Detaillierte Zusammenfassung des Urteils 7B_591/2025 des Schweizerischen Bundesgerichts vom 8. Oktober 2025
1. Einleitung und Streitgegenstand
Das vorliegende Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts befasst sich mit der Beschwerde von A.__ (nachfolgend Beschwerdeführer) gegen einen Entscheid der Chambre pénale de recours des Kantons Genf. Die kantonale Beschwerdeinstanz hatte die gegen eine Nichteintretensverfügung der Staatsanwaltschaft erhobene kantonale Beschwerde des Beschwerdeführers als verspätet und somit als unzulässig erklärt. Gegenstand der bundesgerichtlichen Prüfung ist demnach nicht die materielle Rechtmässigkeit der ursprünglichen Nichteintretensverfügung, sondern ausschliesslich die Frage der Zulässigkeit der dagegen gerichteten kantonalen Beschwerde, insbesondere die fristgerechte Einreichung und die Voraussetzungen einer allfälligen Fristwiederherstellung.
2. Chronologischer Sachverhalt
- 25. November 2023: Der Beschwerdeführer A.__ reichte eine Strafanzeige gegen einen Sicherheitsbeamten wegen Aggression und schwerer Körperverletzung ein.
- 15. Februar 2024: Der Beschwerdeführer forderte die Staatsanwaltschaft des Kantons Genf (nachfolgend Staatsanwaltschaft) schriftlich auf, seine Anzeige zu bearbeiten.
- 25. März 2024: Die Staatsanwaltschaft erliess eine Nichteintretensverfügung auf die Strafanzeige.
- 26. März 2024: Eine Abholungseinladung für das per Einschreiben versandte Exemplar der Nichteintretensverfügung wurde an der Adresse des Beschwerdeführers hinterlegt.
- 3. April 2024: Da das Einschreiben nicht abgeholt wurde, erfolgte die Retournierung an die Staatsanwaltschaft. Gemäss Art. 85 Abs. 4 lit. a StPO galt die Verfügung damit am 2. April 2024 als zugestellt (Fiktion der Zustellung).
- 12. April 2024: Die zehntägige Frist gemäss Art. 396 Abs. 1 StPO zur Erhebung einer kantonalen Beschwerde gegen die Nichteintretensverfügung lief ab.
- 16. Januar 2025: Der Beschwerdeführer forderte eine Kopie der Nichteintretensverfügung von der Staatsanwaltschaft an.
- 20. Januar 2025: Die Staatsanwaltschaft sandte dem Beschwerdeführer eine Kopie der Verfügung per einfachem Brief zu.
- 24./25. Januar 2025: Der Beschwerdeführer schrieb an die Staatsanwaltschaft und ersuchte um Wiedereröffnung des Dossiers mit der Begründung, bei der Zustellung nicht zu Hause gewesen zu sein.
- 3. Februar 2025: Der Beschwerdeführer teilte der Staatsanwaltschaft mit, dass die Schreiben vom 24. Januar und 3. Februar 2025 als Beschwerde gegen die Nichteintretensverfügung zu betrachten seien. Die Staatsanwaltschaft leitete diese Schreiben an die Chambre pénale de recours weiter.
- 23. Juni 2025: Die Chambre pénale de recours erklärte die kantonale Beschwerde des Beschwerdeführers als verspätet und daher als unzulässig.
- 26. Juni, 28. Juni, 2. Juli 2025: Der Beschwerdeführer reichte eine Beschwerde beim Bundesgericht ein.
3. Rechtliche Erwägungen des Bundesgerichts
3.1. Eintretensfrage auf die Beschwerde vor Bundesgericht
Das Bundesgericht prüfte zunächst seine Zuständigkeit und die Eintretensvoraussetzungen der Beschwerde. Es stellte fest, dass die Beschwerde fristgerecht eingereicht wurde (Art. 46 Abs. 1 lit. c und Art. 100 Abs. 1 BGG).
Hinsichtlich der Beschwerdelegitimation einer Privatklägerschaft hielt das Bundesgericht fest, dass diese berechtigt ist, eine Verletzung ihrer Parteirechte geltend zu machen, die einer formellen Rechtsverweigerung gleichkommt (Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 5 BGG; vgl. BGE 149 I 72 E. 3.1; 146 IV 76 E. 2). Dazu gehört insbesondere der Entscheid einer kantonalen Beschwerdeinstanz, die eine Beschwerde wegen Fristversäumnis als unzulässig erklärt (vgl. Urteile 7B_737/2024 vom 10. Januar 2025 E. 3.1, 3.2 und 4; 7B_1142/2024 vom 19. November 2024 E. 1.2 und 2). Die Privatklägerschaft kann in diesem Zusammenhang jedoch keine materiellen Argumente vorbringen, die nicht von der Frage der Zulässigkeit des kantonalen Rechtsmittels getrennt werden können. Folglich wurden die vom Beschwerdeführer vorgebrachten Sachverhaltsrügen bezüglich der Qualifikation der angezeigten Körperverletzungen als unzulässig erklärt, da sie den materiellen Kern der ursprünglich angezeigten Straftat betreffen und nicht die Verfahrensfrage der Fristeinhaltung.
