Zusammenfassung des Urteils des Schweizerischen Bundesgerichts 9C_556/2024 vom 11. Oktober 2025
1. Einleitung und Sachverhalt
Das vorliegende Urteil des Bundesgerichts befasst sich mit einer Beschwerde der MWST-Gruppe A.__ AG (nachfolgend: Steuerpflichtige) gegen ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts. Im Zentrum des Rechtsstreits steht die mehrwertsteuerrechtliche Qualifikation von zwei Leistungskomponenten, die von der Steuerpflichtigen während der Steuerperioden 2014 bis 2018 erbracht wurden: die Organisation und Durchführung von Schulungsprogrammen im Ausland sowie das Anbieten von Versicherungsschutz für die Reiseteilnehmer. Die Eidgenössische Steuerverwaltung (ESTV) hatte im Rahmen einer Kontrolle eine Vorsteuerkorrektur von ursprünglich Fr. 423'046.- vorgenommen, die im Einspracheverfahren auf Fr. 264'047.- (später von der ESTV auf Fr. 267'047.- korrigiert) reduziert wurde. Die Steuerpflichtige wehrte sich gegen diese Nachbelastung und beantragte primär eine Reduktion der Nachbelastung bzw. eventualiter eine Rückweisung der Sache zur Neuberechnung der Vorsteuerkorrektur.
Die Steuerpflichtige ist eine MWST-Gruppe, deren Mitglieder (u.a. B._ AG und C._ AG) weltweit Sprachreisen, Sprachkurse und Schüleraustauschprogramme organisieren. Um an einem Schulungsprogramm teilnehmen zu können, ist ein ausreichender Versicherungsschutz obligatorisch. Diesen können die Reiseteilnehmer entweder selbst beschaffen oder als Zusatzleistung ("Package") über die Steuerpflichtige beziehen. Hierfür unterhält die Steuerpflichtige einen Gruppenversicherungsvertrag mit der schwedischen D.__ AB. Die Steuerpflichtige fakturiert den versicherten Reiseteilnehmern die Prämie gesondert und in eigenem Namen.
2. Kernpunkt des Rechtsstreits
Der Hauptstreitpunkt betrifft die Frage, ob die von der Steuerpflichtigen angebotenen Versicherungsleistungen als eigenständige Hauptleistungen oder als unselbständige Nebenleistungen zu den Schulungsprogrammen im Ausland zu qualifizieren sind. Diese Qualifikation ist entscheidend für das Recht auf Vorsteuerabzug der Steuerpflichtigen.
3. Rechtliche Ausgangslage und Begründung des Bundesgerichts
3.1 Unbestrittene Qualifikation der Leistungen:
* Schulungsprogramme im Ausland: Die Parteien sind sich einig, dass es sich hierbei um Dienstleistungen im Bereich der Erziehung und Bildung (Art. 21 Abs. 2 Ziff. 11 lit. a und d MWSTG) handelt. Diese sind von der Mehrwertsteuer ausgenommen, aber optierbar (Art. 22 Abs. 2 lit. a MWSTG). Da der Ort dieser Dienstleistungen im Ausland liegt (Art. 8 Abs. 2 lit. c MWSTG e contrario), ist die Steuerpflichtige berechtigt, die im Inland angefallenen Vorsteuern im Zusammenhang mit diesen Leistungen abzuziehen (Art. 60 MWSTV / Art. 29 Abs. 1bis MWSTG).
* Versicherungsleistungen: Die Parteien stimmen ebenfalls überein, dass die von der Steuerpflichtigen verschafften Versicherungsleistungen als steuerausgenommene Leistungen im Bereich des Versicherungswesens (Art. 21 Abs. 2 Ziff. 18 lit. a MWSTG) zu qualifizieren sind. Solche Leistungen sind nicht optierbar (Art. 22 Abs. 2 lit. a MWSTG). Folglich ist ein Vorsteuerabzug für inländische Vorsteuern im Zusammenhang mit diesen Leistungen grundsätzlich ausgeschlossen (Art. 29 Abs. 1 MWSTG).
3.2 Abgrenzung zwischen Haupt- und Nebenleistung (Art. 19 MWSTG):
Die entscheidende Frage ist, ob die Versicherungsleistung eine unselbständige Nebenleistung zur Hauptleistung (Schulungsprogramm) darstellt und somit deren mehrwertsteuerrechtliches Schicksal teilt (Art. 19 Abs. 4 MWSTG), oder ob es sich um zwei eigenständige Hauptleistungen handelt (Art. 19 Abs. 1 MWSTG).
