Zusammenfassung von BGer-Urteil 2C_18/2025 vom 2. Oktober 2025

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Detaillierte Zusammenfassung des Urteils des Schweizerischen Bundesgerichts 2C_18/2025 vom 2. Oktober 2025 1. Einleitung und Streitgegenstand

Das vorliegende Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts (2C_18/2025 vom 2. Oktober 2025) betrifft die Beschwerde von A.__, einer 1987 geborenen tunesischen Staatsangehörigen, gegen einen Entscheid des Tribunal cantonal des Kantons Waadt vom 12. Dezember 2024. Dieses hatte die Verweigerung der Verlängerung ihrer Aufenthaltsbewilligung und die Anordnung ihrer Wegweisung aus der Schweiz durch den Service de la population des Kantons Waadt bestätigt. Die Beschwerdeführerin beantragte die Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung nach Art. 50 des Ausländer- und Integrationsgesetzes (AIG; SR 142.20), subsidiär die Feststellung einer Verletzung von Art. 3 und 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und die Gewährung einer vorläufigen Aufnahme nach Art. 83 AIG.

2. Sachverhalt

A._ reiste im März 2017 in die Schweiz ein und erhielt im April 2017 eine Aufenthaltsbewilligung zum Familiennachzug aufgrund einer eingetragenen Partnerschaft mit einer schweizerisch-tunesischen Doppelbürgerin. Im September 2019 teilte die Partnerin den Behörden mit, sie werde sich in Tunesien aufhalten, was jedoch keine Trennung bedeute, und meldete sich aus der Schweiz ab. Im April 2021 verweigerte der kantonale Dienst die Verlängerung der Bewilligung und ordnete die Wegweisung an, da er eine Trennung annahm. Nach der Rückkehr der Partnerin in die Schweiz und Wiederaufnahme des gemeinsamen Lebens im Mai 2021 wurde die Wegweisungsverfügung aufgehoben. Im März 2022 trennte sich das Paar endgültig, und die Partnerin verliess die Schweiz. Die Partnerschaft wurde im Oktober 2023 gerichtlich aufgelöst. Zwischen März 2017 und September 2023 bezog A._ Sozialhilfeleistungen in Höhe von über CHF 217'000. Der kantonale Dienst verweigerte daraufhin im Januar 2024 erneut die Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung und ordnete die Wegweisung an, was durch die kantonale Instanz bestätigt wurde.

3. Massgebende Rechtsgrundlagen

Das Bundesgericht hatte die Anwendung von Art. 50 Abs. 1 AIG (in Verbindung mit Art. 52 AIG für eingetragene Partnerschaften) zu prüfen, welcher unter bestimmten Voraussetzungen einen Anspruch auf Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung nach Auflösung der Partnerschaft vorsieht. Weiterhin waren die Integrationskriterien gemäss Art. 58a AIG sowie die Bestimmungen von Art. 3 EMRK (Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung) und subsidiär Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) von Bedeutung.

4. Erwägungen des Bundesgerichts 4.1 Zulässigkeit des Rechtsbehelfs

Das Bundesgericht stellte fest, dass die Beschwerde grundsätzlich zulässig ist, da die Beschwerdeführerin sich auf einen potenziellen Rechtsanspruch auf Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung gemäss Art. 50 Abs. 1 AIG berufen kann (Art. 83 lit. c Ziff. 2 BGG analog). Der subsidiär gestellte Antrag auf vorläufige Aufnahme nach Art. 83 AIG wurde jedoch als unzulässig erklärt, da diese Kompetenz ausschliesslich dem Staatssekretariat für Migration (SEM) bzw. dem Bundesverwaltungsgericht (BVGer) zusteht (Art. 83 Abs. 1 AIG i.V.m. Art. 113 BGG).

