Zusammenfassung von BGer-Urteil 6B_914/2024 vom 10. Oktober 2025

Es handelt sich um ein experimentelles Feature. Es besteht keine Gewähr für die Richtigkeit der Zusammenfassung.

Gerne fasse ich das bereitgestellte Urteil des schweizerischen Bundesgerichts detailliert zusammen:

Bundesgerichtsurteil 6B_914/2024 vom 10. Oktober 2025

Parteien: * Beschwerdeführerin: A._ (Opfer) * Beschwerdegegner: B._ (Angeschuldigter)

Gegenstand: Sexuelle Handlungen mit einer urteils- oder widerstandsunfähigen Person (Art. 191 aStGB); Willkür bei der Sachverhaltsfeststellung und Beweiswürdigung.

Vorinstanzliches Verfahren und Sachverhalt:

  1. Erstes Urteil (Tribunal de police, 1. November 2023): B._ wurde der sexuellen Handlungen mit einer urteils- oder widerstandsunfähigen Person zum Nachteil von A._ für schuldig befunden und zu einer bedingten Freiheitsstrafe von acht Monaten verurteilt.
  2. Berufungsurteil (Cour de justice, Chambre pénale d'appel et de révision, 1. Oktober 2024): Das Kantonsgericht Genf (im Folgenden: Cour de justice) hiess die Berufung von B._ gut, hob das erstinstanzliche Urteil auf und sprach ihn von der Anklage frei. Die Anschlussberufung von A._, welche höhere Genugtuung (8'000 CHF statt 5'000 CHF) und Prozessentschädigung (39'157.45 CHF statt 20'436.10 CHF) forderte, wurde ebenfalls abgewiesen.

Wesentliche Sachverhaltsfeststellungen der Cour de justice:

Am Abend des 17. April 2021 konsumierte A._ an einer Geburtstagsfeier in U._ erhebliche Mengen Alkohol und erbrach sich mehrmals. Im Laufe des Abends küssten sich A._ und B._. Am Morgen des 18. April 2021, kurz vor 05:30 Uhr, weigerte sich A._, die mit dem Bus abreisenden Gäste zu begleiten, da sie befürchtete, sich erneut zu übergeben. Sie plante ursprünglich, zu Fuss nach Hause zu gehen. B._, sein Freund C._ und der Eigentümer des Lokals D._ blieben bei ihr. Nachdem C._ müde geworden war, erklärte sich B._ bereit, A._ nach Hause zu bringen. Er wartete etwa 30 Minuten, bis sich A._ besser fühlte, begleitete sie ins Lokal, setzte sie auf einen Stuhl und bat D._, ihr Wasser zu bringen. Um 05:55 Uhr bestellte B._ ein Uber-Taxi. A.__ wählte selbst auf der Uber-App den Ablageort aus, einen Kreisel in der Nähe ihres Wohnsitzes. Die Fahrt dauerte von 06:09 bis 06:10 Uhr.

Am Kreisel stiegen A._ und B._ aus und gingen zu Fuss weiter zu A._s Wohnhaus. Etwa fünfzig Meter vor dem Haus kam es zu einer Annäherung, bei der B._ A._, die stehend an einem Zaun lehnte, vaginal mit seinen Fingern penetrierte. Kurz danach trennten sich die beiden. B._ bot A._ an, sie bis zur Haustür zu begleiten, was sie jedoch ablehnte, aus Angst, ihre Eltern zu wecken. Sie erzählte ihm dabei eine frühere Anekdote, bei der ihre Mutter sie nach einer stark alkoholisierten Heimkehr geweckt und zu einem Bad gezwungen hatte, wofür sie sich schämte. Anschliessend ging A._ allein nach Hause, wobei sie unterwegs kurz ihre Tasche fallen liess, diese aber selbst aufhob. Um 06:23 Uhr fuhr B._ mit einem Taxi nach Hause. Während der Fahrt tauschte er Nachrichten mit einem Freund aus, in denen er von einer "Mega anecdote" und davon berichtete, A._ "doigté" zu haben. Er schrieb weiter, dass sie sich anderthalb Stunden zuvor geküsst hätten, dass sie danach "pas bien" gewesen sei, er über eine Stunde gewartet habe, bis sie "décuve" (ausgenüchtert) war, er sie dann nach Hause gebracht habe und sie, sobald sie aus dem Uber gestiegen seien, "l'air d'aller bien mieux" gehabt und ihn "rechopé" (wieder angegangen) habe und die Dinge sich in der Gasse ereignet hätten, in der sie wohne. Um 06:30 Uhr schrieb B._ auch A._ eine Nachricht, um sich zu erkundigen, ob sie gut zu Hause angekommen sei.

A.__ erstattete am 15. Juli 2021, also etwa drei Monate später, Anzeige bei der Polizei.

