Zusammenfassung von BGer-Urteil 9C_270/2024 vom 28. Oktober 2025

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Gerne fasse ich das Urteil des schweizerischen Bundesgerichts (9C_270/2024 vom 28. Oktober 2025) detailliert zusammen:

Detaillierte Zusammenfassung des Urteils 9C_270/2024 des Schweizerischen Bundesgerichts

1. Einleitung und Verfahrensgegenstand

Das Bundesgericht hatte über eine Beschwerde des Office de l'assurance-invalidité du canton de Genève (IV-Stelle Genf) gegen einen Entscheid der Cour de justice de la République et canton de Genève, Chambre des assurances sociales, vom 25. März 2024 zu befinden. Streitig war die Frage, ob der Intimé, ein französischer Staatsangehöriger und Minderjähriger mit Autismus-Spektrum-Störung, zum massgeblichen Zeitpunkt seinen Wohnsitz und gewöhnlichen Aufenthalt in der Schweiz hatte und somit Anspruch auf Leistungen der Invalidenversicherung (IV) – namentlich medizinische Massnahmen und eine Hilflosenentschädigung für Minderjährige – besass.

Die IV-Stelle hatte die Leistungsgesuche des Intimés am 13. September 2023 mit der Begründung abgelehnt, dessen gewöhnlicher Aufenthalt und Lebensmittelpunkt befänden sich in Frankreich. Die kantonale Instanz hob diese Ablehnungsentscheide auf und wies die Sache an die IV-Stelle zur materiellen Prüfung der weiteren Leistungsbedingungen zurück, da sie den Wohnsitz und gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes in Genf bejahte. Dagegen reichte die IV-Stelle Beschwerde beim Bundesgericht ein.

2. Präjudizialität der Beschwerde und rechtliche Grundlagen

Obwohl es sich beim angefochtenen kantonalen Urteil um einen Zwischenentscheid handelte, bejahte das Bundesgericht die Zulässigkeit der Beschwerde gemäss Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG. Es erkannte einen irreparablen Nachteil für die IV-Stelle, da diese andernfalls aufgrund des Rückweisungsentscheids eine neue Verfügung erlassen müsste, die ihrer Rechtsauffassung widerspräche, ohne diese später vor einer höheren Instanz anfechten zu können (vgl. ATF 144 V 280 E. 1.2).

Für die Beurteilung des Wohnsitzes und gewöhnlichen Aufenthalts sind Art. 13 ATSG und Art. 23 ff. ZGB massgebend. Gemäss Art. 13 Abs. 1 ATSG richtet sich der Wohnsitz einer Person nach Art. 23 bis 26 ZGB. Art. 13 Abs. 2 ATSG definiert den gewöhnlichen Aufenthalt als den Ort, an dem sich eine Person "eine gewisse Zeit aufhält, selbst wenn die Dauer dieses Aufenthalts von vornherein begrenzt ist". Der zivilrechtliche Wohnsitz nach Art. 23 Abs. 1 ZGB ist der des freiwilligen Wohnsitzes, wohingegen der abgeleitete Wohnsitz gemäss Art. 25 Abs. 2 ZGB für Personen unter Beistandschaft ausgeschlossen ist (ATF 130 V 404 E. 5 und 6).

Für Kinder unter elterlicher Sorge bestimmt Art. 25 Abs. 1 ZGB, dass sie den Wohnsitz der Eltern teilen. Haben die Eltern keinen gemeinsamen Wohnsitz, so ist der Wohnsitz desjenigen Elternteils massgebend, der die Obhut innehat. Subsidiär wird der Wohnsitz durch den Ort des Aufenthalts bestimmt. Die Vorinstanz hatte zudem zutreffend auf die "Kaskade von Kriterien" (Guillod) und die Notwendigkeit der Bestimmung des Wohnortes anhand der engsten Bindungen des Kindes verwiesen, wenn der Wohnsitz nicht eindeutig über die Obhut bestimmt werden kann (ATF 144 V 299 E. 5.3.3). Dabei sind weitere Kriterien wie der Ort der Beschulung, der Vorschul- und Nachschulbetreuung, sportliche oder künstlerische Aktivitäten und die Anwesenheit weiterer Bezugspersonen zu berücksichtigen.

3. Sachverhaltsfeststellungen und Würdigung der Vorinstanz

Die kantonale Instanz stellte aufgrund der Anhörungen der Eltern und der IV-Stelle fest, dass der Intimé seit dem 19. Juni 2022 beim Vater in Genf wohnhaft sei, wo dieser erwerbstätig ist. Die Mutter lebe mit dem jüngeren Bruder des Intimés in Frankreich (U.__, eine Grenzgänger-Gemeinde). Seit dem Schuljahr 2023 werde der Intimé in Frankreich beschult und verbringe seine Zeit zwischen den Wohnsitzen der verheirateten Eltern, die beide die elterliche Sorge innehaben. Konkret lebe der Intimé von Dienstagnachmittag bis Mittwochabend, Donnerstagsabend bis Freitagnachmittag und Samstagnachmittag bis Sonntagabend beim Vater in Genf.