4.2 Prüfung des Anspruchs nach Art. 50 Abs. 1 lit. a AIG (Dauer der Partnerschaft und Integration)

Art. 50 Abs. 1 lit. a AIG gewährt dem ausländischen Ehegatten oder eingetragenen Partner einen Anspruch auf Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung, wenn die Ehe oder Partnerschaft mindestens drei Jahre gedauert hat und die Integration nach Art. 58a AIG erfolgreich ist. Diese beiden Bedingungen sind kumulativ (vgl. BGE 140 II 289 E. 3.5.3).

4.2.1 Kriterien der Integration nach Art. 58a AIG

Gemäss Art. 58a Abs. 1 AIG werden für die Beurteilung der Integration insbesondere der Respekt der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, der Werte der Bundesverfassung, Sprachkenntnisse und die Teilnahme am Wirtschaftsleben oder der Erwerb einer Bildung berücksichtigt. Eine erfolgreiche wirtschaftliche Integration erfordert, dass die Person für ihren Lebensunterhalt selbst aufkommt, keine Sozialhilfe bezieht und nicht unverhältnismässig verschuldet ist. Bei der Gesamtbeurteilung kann die Situation von Personen mit Behinderungen oder Krankheiten angemessen berücksichtigt werden (Art. 58a Abs. 2 AIG).

4.2.2 Anwendung auf den vorliegenden Fall

Das Bundesgericht bestätigte die Einschätzung des Kantonsgerichts, wonach die wirtschaftliche Integration der Beschwerdeführerin als "largement déficiente" (weitgehend mangelhaft) zu bezeichnen sei. Es wurde hervorgehoben, dass die Beschwerdeführerin seit ihrer Einreise im März 2017 bis dato kaum einer Erwerbstätigkeit nachgegangen ist (mit Ausnahme von 4.5 Monaten zu 40% und 4 Monaten zu 70% im Jahr 2023/2024) und über CHF 217'000 Sozialhilfe bezogen hat. Das Bundesgericht hielt fest, dass diese lange und weitgehende Abhängigkeit von der Sozialhilfe einen Mangel an wirtschaftlicher Integration darstellt. Der Umstand, dass die Beschwerdeführerin erst nach Kenntnis der drohenden Wegweisung eine Erwerbstätigkeit aufgenommen hat, vermag diesen über sechsjährigen Mangel nicht zu beheben. Auch die von ihr geltend gemachten gesundheitlichen Probleme wurden nicht als derart schwerwiegend erachtet, dass sie ihren Mangel an Integration im Sinne von Art. 58a Abs. 2 AIG entschuldigen könnten.

Somit konnte das Bundesgericht die Verneinung einer erfolgreichen Integration durch das Kantonsgericht, und damit die Ablehnung des Anspruchs nach Art. 50 Abs. 1 lit. a AIG, nicht beanstanden.

4.3 Prüfung des Anspruchs nach Art. 50 Abs. 1 lit. b AIG (Wichtige persönliche Gründe / Stark gefährdete Wiedereingliederung)

Art. 50 Abs. 1 lit. b AIG gewährt einen Anspruch auf Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung, wenn die Fortsetzung des Aufenthalts in der Schweiz aus wichtigen persönlichen Gründen erforderlich ist. Solche Gründe können insbesondere vorliegen, wenn die soziale Wiedereingliederung im Herkunftsland stark gefährdet erscheint (Art. 50 Abs. 2 lit. c AIG). Diese Bestimmung ist ein Auffangtatbestand für Härtefälle, die nicht unter Art. 50 Abs. 1 lit. a AIG fallen (vgl. BGE 138 II 393 E. 3.1).