Rüge vor Bundesgericht: A.__ rügte Willkür in der Sachverhaltsfeststellung und Beweiswürdigung durch die Cour de justice hinsichtlich der Ereignisse der Nacht vom 17. auf den 18. April 2021, insbesondere in Bezug auf ihre Fähigkeit zur Urteils- oder Widerstandsleistung zum Zeitpunkt der sexuellen Handlung. Sie machte eine Verletzung von Art. 191 aStGB geltend.

Erwägungen des Bundesgerichts:

  1. Prüfungsstandard des Bundesgerichts (Art. 97 Abs. 1 und Art. 106 Abs. 2 BGG): Das Bundesgericht ist keine Appellationsinstanz, die den Sachverhalt frei neu beurteilen kann. Es überprüft die Sachverhaltsfeststellungen nur, wenn sie offensichtlich unrichtig sind (d.h. willkürlich erfolgen) oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruhen und die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann. Willkür liegt vor, wenn die Sachverhaltsfeststellung offensichtlich unhaltbar ist, nicht bloss diskussionswürdig oder gar kritisierbar. Die Rügen müssen präzise substanziiert werden. Appellatorische Kritik ist unzulässig.

  2. Rechtliche Grundlagen (Art. 191 aStGB): Art. 191 aStGB (in der bis zum 30. Juni 2024 geltenden Fassung) bestraft mit Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahren oder Geldstrafe, wer eine Person, von der er weiss, dass sie urteils- oder widerstandsunfähig ist, zu einer sexuellen Handlung, einer analogen Handlung oder einer anderen sexuellen Handlung missbraucht.

    • Widerstandsunfähigkeit: Betroffen ist eine Person, die nicht in der Lage ist, unerwünschten sexuellen Kontakten zu widerstehen. Dies schützt Personen, die einen Willen zur Ablehnung sexueller Übergriffe nicht wirksam bilden, ausdrücken oder ausüben können (Verweis auf BGer-Urteile 6B_543/2024, 7B_94/2023, 6B_1247/2023). Die Widerstandsunfähigkeit kann dauerhaft oder vorübergehend, chronisch oder situativ bedingt sein (z.B. durch schwere Alkohol- oder Drogenintoxikation).
    • "Totale" Widerstandsunfähigkeit: Es wird eine totale Unfähigkeit zur Gegenwehr verlangt. Ist die Fähigkeit nur teilweise beeinträchtigt oder in gewissem Masse eingeschränkt (z.B. wegen eines Rauschzustandes), liegt keine Widerstandsunfähigkeit vor (Verweis auf BGE 148 IV 329, 133 IV 49). Die Anforderung einer "totalen" Widerstandsunfähigkeit umfasst nicht ausschliesslich Zustände vollständiger Bewusstlosigkeit, sondern grenzt die Fälle des Art. 191 aStGB von jenen ab, in denen die Person lediglich enthemmt ist (Verweis auf BGE 133 IV 49). Widerstandsunfähigkeit kann aber angenommen werden, wenn eine Person unter Alkohol- und Müdigkeitseinfluss den vorgenommenen Handlungen nicht oder nur schwach Widerstand leisten kann (Verweis auf BGer-Urteil 6B_1247/2023). Letztlich muss das Opfer unfähig sein, die sexuelle Beeinträchtigung wahrzunehmen und darüber zu urteilen, um die Handlung gegebenenfalls abzulehnen (Verweis auf BGer-Urteile 6B_1403/2021, 6B_866/2022).
    • Subjektiver Tatbestand: Es wird Vorsatz verlangt, Eventualvorsatz genügt. Der Täter muss sich mit der Möglichkeit abfinden, dass das Opfer aufgrund seines physischen oder psychischen Zustands nicht in der Lage ist, sich sexuellen Handlungen zu widersetzen, und diese Handlungen trotzdem ausführen. Ein Irrtum über die Fähigkeit des Opfers zur Urteils- oder Widerstandsleistung schliesst den Vorsatz aus.
  3. Anwendung auf den vorliegenden Fall:

    • Berechnung des Alkoholspiegels: Die Beschwerdeführerin machte geltend, es sei nicht willkürlich gewesen, sich auf einen Online-Rechner zu stützen, um einen Blutalkoholwert von 2.32 Promille festzustellen, basierend auf ihren eigenen Angaben zum Alkoholkonsum. Das Bundesgericht wies dies als paradox und ungenügend begründet zurück. Die Cour de justice habe zu Recht festgestellt, dass präzise Angaben über die konsumierte Menge und den Zeitpunkt des Konsumendes fehlten, was eine exakte Bestimmung des Alkoholspiegels unmöglich mache. Die Kritik sei appellatorisch und daher unzulässig.

