Im Urteil 5A_173/2025 vom 16. Oktober 2025 hatte das Schweizerische Bundesgericht über eine Beschwerde gegen die Anordnung der gemeinsamen elterlichen Sorge zu befinden. Die Beschwerdeführerin, die Mutter des Kindes, beantragte die Aufhebung der gemeinsamen Sorge und die Belassung der alleinigen elterlichen Sorge bei ihr.
1. Sachverhalt
A._ (Mutter, Beschwerdeführerin) und B._ (Vater, Beschwerdegegner) sind die unverheirateten Eltern von C.__, geboren 2021. Auf Gesuch des Vaters hin stellte die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) Stadt Luzern das Kind unter die gemeinsame elterliche Sorge der Eltern. Die dagegen von der Mutter erhobene Beschwerde wies das Kantonsgericht Luzern mit Urteil vom 19. November 2024 ab. Die Mutter focht diesen Entscheid mit Beschwerde beim Bundesgericht an.
2. Rechtliche Grundlagen und Prüfungsmaßstäbe des Bundesgerichts
Das Bundesgericht legte zunächst die massgebenden rechtlichen Grundlagen und seinen Prüfungsmaßstab dar:
- Grundsatz der gemeinsamen elterlichen Sorge (Art. 296 Abs. 2 ZGB): Kinder stehen, solange sie minderjährig sind, grundsätzlich unter der gemeinsamen elterlichen Sorge von Mutter und Vater. Bei unverheirateten Eltern kommt die gemeinsame Sorge gestützt auf eine gemeinsame Erklärung der Eltern (Art. 298a Abs. 1 ZGB) oder, falls ein Elternteil die Erklärung verweigert, auf Verfügung der Kindesschutzbehörde zustande (Art. 298b Abs. 1 ZGB).
- Abweichung vom Grundsatz (Art. 298b Abs. 2 ZGB): Die Kindesschutzbehörde verfügt die gemeinsame elterliche Sorge, es sei denn, die Wahrung des Kindeswohls erfordere die Beibehaltung der alleinigen elterlichen Sorge der Mutter oder die Übertragung der alleinigen Sorge an den Vater.
- Kindeswohlprinzip: Die gemeinsame elterliche Sorge bildet den Grundsatz, da angenommen wird, dass sie dem Wohl der minderjährigen Kinder am besten dient. Eine Abweichung ist nur dann zulässig, wenn eine andere Lösung die Interessen des Kindes ausnahmsweise besser wahrt (BGE 143 III 361 E. 7.3.2). Für die Zuteilung der alleinigen elterlichen Sorge gelten dabei nicht gleich strenge Voraussetzungen wie für den Entzug der Sorge als Kindesschutzmassnahme nach Art. 311 ZGB (BGE 141 III 472 E. 4).
- Voraussetzungen für alleinige Sorge: Eine Ausnahme kommt in Betracht, wenn die Eltern in einem schwerwiegenden Dauerkonflikt stehen oder in Kinderbelangen anhaltend kommunikationsunfähig sind. Blosse Auseinandersetzungen oder Meinungsverschiedenheiten, die in allen Familien vorkommen können, sind kein Grund für eine Alleinzuteilung (BGE 142 III 197 E. 3.5). Die Probleme müssen sich auf die Kinderbelange als Ganzes beziehen und das Kindeswohl konkret beeinträchtigen (Urteil 5A_497/2017). Zudem muss die Belassung der Alleinsorge eine Entlastung der Situation versprechen (BGE 142 III 197 E. 3.7). Wenn die elterliche Sorge den Eltern gemeinsam zustehen soll, ist ein Mindestmass an Übereinstimmung und einvernehmlichem Handeln in grundsätzlichen Kinderbelangen erforderlich. Fehlt dies, kann dies zu einer Belastung des Kindes und zur Verschleppung wichtiger Entscheidungen führen (BGE 142 III 197 E. 3.5). Bei der Anordnung der gemeinsamen Sorge nach Art. 298b Abs. 2 ZGB ist nur dann davon abzusehen, wenn eine bestehende Beeinträchtigung des Kindeswohls durch Elternebene-Streitigkeiten entscheidend verstärkt würde (Urteil 5A_609/2016 E. 2.2).