4.3.1 Allgemeine Grundsätze und Härtefallbeurteilung

Die Beurteilung, ob wichtige persönliche Gründe vorliegen, ist eine Einzelfallprüfung, bei der die persönliche Situation der betroffenen Person im Vordergrund steht. Die Wegweisung muss zu Auswirkungen von erheblicher Intensität auf das Privat- und Familienleben führen (BGE 138 II 393 E. 3.1). Die Behörden verfügen dabei über einen gewissen humanitären Ermessensspielraum. Eine stark gefährdete Wiedereingliederung liegt vor, wenn die Bedingungen der sozialen Wiedereingliederung im Herkunftsland (persönlich, beruflich, familiär) erheblich beeinträchtigt wären (BGE 139 II 393 E. 6). Dies ist insbesondere der Fall bei rechtlichen Wegweisungshindernissen, wie einem konkreten Risiko unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Herkunftsland gemäss Art. 3 EMRK. In solchen Fällen hat die Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung nach Art. 50 Abs. 1 lit. b AIG Vorrang vor dem Asylverfahren oder einer vorläufigen Aufnahme.

4.3.2 Homosexualität als wichtiger persönlicher Grund im Lichte von Art. 3 EMRK

Das Bundesgericht hat in der Vergangenheit die Frage behandelt, ob Homosexualität die Wiedereingliederung im Herkunftsland stark gefährden kann. In früheren Urteilen (z.B. 2C_428/2013, 2C_459/2015) wurde dies verneint, wenn die Person im Herkunftsland bis zu einem gewissen Alter gelebt und dort eine "anonyme" Existenz geführt hatte, ohne dass ihre Homosexualität bekannt war oder ihr unmittelbar Schaden zufügte.

Das Bundesgericht verweist nun aber auch auf die neuere Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), die in Fällen, die auch die Schweiz betrafen, die Relevanz von Art. 3 EMRK für homosexuelle Personen im Kontext der Wegweisung betont. Der EGMR hat mehrfach klargestellt, dass die sexuelle Orientierung ein wesentlicher Bestandteil der Identität einer Person ist und niemand gezwungen werden sollte, diese zu verbergen, um Verfolgung zu entgehen (z.B. EGMR, I.K. c. Suisse vom 19. Dezember 2017, § 24; B. et C. c. Suisse vom 17. November 2020, § 57). Jüngst hat der EGMR in der Sache M.I. c. Suisse (vom 12. November 2024) eine Verletzung von Art. 3 EMRK festgestellt, weil die Schweiz das Risiko einer Misshandlung eines erwiesenen Homosexuellen im Iran, wo homosexuelle Handlungen schwer bestraft werden, nicht ausreichend geprüft hatte.

Dies bedeutet jedoch nicht, dass jede homosexuelle Person aus einem Land, das Homosexualität kriminalisiert, automatisch nicht weggewiesen werden darf. Es bedarf einer individuellen und sensiblen Prüfung der Glaubwürdigkeit der Homosexualität und des konkreten Risikos für die betroffene Person (EGMR, I.K. c. Suisse, § 27). Auch muss die strafrechtliche Verfolgung im Herkunftsland tatsächlich und aktiv umgesetzt werden.

4.3.3 Kritik an der Begründung des Kantonsgerichts und Rückweisung

Das Kantonsgericht hatte festgestellt, dass Homosexualität in Tunesien prinzipiell illegal ist, mit dreijähriger Haftstrafe sanktioniert wird und in der Praxis strafrechtlich verfolgt wird, wenn sie offen gelebt wird. Es anerkannte die täglichen Diskriminierungen und die schwierige Lage der LGBTI-Gemeinschaft in Tunesien. Dennoch hatte es die Wiedereingliederung der Beschwerdeführerin als nicht stark gefährdet eingeschätzt, da sie keine frühere Verfolgung nachweisen konnte und das Risiko durch ein "anonymeres Leben in der Hauptstadt" reduziert werden könnte.

Das Bundesgericht erachtete diese Argumentation als unzureichend. Es widerspricht der Rechtsprechung des EGMR, dass eine Person ihre sexuelle Orientierung – einen wesentlichen Teil ihrer Identität – verbergen muss, um Verfolgung zu entgehen. Die Ansicht, es genüge, die Homosexualität zu verbergen, um ein Risiko auszuschliessen, ist somit nicht haltbar. Zudem sei die sexuelle Orientierung der Beschwerdeführerin durch die eingetragene Partnerschaft in der Schweiz möglicherweise bereits öffentlich bekannt und daher im Herkunftsland nicht mehr verheimlichbar.

