfassung.

Das Bundesgericht hatte in seinem Urteil 6B_277/2024 vom 29. Oktober 2025 über die Beschwerde von A.__ zu befinden, der wegen mehrfachen Ausstellens eines falschen ärztlichen Zeugnisses gemäss Art. 318 Ziff. 1 StGB verurteilt worden war. Der Beschwerdeführer rügte primär eine Verletzung des Rechts auf Verwertbarkeit von Beweismitteln sowie eine willkürliche Beweiswürdigung und die Missachtung der Unschuldsvermutung.

I. Sachverhalt und Vorinstanzen

Der Beschwerdeführer, ein Arzt, wurde von der Staatsanwaltschaft Muri-Bremgarten angeklagt, mehrfach falsche ärztliche Zeugnisse ausgestellt zu haben. Das Bezirksgericht Bremgarten sprach ihn am 22. März 2023 in 17 Fällen des mehrfachen Ausstellens eines falschen ärztlichen Zeugnisses schuldig und verurteilte ihn zu einer bedingt ausgefällten Freiheitsstrafe von 8 Monaten sowie einer Busse von CHF 5'000.--. In 80 weiteren Dossiers erfolgte ein Freispruch. Das Obergericht des Kantons Aargau bestätigte am 21. Februar 2024 die erstinstanzlichen Schuldsprüche und das Strafmass. Dagegen legte A.__ Beschwerde in Strafsachen beim Bundesgericht ein, mit dem Antrag auf vollumfänglichen Freispruch oder eine deutlich mildere Bestrafung. Die Oberstaatsanwaltschaft verzichtete auf eine Vernehmlassung. Die Vorinstanz räumte in ihrer Stellungnahme ein, dass ein nach ihrem Urteil ergangener Leitentscheid des Bundesgerichts (BGE 151 IV 73) die Verwertbarkeit der auf dem Mobiltelefon des Beschwerdeführers gewonnenen Erkenntnisse in Frage stelle, bestritt jedoch eine Auswirkung auf den Schuldspruch oder das Strafmass.

II. Massgebende Punkte und rechtliche Argumente des Bundesgerichts

Das Bundesgericht konzentrierte sich auf zwei zentrale Punkte: die Verwertbarkeit von Beweismitteln, die durch die Auswertung des Mobiltelefons des Beschwerdeführers gewonnen wurden, und die willkürliche Beweiswürdigung der Vorinstanz.

1. Zur Verwertbarkeit der Beweismittel (Erwägungen 1.1 - 1.4)

  • Rüge des Beschwerdeführers: A._ machte geltend, er sei anlässlich einer Hausdurchsuchung aufgefordert worden, die Zugangscodes für sein Mobiltelefon offenzulegen, ohne vorgängig über sein Aussage- und Mitwirkungsverweigerungsrecht gemäss Art. 158 Abs. 1 StPO belehrt worden zu sein. Dies führe gemäss Art. 158 Abs. 2 i.V.m. Art. 141 Abs. 2 StPO zur absoluten Unverwertbarkeit der Auswertungsergebnisse. Er forderte das Bundesgericht auf, seine frühere Rechtsprechung zu korrigieren. Die Unverwertbarkeit betreffe insbesondere die Fälle B._, C._ und D._ sowie weitere Akten.

  • Haltung der Vorinstanz: Die Vorinstanz hatte sich auf eine frühere Rechtsprechung (Urteil 1B_535/2021 vom 19. Mai 2020) gestützt, wonach die Frage nach dem Zugangscode lediglich eine Hausdurchsuchung erleichtere und keine Belehrungspflicht gemäss Art. 158 Abs. 1 lit. b StPO auslöse.

  • Entscheidende Abweichung des Bundesgerichts: Das Bundesgericht stellte klar, dass seine Rechtsprechung im Leitentscheid BGE 151 IV 73 vom 19. Mai 2020 (im Originaltext vom 19. Mai 2020, hier jedoch aufgrund des zukünftigen Urteilsdatums 29. Okt. 2025 ein Tippfehler im Originaldokument zu vermuten, da der Entscheid 151 IV 73 bereits ergangen ist) geändert wurde. Es hielt fest, dass eine rein formelle Betrachtungsweise des Einvernahmebegriffs ("erste Einvernahme" i.S.v. Art. 158 Abs. 1 StPO) abzulehnen ist. Sobald die Rollenverteilung klar sei, sei die strafrechtlich verantwortlich erscheinende Person als Beschuldigte zu behandeln und nach Art. 158 Abs. 1 StPO zu belehren. Die Erfragung des Zugangscodes zu einem Mobiltelefon durch die Polizei im Rahmen einer Hausdurchsuchung stelle eine eigentliche Beschuldigteneinvernahme dar. Die Preisgabe des Entsperrcodes ohne vorgängige Belehrung über das nemo tenetur-Prinzip (Recht auf Aussage- und Mitwirkungsverweigerung) verletze diesen Grundsatz.