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Grundsätze der Leistungsbeurteilung: Das Bundesgericht betont, dass grundsätzlich jede einzelne Leistung eines steuerpflichtigen Unternehmensträgers einzeln zu würdigen ist (Art. 19 Abs. 1 MWSTG). Ausnahmen, die eine zusammenfassende Würdigung zulassen, sind restriktiv auszulegen. Diese sind:
- Wirtschaftliche Sachgesamtheit oder Leistungskombination (Art. 19 Abs. 2 MWSTG).
- Wirtschaftlich eng zusammengehörende, unteilbare Gesamtleistung (Art. 19 Abs. 3 MWSTG, "chemische" Verbindung).
- Wirtschaftlich über- und untergeordnete Leistungen (Art. 19 Abs. 4 MWSTG, "Subordination" oder "Primat der Hauptleistung").
Der vorliegende Fall konzentrierte sich auf Art. 19 Abs. 4 MWSTG. Die Beurteilung erfolgt primär aufgrund objektiver wirtschaftlicher Überlegungen aus der Optik der betreffenden Verbrauchergruppe.
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Kriterien für eine unselbständige Nebenleistung: In Anlehnung an die Rechtsprechung, insbesondere des Europäischen Gerichtshofs (z.B. Rs. C-349/96 Card Protection Plan Ltd), gilt eine Leistung als unselbständige Nebenleistung, wenn sie kumulativ:
- im Vergleich zur Hauptleistung nebensächlich ist;
- mit der Hauptleistung eng zusammenhängt;
- die Hauptleistung wirtschaftlich ergänzt, sie verbessert oder abrundet; und
- üblicherweise mit der Hauptleistung vorkommt.
Eine Nebenleistung erfüllt "keinen eigenen Zweck", sondern stellt "lediglich das Mittel dar, um die Hauptleistung unter 'optimalen Bedingungen' in Anspruch zu nehmen". Der Gesetzgeber verdeutlicht diese qualitative Anforderung an Art. 19 Abs. 4 MWSTG exemplarisch durch "Umschliessungen und Verpackungen".
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Querverweise auf ähnliche Entscheidungen (Schweiz und Deutschland):
- Schweizerische Rechtsprechung: Das Bundesgericht verweist auf das Urteil 2C_969/2015, welches festhielt, dass eine "gewisse Nähe" zwischen Leistungen nicht zwingend eine Subordination begründet, wenn die Leistungen eine "unterschiedliche Stossrichtung" verfolgen und auf dem Markt separat bezogen werden können (dort: Zentralregulierung und Bürgschaftsbesorgung). Eine Flasche für Wasser ist ein Beispiel für eine Nebenleistung, da sie keinen separaten Zweck erfüllt.
- Deutsche Rechtsprechung (als Erkenntnisquelle): Das Bundesgericht zieht Urteile des deutschen Bundesfinanzhofs (BFH) heran, die die Qualifikation von "ergänzenden" Versicherungsleistungen betreffen:
- BFH V R 67/01 (KfZ-Lieferung und Versicherung): Die Versicherung wurde als eigenständige Leistung und nicht als unselbständige Nebenleistung zur Fahrzeuglieferung beurteilt, da ihr Zweck nicht nur in der "optimalen Inanspruchnahme" der Hauptleistung liegt.
- BFH V R 24/02 (Reiseveranstalter und obligatorische Reiserücktrittskostenversicherung): Auch hier wurde die Versicherung als selbständige steuerausgenommene Leistung neben der Reiseleistung eingestuft.
3.3 Anwendung auf den vorliegenden Fall:
Das Bundesgericht folgt der Argumentation der Vorinstanz und beurteilt die Versicherungsleistungen als eigenständige Hauptleistungen nach Art. 19 Abs. 1 MWSTG.
- Unterschiedliche Stossrichtung: Die Schulungsprogramme und die Versicherungsleistungen verfolgen eine "unterschiedliche Stossrichtung". Die Bildungsleistung kann, muss aber nicht zwingend mit einer Versicherungsleistung abgesichert werden. Die Versicherungsleistung ist kein "bloßes Mittel", um die Hauptleistung (Schulungsprogramm) unter optimalen Bedingungen in Anspruch zu nehmen. Die strikte Trennung entspricht dem Grundsatz, weder künstlich eine Einheit noch künstlich eine Mehrheit von Leistungen anzunehmen, und ist im Einklang mit der Sichtweise des EUGH und BFH.