- Prüfungsmaßstab des Bundesgerichts:
- Rechtsanwendung: Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG), prüft jedoch nur formell ausreichend begründete Einwände (Art. 42 Abs. 2 BGG). Für verfassungsmässige Rechte gilt das strenge Rügeprinzip (Art. 106 Abs. 2 BGG).
- Sachverhaltsfeststellung: Das Bundesgericht legt seinen Entscheid den vorinstanzlichen Sachverhaltsfeststellungen zugrunde (Art. 105 Abs. 1 BGG). Eine Korrektur erfolgt nur bei offensichtlicher Unrichtigkeit (Willkür) oder einer anderen Rechtsverletzung (Art. 97 Abs. 1 BGG). Für Willkürrügen gilt ebenfalls das strenge Rügeprinzip.
- Ermessensentscheide: Bei der Überprüfung von Ermessensentscheiden (wie Sorgerechtsentscheiden, Art. 4 ZGB) übt das Bundesgericht Zurückhaltung. Es schreitet nur ein, wenn die Vorinstanz grundlos von anerkannten Grundsätzen abgewichen ist, irrelevante Gesichtspunkte berücksichtigt oder rechtserhebliche Umstände ausser Acht gelassen hat, oder wenn der Entscheid im Ergebnis offensichtlich unbillig ist (BGE 142 III 617 E. 3.2.5).
3. Begründung der Vorinstanz
Das Kantonsgericht Luzern hatte die Beschwerde der Mutter mit folgender Begründung abgewiesen:
- Es bestünden zwischen den Parteien Kommunikationsschwierigkeiten, diese seien jedoch nach bundesgerichtlicher Praxis nicht ausreichend, um die gemeinsame elterliche Sorge auszuschliessen.
- Für das Kind sei eine Beistandschaft mit detailliertem Aufgabenkatalog eingerichtet, die auch Hilfestellungen bei gemeinsamen Entscheidungen der Eltern umfasst.
- Die Mutter habe keine tatsachenbasierte Sachverhaltsprognose liefern können, dass sich die bestehenden Schwierigkeiten durch die gemeinsame Sorge spürbar verstärken würden. Die Behauptungen der Mutter wurden vom Vater glaubhaft bestritten.
- Die bestehenden Schwierigkeiten seien zu einem massgebenden Teil durch die Krankheit der Mutter begründet und zeigten sich auch im Umgang mit Dritten (Abbrüche von Aufenthalten der Mutter mit dem Kind in Institutionen wegen ihres Verhaltens). Die Belassung der alleinigen Sorge bei der Mutter würde die Situation nicht entlasten.
- Der Vater nehme sein Besuchsrecht regelmässig und zuverlässig wahr und pflege eine vertraute Beziehung zum Kind. Eine Stiftung bescheinige ihm Kooperationsbereitschaft.
- Ein angeblicher Gewaltvorfall des Vaters gegenüber der Mutter im Mai 2023 würde, selbst wenn er erwiesen wäre, als einmalige Tätlichkeit allein nicht gegen die gemeinsame Sorge sprechen. Eine Zeugenbefragung hierzu sei nicht notwendig.
- Die Vorstrafen des Vaters (Verkehrsregelverletzungen, Waffengesetz) und frühere Tätigkeiten (Bordellbetreiber, Callboy, angebliche Hanfplantage) stellten ebenfalls keine Gründe dar, die gemeinsame Sorge zu verweigern.
- Die Stellungnahmen der Psychotherapeutin der Mutter (H._) und einer Fachstelle (I._) wurden als nicht unabhängige bzw. nicht aktuelle Darstellungen eingestuft. Das Gericht stellte fest, dass die Kommunikationsschwierigkeiten nicht allein dem Vater anzulasten seien und die Mutter ebenfalls daran beteiligt sei, auch wenn dies krankheitsbedingt sei. Finanzielle Forderungen der Mutter würden vom Vater teilweise als "überrissen" erachtet.