  • Konsequenz: Dergestalt auf dem Mobiltelefon der beschuldigten Person aufgefundene Beweismittel sind gemäss Art. 158 Abs. 2 StPO i.V.m. Art. 141 Abs. 1 StPO absolut unverwertbar. Dies betrifft alle Textnachrichten, auf welche die Vorinstanz die Schuldsprüche betreffend B._, C._ und D.__ stützte. Da keine Folgebeweise in diesen Fällen vorliegen, sind die Schuldsprüche in diesen drei Fällen nicht haltbar. Darüber hinaus erklärte das Bundesgericht auch die weiteren SMS-Mitteilungen als absolut unverwertbar, mittels derer die Vorinstanz die Unwahrheit der 17 ausgestellten Zeugnisse und den Vorsatz des Beschwerdeführers begründet hatte.

2. Zur Willkür der Beweiswürdigung und Verletzung der Unschuldsvermutung (Erwägungen 2.1 - 2.5)

  • Rüge des Beschwerdeführers: A.__ beanstandete eine willkürliche und unhaltbare Beweiswürdigung, die die Unschuldsvermutung (Art. 6 und 10 StPO, Art. 32 BV, Art. 6 EMRK) verletze. Die Vorinstanz habe die Beweislast verschoben, entlastende Umstände ignoriert und einseitig geurteilt. Die Ablehnung seiner Beweisanträge, die Attestempfänger zu befragen, sei ein Zeichen der Voreingenommenheit.

  • Grundlagen der gerichtlichen Prüfung: Das Bundesgericht prüft Sachverhaltsfeststellungen nur, wenn sie offensichtlich unrichtig (willkürlich) sind oder auf einer Rechtsverletzung beruhen (Art. 97 Abs. 1 BGG). Willkür liegt vor, wenn die Beweiswürdigung schlechterdings unhaltbar ist. Der Grundsatz in dubio pro reo als Beweiswürdigungsregel hat vor Bundesgericht keine über das Willkürverbot hinausgehende Bedeutung; als Beweislastregel ist er verletzt, wenn der Angeklagte einzig verurteilt wird, weil er seine Unschuld nicht nachgewiesen hat.

  • Definition des "falschen ärztlichen Zeugnisses" (Art. 318 Ziff. 1 StGB):

    • Ein Zeugnis ist unwahr, wenn es ein unzutreffendes Bild des Gesundheitszustandes vermittelt (z.B. Gefälligkeitszeugnis, wahrheitswidrige Feststellungen).
    • Die Wahrheit bemisst sich nicht objektiv nach dem Gesundheitszustand, sondern subjektiv nach der Ansicht (Diagnose) des Arztes, sofern diese auf medizinisch vertretbaren Grundlagen beruht. Eine blosse Fehldiagnose erfüllt den Tatbestand nicht.
    • Die Ausstellung setzt grundsätzlich eine ordnungsgemässe Untersuchung voraus. Ein Zeugnis ist unwahr, wenn wahrheitswidrig eine nicht erfolgte Untersuchung behauptet wird.
    • Im Kontext der Telemedizin kann ein Zeugnis auch ohne physische Untersuchung richtig sein, wenn der Arzt seine Überzeugung nach pflichtgemässer Prüfung auf einer tragfähigen und vertrauenswürdigen Beurteilungsgrundlage (Patientenangaben, Krankenakten, Erfahrungsgrundsätze) gebildet hat. Der Rechtsverkehr muss auf die Einhaltung medizinischer Standards vertrauen können.
    • Ein Zeugnis, das auf keiner oder nur einer oberflächlichen Verifikation der Beurteilungsgrundlagen beruht (z.B. blosse Übernahme von Patientenangaben ohne weitere Prüfung), begründet Fahrlässigkeit. Seit dem 1. Juli 2023 ist fahrlässiges Ausstellen eines unwahren ärztlichen Zeugnisses straflos (Botschaft zur Harmonisierung der Strafrahmen). Die Einhaltung der "Regeln der Kunst" und des gegenwärtigen Stands der Wissenschaft ist massgebend.
  • Kritik an der Beweiswürdigung der Vorinstanz:

    • Das Bundesgericht befand, dass die Feststellungen der Vorinstanz, wonach der Beschwerdeführer die 14 weiteren Zeugnisse ausstellte, ohne dass "nur annähernd Hinweise für medizinische Gründe" vorlagen und er sich dessen "vollends bewusst" war, willkürlich sind.
    • Die Vorinstanz habe sämtliche Aussagen des Beschwerdeführers ignoriert, in denen er von Patienten geschilderte Beschwerden und Notlagen (Atem-, Haut-, psychische Probleme, Kopfschmerzen, Konzentrationsprobleme, Asthma, kardiovaskuläre Erkrankungen) darlegte.
    • Ebenso wurden seine Ausführungen zu wissenschaftlichen Diskussionen über Sauerstoffsättigung, psychische Schäden und seine Fähigkeit, Patientenangaben verlässlich zu beurteilen, übergangen.
    • Die Vorinstanz habe auch ignoriert, dass einige (verwertbare) SMS-Mitteilungen konkrete und individuelle Symptombeschreibungen enthielten.
    • Die generelle Schlussfolgerung, es hätten "nicht einmal Symptombeschriebe" vorgelegen, sei angesichts der ignorierten Beweise willkürlich.
    • Das Bundesgericht wies darauf hin, dass eine blosse Übernahme von Patientenangaben im Grundsatz Fahrlässigkeit begründet, nicht zwingend Vorsatz.
    • Auch die Feststellung, die Anfragen seien "zumeist aus massnahmenkritischen Gründen" erfolgt und der Beschwerdeführer habe dies gewusst, sei ein pauschalisierter Generalverdacht, der einer tatbeständlichen Subsumtion mangels konkreter Feststellungen entbehrt und willkürlich ist.
    • Die Ablehnung der Befragung von Attestempfängern durch die Vorinstanz mit der Begründung, dies sei "nicht notwendig", wurde als Folge dieser willkürlichen Beweiswürdigung gerügt.

III. Fazit und Rückweisung

Das Bundesgericht gelangte zum Schluss, dass die Vorinstanz den Sachverhalt (neben der Stützung auf absolut unverwertbare Beweismittel) auch willkürlich festgestellt hat. Es hob das vorinstanzliche Urteil auf und wies die Sache zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurück. Diese muss primär prüfen, wie sich die absolute Unverwertbarkeit der auf dem Mobiltelefon gefundenen Beweismittel auf die tatsächlichen Grundlagen des Urteils auswirkt, den Sachverhalt neu erstellen und, soweit angezeigt, weitere Beweise abnehmen.

Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:

  1. Absolute Unverwertbarkeit von Beweismitteln: Die Abfrage von Zugangscodes zu Mobiltelefonen von Beschuldigten durch die Polizei während einer Hausdurchsuchung ohne vorgängige Belehrung über das Aussage- und Mitwirkungsverweigerungsrecht (Art. 158 Abs. 1 StPO) führt gemäss BGE 151 IV 73 zur absoluten Unverwertbarkeit der daraus gewonnenen Beweise (Art. 158 Abs. 2 i.V.m. Art. 141 Abs. 1 StPO). Dies betrifft im vorliegenden Fall sämtliche Textnachrichten des Beschwerdeführers.
  2. Willkürliche Beweiswürdigung: Die Vorinstanz hat den Sachverhalt (auch unabhängig von den unverwertbaren Beweismitteln) willkürlich festgestellt, indem sie entlastende Aussagen und konkrete Symptombeschreibungen ignorierte und pauschale Verdächtigungen ("zumeist aus massnahmenkritischen Gründen") ohne individuelle Prüfung zur Grundlage des Schuldspruchs machte.
  3. Anforderungen an ärztliche Zeugnisse: Ein ärztliches Zeugnis ist dann unwahr im Sinne von Art. 318 StGB, wenn es die subjektive ärztliche Überzeugung über den Gesundheitszustand nicht auf einer pflichtgemässen, tragfähigen und vertrauenswürdigen Beurteilungsgrundlage beruhen lässt, die den medizinischen Standards entspricht. Bloße Fahrlässigkeit bei der Ausstellung (z.B. oberflächliche Prüfung) ist seit dem 1. Juli 2023 straflos.
  4. Rückweisung: Das Bundesgericht hob das Urteil auf und wies die Sache an die Vorinstanz zurück, damit diese den Sachverhalt unter Berücksichtigung der unverwertbaren Beweismittel und einer willkürfreien Beweiswürdigung neu feststellt und gegebenenfalls weitere Beweise abnimmt.