    • Fähigkeit zu sprechen, interagieren und gehen: Die Beschwerdeführerin rügte, dass die Cour de justice willkürlich angenommen habe, sie sei zum Zeitpunkt der sexuellen Handlung dazu in der Lage gewesen. Stehen bedeute nicht volle motorische Kontrolle, und das Nachhausegehen bedeute nicht sicheres und stabiles Gehen. Das Aufheben der Tasche sei kein Beweis für hohe motorische Fähigkeiten, und die Anekdote zeige keine kohärente oder verständliche Sprache. Das Bundesgericht wies diese Argumentation ebenfalls als appellatorisch zurück. Die Beschwerdeführerin ersetze lediglich die Beweiswürdigung des Kantonsgerichts durch ihre eigene, ohne Willkür darzulegen. Es sei unbestritten, dass sie trotz Alkoholisation nach der Tat mit dem Beschwerdegegner gesprochen und eine Anekdote erzählt habe, die er später wieder erwähnte. Das Bundesgericht stellte fest, dass die Aussagen der Zeugen bezüglich des Zustands der Beschwerdeführerin gegen 05:30 Uhr (Ende der Party) zwar konvergierten (stark alkoholisiert), die Aussagen der beiden Zeugen, die nach dieser Zeit bei ihr blieben (C._ und D._), jedoch widersprüchlich waren und somit keine eindeutige Beurteilung ihrer Widerstandsfähigkeit allein auf Zeugenaussagen zuliess. C._ hatte sie als "voll" aber stehend und verständlich sprechend beschrieben, während D._ sie als sehr schlecht, sich konzentrierend, um nicht zu erbrechen, halb schlafend und inkohärent beschrieben hatte.

    • Verständnis von "totaler" Unfähigkeit im Sinne von Art. 191 aStGB: Die Beschwerdeführerin rügte, die Cour de justice habe verkannt, dass Art. 191 aStGB nicht einen Zustand vollständiger Bewusstlosigkeit erfordere. Das Bundesgericht bestätigte, dass die "totale" Unfähigkeit nicht ausschliesslich Zustände vollständiger Bewusstlosigkeit umfasst, sondern die Fälle des Art. 191 aStGB von jenen abgrenzt, in denen das Opfer lediglich enthemmt ist. Es gehe darum, ob das Opfer aufgrund seines Zustands in der Lage war, die sexuelle Beeinträchtigung wahrzunehmen, darüber zu urteilen und gegebenenfalls abzulehnen. Basierend auf den willkürfrei festgestellten Tatsachen hielt das Bundesgericht fest, dass die Beschwerdeführerin zum Zeitpunkt der sexuellen Handlungen, trotz starker Alkoholisation, eine gewisse Fähigkeit zur Selbstbestimmung behalten hatte (Ablehnung des Busses, selbstständige Auswahl des Uber-Ziels), sich eigenständig bewegen konnte und in der Lage war, mit dem Beschwerdegegner zu sprechen und zu interagieren. Auch wenn sie nicht in einem Zustand vollständiger Bewusstlosigkeit war (was die Vorinstanz auch nicht behauptete), war sie nicht oder nur schwach in der Lage, sich den Handlungen des Beschwerdegegners zu widersetzen.

    • Ergebnis zur objektiven Tatbestandserfüllung: Angesichts dieser Umstände schloss das Bundesgericht, dass die Cour de justice kein Bundesrecht verletzt hat, indem sie feststellte, dass das objektive Tatbestandsmerkmal der sexuellen Handlung mit einer urteils- oder widerstandsunfähigen Person – nämlich die Widerstandsunfähigkeit im Sinne der Rechtsprechung – nicht erfüllt war.

    • Subjektiver Tatbestand: Da das objektive Tatbestandsmerkmal nicht erfüllt war, erachtete das Bundesgericht es als unnötig, die Frage des subjektiven Tatbestands (Vorsatz des Beschwerdegegners) zu prüfen.

Schlussfolgerung des Bundesgerichts: Der Rekurs von A.__ wurde, soweit zulässig, abgewiesen. Die Gerichtskosten wurden der Beschwerdeführerin auferlegt.

Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:

Das Bundesgericht bestätigte den Freispruch des Beschwerdegegners B._ vom Vorwurf sexueller Handlungen mit einer urteils- oder widerstandsunfähigen Person (Art. 191 aStGB). Es hielt fest, dass die vom Kantonsgericht willkürfrei festgestellten Tatsachen nicht ausreichten, um eine totale Widerstandsunfähigkeit der Beschwerdeführerin A._ zum Tatzeitpunkt zu begründen. Obwohl A.__ stark alkoholisiert war, hatte sie eine Restfähigkeit zur Selbstbestimmung (Ablehnung des Busses, Bedienung der Uber-App), konnte sich selbstständig bewegen und nach der Tat mit dem Beschwerdegegner interagieren und sprechen. Die Rechtsprechung verlangt eine totale Unfähigkeit, sich sexuellen Handlungen zu widersetzen, welche über eine blosse Enthemmung hinausgeht, aber nicht zwingend eine vollständige Bewusstlosigkeit bedeutet. Im vorliegenden Fall wurde diese Schwelle nicht erreicht, da das Opfer noch in der Lage war, die Handlungen wahrzunehmen und darüber zu urteilen. Da das objektive Tatbestandsmerkmal fehlte, musste der Vorsatz des Beschwerdegegners nicht geprüft werden.