- Kriterium "üblicherweise vorkommt" nicht erfüllt: Es ist gerichtsnotorisch, dass Reiseversicherungen oft bereits in anderen Policen enthalten sind oder losgelöst von (Pauschal-)Reisen abgeschlossen werden. Es kann daher nicht gesagt werden, dass der angebotene Versicherungsschutz "üblicherweise" mit dem Schulungsprogramm zusammen vorkommt. Das vierte kumulative Kriterium für eine Nebenleistung ist somit nicht erfüllt.
- Hohe Anforderungen an Subordination: Das Beispiel der "Umschliessungen und Verpackungen" verdeutlicht die hohen qualitativen Anforderungen an eine Nebenleistung. Eine Flasche ist untrennbar mit dem Inhalt verbunden, während eine Reiseversicherung eine eigenständige Absicherung gegen diverse Risiken darstellt, die auch anderweitig oder separat gedeckt werden können.
3.4 Vorsteuerkorrektur bei gemischter Verwendung:
- Bestätigung der Dreitopfmethode: Da eine gemischte Verwendung von Leistungen vorliegt (Vorsteuerabzug bei Bildung, kein Vorsteuerabzug bei Versicherung), ist eine Korrektur des Vorsteuerabzugs notwendig. Die ESTV hat die sog. "Dreitopfmethode" angewandt, indem sie Vorsteuerbeträge dem Topf A (voller Vorsteuerabzug) oder Topf C (gemischt verwendeter Bereich) zugeteilt hat. Für Topf C wurde ein Umsatzschlüssel verwendet.
- Rechtmässigkeit des Umsatzschlüssels: Das Bundesgericht erachtet die Anwendung des Umsatzschlüssels als bundesrechtlich einwandfrei, insbesondere da keine direkten vorsteuerbelasteten Aufwendungen den Versicherungsleistungen zugeordnet werden konnten. Die Argumentation der Steuerpflichtigen, die gewählte Methode sei nicht sachgerecht und führe zu willkürlichen Ergebnissen, genügt nicht den qualifizierten Rüge- und Begründungsobliegenheiten (Art. 97 i.V.m. Art. 105 Abs. 2 und Art. 106 Abs. 2 BGG).
4. Entscheid
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde teilweise gut, indem es das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts bezüglich der Steuerperiode 2014 aufhebt, da hierfür die absolute Festsetzungsverjährung eingetreten ist. Im Übrigen, d.h. für die Steuerperioden 2015 bis 2018, weist das Bundesgericht die Beschwerde ab.
5. Kurzfassung der wesentlichen Punkte:
- Leistungsqualifikation: Die Organisation von Schulungsprogrammen im Ausland und das Anbieten von Reiseversicherungen sind als zwei eigenständige Hauptleistungen (Art. 19 Abs. 1 MWSTG) zu qualifizieren, nicht als Haupt- und Nebenleistung (Art. 19 Abs. 4 MWSTG).
- Kriterien für Nebenleistung nicht erfüllt: Insbesondere fehlt es am Kriterium, dass die Versicherungsleistung "üblicherweise mit der Hauptleistung" (Schulungsprogramm) vorkommt, da Reiseversicherungen oft separat gedeckt oder erworben werden können. Die Leistungen verfolgen zudem eine "unterschiedliche Stossrichtung".
- Vorsteuerabzug: Für die Schulungsprogramme ist der Vorsteuerabzug zulässig (steuerbefreite, aber optierbare Leistungen mit Leistungsort im Ausland). Für die Versicherungsleistungen ist der Vorsteuerabzug aufgrund der Steuerausnahme und der fehlenden Optierbarkeit nicht zulässig.
- Vorsteuerkorrektur: Die von der ESTV angewandte "Dreitopfmethode" mit dem "Umsatzschlüssel" zur Korrektur des Vorsteuerabzugs bei gemischter Verwendung ist bundesrechtlich korrekt.
- Verjährung: Die Beschwerde wird nur teilweise gutgeheissen, da für die Steuerperiode 2014 die absolute Festsetzungsverjährung eingetreten ist. Für die übrigen Perioden (2015-2018) wird die Beschwerde abgewiesen.