Gestützt auf diese Feststellungen und unter Verweis auf das Urteil 5A_712/2022 vom 21. Februar 2023, bejahte die Vorinstanz eine "faktische Obhut" des Vaters, woraus sie den Wohnsitz des Kindes beim Vater in Genf gemäss Art. 25 Abs. 1 ZGB ableitete. Die Einschulung in Frankreich wurde dabei mit der Begründung relativiert, dass das Kind aufgrund seiner Autismus-Spektrum-Störung und erheblichen Beziehungsschwierigkeiten keine sozialen Bindungen in der Schule in Frankreich aufgebaut habe und auch keine sportlichen oder künstlerischen Aktivitäten dort ausübe. Hingegen werde es in Genf von spezialisierten Therapeuten betreut. Die Vorinstanz kam daher zum Schluss, dass der Wohnsitz und gewöhnliche Aufenthalt des Intimés in Genf seien.

4. Rüge der IV-Stelle und Erwägungen des Bundesgerichts

Die IV-Stelle rügte eine willkürliche Sachverhaltsfeststellung durch die Vorinstanz, insbesondere hinsichtlich der Anerkennung des Wohnsitzes des Vaters in der Schweiz und einer "faktischen Obhut" des Vaters. Sie argumentierte, dass das Kind – entgegen der Annahme der Vorinstanz – mehr Zeit in Frankreich verbringe. Der Vater hingegen betonte seine primäre Betreuung seit Juni 2022 und erwähnte seine Bemühungen, einen familiengerechten Wohnraum in Genf zu finden.

Das Bundesgericht hielt zunächst fest, dass der massgebliche Zeitpunkt für die Beurteilung der Leistungsberechtigung der Zeitpunkt der administrativen Entscheidungen sei (13. September 2023; vgl. ATF 144 V 210 E. 4.3.1). Folglich seien die späteren Bemühungen des Vaters um eine neue Wohnung in V.__ ab Juni 2024 sowie die dazu eingereichten Unterlagen unbeachtlich (Art. 99 Abs. 1 BGG).

5. Detaillierte Begründung des Bundesgerichts zur Willkür

Das Bundesgericht gab der Rüge der IV-Stelle wegen willkürlicher Sachverhaltsfeststellung statt und begründete dies wie folgt:

  • Widersprüchliche Feststellungen der Vorinstanz:

    • Die Vorinstanz hatte festgestellt, dass der Intimé 6 halbe Tage pro Woche in Genf und 7 bis 8 halbe Tage in Frankreich verbrachte, sowie 3 Nächte in Genf und 4 Nächte in Frankreich. Ihre Schlussfolgerung, das Kind verbringe "mindestens die Hälfte der Zeit in Genf", stehe in offenem Widerspruch zu diesen eigenen Zahlen und sei daher manifest unrichtig.
    • Ebenso widersprüchlich sei die Feststellung, der Vater sei immer anwesend gewesen, wenn der Intimé bei der Mutter war. Die Vorinstanz hatte gleichzeitig festgestellt, dass das Kind montags vor und nach der Schule sowie donnerstags nach der Schule ausschliesslich von der Mutter betreut wurde. Der Vater hatte zudem eingeräumt, dass die Mutter das Kind eher betreute, wenn es unter der Woche krank war, während er selbst sich stärker um das Kind kümmerte, wenn es gesund war.
    • Die kantonalen Feststellungen waren unvollständig, da der Vater das Kind auch in der Familienwohnung in Frankreich betreute, insbesondere während der Nächte, die das Kind dort verbrachte.
  • Willkürliche Würdigung der engsten Bindungen und sozialer Beziehungen:

    • Das Bundesgericht rügte, dass die Vorinstanz wesentliche Fakten nicht berücksichtigt habe: Die Familie lebte in Frankreich in einer Dreizimmerwohnung, in der die Mutter und der jüngere Bruder dauerhaft wohnten, während der Vater aus beruflichen Gründen nur eine 1.5-Zimmer-Wohnung in Genf gemietet hatte.
    • Die Vorinstanz habe auch nicht berücksichtigt, dass der Vater das Kind im grösseren Familienapartment in Frankreich mitbetreute, insbesondere nachts, da die Mutter aufgrund chronischer Depressionen nicht in der Lage war, die Schlafprobleme des Kindes alleine zu bewältigen.
    • Entscheidend sei auch, dass die Vorinstanz die Beziehungen des Kindes zur Mutter und zum Bruder in ihrer Würdigung der sozialen Bindungen nicht beachtete. Dies sei angesichts der Autismus-Diagnose, die dem Kind das Knüpfen von Beziehungen zu fremden Personen erschwere, besonders relevant. Die Vorinstanz habe damit zu Unrecht familiäre Beziehungen vernachlässigt, während sie gleichzeitig die Beziehungen zu Therapeuten in Genf berücksichtigte.
    • Die Tatsache, dass die Mutter sich allein um die Mahlzeiten der Familie kümmerte, sei ein weiterer Hinweis darauf, dass das Familienleben hauptsächlich in Frankreich stattfand.
    • Bemühungen des Vaters um Freizeitaktivitäten oder eine Familienwohnung in Genf seien irrelevant, da sie sich zum massgeblichen Zeitpunkt nicht realisiert hatten.
    • Das Bundesgericht kritisierte zudem, dass die kantonale Instanz fast einseitig die Version des Vaters übernommen und die der Mutter vollständig ignoriert habe.
  • Präponderanz des Schulorts:

    • Unter Verweis auf ATF 144 V 299 E. 5.3.3.4 betonte das Bundesgericht, dass der Schulort bei der Bestimmung der engsten Bindungen des Kindes eine präponderante Bedeutung erlange. Obwohl der Intimé aufgrund seiner Erkrankung keine sozialen Bindungen in der Schule aufbauen konnte, besuchte er seit dem Schuljahr 2023 regelmässig eine Schule in U.__ (Frankreich), wo auch sein jüngerer Bruder eingeschult war. Eine frühere Einschulung in der Schweiz im August 2022 musste aufgrund der Inkompatibilität mit der Arbeitszeit des Vaters rasch abgebrochen werden, worauf die Eltern die erneute Einschulung in Frankreich beschlossen.

Aus all diesen Gründen kam das Bundesgericht zum Schluss, dass der Lebensmittelpunkt und der gewöhnliche Aufenthalt des Intimés im Sinne von Art. 25 Abs. 1 ZGB zum massgeblichen Zeitpunkt in U.__, d.h. in Frankreich, lagen.

6. Entscheid und Kosten

Das Bundesgericht hiess die Beschwerde der IV-Stelle Genf gut, hob das Urteil der kantonalen Instanz auf und bestätigte die ursprünglichen Ablehnungsentscheide der IV-Stelle vom 13. September 2023. Der Intimé, als unterliegende Partei, wurde zur Tragung der Gerichtskosten von 500 CHF verpflichtet (Art. 66 Abs. 1 BGG). Die Sache wurde zur Neuregelung der kantonalen Kosten an die Vorinstanz zurückgewiesen.

Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:

Das Bundesgericht hat die Beschwerde der IV-Stelle Genf gutgeheissen und entschieden, dass ein minderjähriges Kind mit Autismus-Spektrum-Störung, das in Frankreich zur Schule geht und dessen Familie einen geteilten Wohnsitz zwischen der Schweiz (Vater) und Frankreich (Mutter und Bruder) hat, keinen Wohnsitz und gewöhnlichen Aufenthalt in der Schweiz für den Bezug von IV-Leistungen hatte.

Entscheidende Punkte: 1. Massgeblicher Zeitpunkt: Der Sachverhalt zum Zeitpunkt der administrativen Ablehnungsentscheide (13. September 2023) ist entscheidend; spätere Fakten (z.B. neue Wohnungspläne) sind irrelevant. 2. Willkürliche Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz: Das Bundesgericht rügte die Vorinstanz für widersprüchliche Feststellungen zu den Aufenthaltszeiten des Kindes und für die unvollständige sowie einseitige Würdigung der familiären Lebenssituation. Insbesondere wurde kritisiert, dass die Rolle der Mutter und die Beziehungen des Kindes zum Bruder in Frankreich sowie die dortige Wohnsituation ungenügend berücksichtigt wurden, während die Relevanz der sozialen Beziehungen in der Familie angesichts der Autismus-Diagnose des Kindes verkannt wurde. 3. Bedeutung des Schulorts: Der regelmässige Schulbesuch in Frankreich, zusammen mit dem Scheitern einer früheren Einschulung in der Schweiz, wurde als präponderantes Kriterium für die Bestimmung des Lebensmittelpunkts und gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes in Frankreich gewertet. 4. Ergebnis: Da der Lebensmittelpunkt des Kindes in Frankreich lag, erfüllte es die Wohnsitzvoraussetzungen für Schweizer IV-Leistungen nicht. Die Ablehnungsentscheide der IV-Stelle wurden somit bestätigt.