- Die Befürchtungen der Mutter bezüglich medizinischer Notfälle, religiöser Erziehung oder schulischer Bildung seien unbegründet. Die Mutter habe es auch unter alleiniger Sorge nicht geschafft, das Kind taufen zu lassen; der Vater sei nicht gegen die Taufe, sondern gegen ein aufwändiges Fest.
4. Rügen der Beschwerdeführerin und Würdigung durch das Bundesgericht
Die Beschwerdeführerin erhob verschiedene Sachverhalts- und Rechtsrügen:
- Willkürliche Beweiswürdigung und unrichtige Sachverhaltsfeststellung bezüglich des Elternkonflikts: Die Mutter rügte, die Vorinstanz habe den Elternkonflikt nicht in seiner schwerwiegenden Tragweite erkannt und von einem schwerwiegenden Dauerkonflikt mit völliger Kommunikationsunfähigkeit in sämtlichen Kinderbelangen auszugehen.
- Würdigung durch Bundesgericht: Das Bundesgericht hielt fest, die Beschwerdeführerin stelle lediglich ihre eigene Sichtweise der vorinstanzlichen Würdigung gegenüber. Die Vorinstanz habe "nicht zu unterschätzende Kommunikationsschwierigkeiten" festgestellt, nicht jedoch einen schwerwiegenden Dauerkonflikt. Sie habe zudem festgestellt, dass die Schwierigkeiten überwiegend auf die Krankheit der Mutter zurückzuführen seien und auch im Kontakt mit Dritten aufträten. Die Mutter habe sich mit diesen Feststellungen nicht auseinandergesetzt. Auch der angebliche Gewaltvorfall sei nicht geeignet, einen schwerwiegenden Dauerkonflikt zu belegen, da eine einmalige Tätlichkeit allein nicht gegen die gemeinsame Sorge spreche und die Mutter dessen Entscheidungsrelevanz nicht dargelegt habe. Die Vorinstanz sei auch nicht willkürlich vorgegangen, indem sie die Stellungnahmen Dritter inhaltlich gewürdigt und nicht pauschal unberücksichtigt gelassen habe, sondern konkrete Gründe für deren Relativierung dargelegt habe (z.B. nicht unabhängig, nicht aktuell, Kommunikationsschwierigkeiten nicht einseitig).
- Willkürliche Sachverhaltsfeststellung bezüglich der Auswirkung auf das Kindeswohl: Die Mutter behauptete, die gemeinsame Sorge würde die Gesamtsituation für das Kind massiv verschlechtern und Loyalitätskonflikte sowie langwierige Verfahren auslösen, und führte kulturelle und religiöse Differenzen ins Feld.
- Würdigung durch Bundesgericht: Das Bundesgericht stellte fest, dass die Mutter hier eine eigene Beweiswürdigung vornahm und keine substanziierte Rüge der Willkür erhob. Es gelang ihr nicht, die vorinstanzlichen Annahmen als willkürlich auszuweisen, wonach die alleinige Sorge die Situation nicht entlasten würde und die gemeinsame Sorge den Konflikt nicht spürbar verstärken würde.
- Unvollständige Sachverhaltsfeststellung (Verletzung der Offizial- und Untersuchungsmaxime): Die Mutter warf der Vorinstanz vor, den Sachverhalt nicht von Amtes wegen erforscht und keine tatsachenbasierte Sachverhaltsprognose vorgenommen zu haben.
- Würdigung durch Bundesgericht: Das Bundesgericht wies die Rüge zurück, da die Vorinstanz eine faktengestützte Prognose getroffen und konkrete Feststellungen zu zukünftigen Entscheidungen (medizinische Notfälle, religiöse Erziehung, schulische Bildung) gemacht hatte. Die Mutter legte nicht konkret dar, welche Sachverhaltselemente fehlen sollten.