Das Bundesgericht betonte jedoch auch, dass die blosse Kriminalisierung und Verfolgung der Homosexualität in Tunesien allein noch nicht ausreicht, um ein konkretes Risiko einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder eine stark gefährdete Wiedereingliederung zu begründen. Diese Fragen bedürfen einer Einzelfallprüfung. Aktuell fehlen im Sachverhalt detaillierte Angaben zu den konkreten Verfolgungsrisiken in Tunesien. Es wurde zwar erwähnt, dass die Ex-Partnerin der Beschwerdeführerin nach Tunesien zurückgekehrt ist und die Beschwerdeführerin selbst bei einer Anhörung keine Angst vor einer Wegweisung geäussert hatte. Diese Punkte könnten die Situation relativieren, bedürfen aber weiterer Klärung.

Das Bundesgericht wies die Sache daher an das Kantonsgericht zurück, damit dieses den Sachverhalt weiter abklärt. Es soll präzisieren, welche konkreten Verhaltensweisen oder Situationen tatsächlich zu Verfolgungen führen und welche Gemeinschaften, Regionen oder sozialen Schichten betroffen sind. Die Beschwerdeführerin trägt dabei die Beweislast für ihre persönliche Situation und das konkrete Risiko. Erst nach dieser ergänzenden Abklärung kann neu beurteilt werden, ob ein reales Risiko einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK oder eine stark gefährdete soziale Wiedereingliederung aus anderen Gründen vorliegt. Sollte kein solcher Grund vorliegen, wäre immer noch eine Interessenabwägung im Hinblick auf die Sozialhilfeabhängigkeit (Art. 62 AIG) erforderlich.

5. Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte
  1. Ablehnung nach Art. 50 Abs. 1 lit. a AIG bestätigt: Das Bundesgericht bestätigt die Einschätzung der Vorinstanz, wonach die Beschwerdeführerin die Integrationskriterien gemäss Art. 58a AIG, insbesondere aufgrund ihrer langjährigen und hohen Sozialhilfeabhängigkeit, nicht erfüllt hat. Der Anspruch auf Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung nach dieser Bestimmung wird somit verneint.
  2. Rückweisung zur Prüfung nach Art. 50 Abs. 1 lit. b AIG (Härtefall): Die Vorinstanz hat den Anspruch nach Art. 50 Abs. 1 lit. b AIG (wichtige persönliche Gründe/stark gefährdete Wiedereingliederung) unzureichend geprüft.
  3. Bedeutung der Homosexualität und Art. 3 EMRK: Das Bundesgericht kritisiert die Annahme der Vorinstanz, die Beschwerdeführerin könne durch das Verbergen ihrer Homosexualität ein Risiko im Herkunftsland (Tunesien) abwenden. Unter Verweis auf die EMRK-Rechtsprechung betont es, dass die sexuelle Orientierung einen wesentlichen Teil der Identität darstellt und niemand gezwungen werden sollte, diese zu verbergen, um Verfolgung zu entgehen.
  4. Ergänzende Sachverhaltsabklärung erforderlich: Das Kantonsgericht muss nun detaillierter abklären, welche konkreten Risiken (strafrechtliche Verfolgung, Diskriminierung, Misshandlung) für die Beschwerdeführerin aufgrund ihrer Homosexualität bei einer Rückkehr nach Tunesien bestehen. Dabei sind die tatsächlichen Gegebenheiten der Verfolgung und die spezifische Situation der Beschwerdeführerin zu berücksichtigen.
  5. Entscheid: Das Bundesgericht heisst die Beschwerde insofern gut, als es den angefochtenen Entscheid des Kantonsgerichts aufhebt und die Sache zur weiteren Abklärung und neuen Entscheidung an dieses zurückweist.