- Willkürliche Annahme der Eignung der Beistandschaft: Die Mutter rügte, die Vorinstanz habe sich nicht dazu geäussert, inwiefern die Beistandschaft als flankierende Massnahme geeignet sei.
- Würdigung durch Bundesgericht: Das Bundesgericht stellte fest, dass die Vorinstanz lediglich festgehalten hatte, dass zum Aufgabenkatalog der Beistandschaft Hilfestellungen bei gemeinsamen Entscheidungen gehören. Die Mutter ergänzte hier den Sachverhalt mit eigenen Annahmen über Pattsituationen und mangelnde Kompetenz des Beistands, ohne dies als hinreichende Sachverhaltsrüge vorzubringen.
- Verletzung von Art. 298b Abs. 2 ZGB: Die Mutter argumentierte, aufgrund des angeblich schwerwiegenden Dauerkonflikts sei eine gemeinsame elterliche Sorge nicht im Kindeswohl und würde zu blockierten Entscheidungen und Loyalitätskonflikten führen.
- Würdigung durch Bundesgericht: Das Bundesgericht betonte, dass die Mutter ihre rechtlichen Schlüsse auf ihre eigene Version des Sachverhalts stützte, deren Feststellung als willkürlich das Bundesgericht zuvor abgewiesen hatte. Da die Sachverhaltsrügen unbegründet waren, fehlte den rechtlichen Vorbringen die Grundlage. Der angefochtene Entscheid verletzte kein Bundesrecht. Die Vorinstanz hatte die Kommunikationsschwierigkeiten zwar anerkannt, sie aber als nicht ausreichend erachtet, um vom Grundsatz der gemeinsamen Sorge abzuweichen, zumal die Schwierigkeiten massgeblich durch die Krankheit der Mutter bedingt seien und die Alleinsorge die Situation nicht entlastet hätte.
5. Entscheid des Bundesgerichts
Das Bundesgericht wies die Beschwerde ab, soweit darauf einzutreten war. Die Gerichtskosten wurden der Beschwerdeführerin auferlegt. Das Gesuch der Beschwerdeführerin um unentgeltliche Rechtspflege wurde abgewiesen, da ihre Rechtsbegehren vor Bundesgericht von Anfang an als aussichtslos galten.
6. Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte
- Grundsatzbestätigung: Das Bundesgericht bestätigt den gesetzlichen Grundsatz der gemeinsamen elterlichen Sorge für unverheiratete Eltern.
- Hohe Hürde für Alleinsorge: Eine Abweichung von diesem Grundsatz zugunsten der alleinigen elterlichen Sorge ist nur statthaft, wenn dies zur Wahrung des Kindeswohls zwingend erforderlich ist und die gemeinsame Sorge das Kindeswohl entscheidend beeinträchtigen würde. Blosse Kommunikationsschwierigkeiten oder Meinungsverschiedenheiten genügen nicht.
- Prüfungsmaßstab: Das Bundesgericht prüft Sachverhaltsfeststellungen der Vorinstanz nur auf Willkür hin und übt bei Ermessensentscheiden Zurückhaltung.
- Faktische Würdigung der Vorinstanz bestätigt: Die Vorinstanz hat die elterlichen Konflikte gewürdigt, aber festgestellt, dass diese hauptsächlich krankheitsbedingt aufseiten der Mutter seien und die gemeinsame Sorge die Situation nicht entscheidend verschlimmern, während die Alleinsorge sie nicht entlasten würde.
- Keine Verletzung des Kindeswohls: Die Befürchtungen der Mutter hinsichtlich Notfällen, Erziehung und Schulfragen wurden als unbegründet erachtet, zumal eine bestehende Beistandschaft unterstützend wirkt.
- Aussichtslosigkeit der Beschwerde: Die Beschwerde der Mutter wurde abgewiesen, da sie ihre Argumente im Wesentlichen auf einen Sachverhalt stützte, der nicht willkürfrei festgestellt werden konnte, und somit die Voraussetzungen für eine Abweichung vom Grundsatz der gemeinsamen Sorge nicht darlegen konnte.