3.2. Materielle Prüfung der Fristversäumnis und der Fristwiederherstellung
a) Vorbringen des Beschwerdeführers:
Der Beschwerdeführer rügte eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV) und machte im Wesentlichen geltend, die Zustellfiktion dürfe in seinem Fall nicht angewendet werden. Er sei aufgrund der erlittenen Verletzungen und seiner daraus resultierenden Reiseunfähigkeit sowie der Unterbringung bei seiner Mutter daran gehindert gewesen, die Post an seinem Wohnsitz abzuholen. Er habe sich in einer unverschuldeten Verhinderung befunden und beantragte die Wiederherstellung der Frist gemäss Art. 94 StPO.
b) Rechtliche Grundlagen und Prinzipien:
- Zustellfiktion (Art. 85 Abs. 4 lit. a StPO): Eine per Einschreiben versandte Sendung gilt als zugestellt, wenn sie innert sieben Tagen ab erfolglosem Zustellungsversuch nicht abgeholt wird und die betroffene Person mit einer solchen Zustellung rechnen musste.
- Grundsatz von Treu und Glauben im Verfahren: Wer als Partei in einem Strafverfahren mit der Zustellung von Akten rechnen muss, ist verpflichtet, seine Post abzuholen oder bei Abwesenheit Vorkehrungen zu treffen, um die Zustellung sicherzustellen. Unterlässt er dies, gilt der Inhalt der Sendung nach Ablauf der Abholfrist als bekannt. Dies beinhaltet die Pflicht, einen Vertreter zu benennen, die Post nachzusenden oder die Behörden über eine Abwesenheit oder eine Zustelladresse zu informieren (BGE 146 IV 30 E. 1.1.2; vgl. auch Urteil 6B_283/2025 vom 3. Juli 2025 E. 1.1.3).
- Beschwerdefrist (Art. 396 Abs. 1 StPO): Die Beschwerde gegen schriftlich oder mündlich eröffnete Entscheide muss innert zehn Tagen schriftlich und begründet bei der Beschwerdeinstanz eingereicht werden. Die strikte Anwendung von Verfahrensfristen ist aus Gründen der Gleichbehandlung sowie im öffentlichen Interesse an einer guten Justizverwaltung und Rechtssicherheit gerechtfertigt und stellt keinen überspitzten Formalismus dar (BGE 149 IV 196 E. 1.1; Urteil 6B_283/2025 vom 3. Juli 2025 E. 1.1.4).
- Fristwiederherstellung (Art. 94 StPO): Eine Partei kann die Wiederherstellung einer Frist verlangen, wenn sie ohne ihr Verschulden an deren Einhaltung verhindert war und ihr dadurch ein bedeutender und nicht wieder gutzumachender Nachteil entsteht. Die unverschuldete Verhinderung muss glaubhaft gemacht werden (Abs. 1). Der Antrag auf Wiederherstellung muss innert 30 Tagen nach Wegfall des Hindernisses schriftlich und begründet bei der Behörde, bei der der versäumte Akt hätte vorgenommen werden sollen, eingereicht werden, und der versäumte Akt muss gleichzeitig nachgeholt werden (Abs. 2). Eine Fristwiederherstellung kommt nur bei klarer Schuldlosigkeit in Frage und nicht bei bewusstem Verzicht, Irrtum (auch leichter Art) oder fehlerhaftem Rat eines Dritten (BGE 149 IV 196 E. 1.1; Urteil 6B_283/2025 vom 3. Juli 2025 E. 1.1.2). Krankheit oder Unfall können als unverschuldete Verhinderung gelten, wenn sie die Partei objektiv oder subjektiv daran hindern, selbst zu handeln oder einen Dritten zu beauftragen (BGE 119 II 86 E. 2a).
c) Anwendung auf den vorliegenden Fall:
- Zustellfiktion und erwartete Kommunikation: Das Bundesgericht bestätigte die Ansicht der kantonalen Beschwerdeinstanz, dass der Beschwerdeführer mit einer Mitteilung der Strafverfolgungsbehörden rechnen musste. Er hatte nicht nur eine Strafanzeige eingereicht, sondern am 15. Februar 2024, also nur einen Monat vor der Nichteintretensverfügung, deren Bearbeitung angemahnt. Die Zustellfiktion wurde daher korrekt angewendet, was zur Folge hatte, dass die Beschwerdefrist am 12. April 2024 ablief.
- Fehlen einer unverschuldeten Verhinderung: Die vom Beschwerdeführer vorgebrachten medizinischen Gründe, namentlich seine eingeschränkte Mobilität und der Aufenthalt bei seiner Mutter, konnten keine unverschuldete Verhinderung im Sinne von Art. 94 StPO begründen.
- Die medizinischen Unterlagen (Spitalaustrittsbrief vom 28. Dezember 2023, Physiotherapie-Bestätigung vom 3. Februar 2025) zeigten, dass der Beschwerdeführer nach einer Hospitalisierung Ende 2023 schnell wieder autonom geworden war und lediglich eine reduzierte Mobilität beim Gehen aufwies. Es fehlte an einem Nachweis einer tatsächlichen Unfähigkeit im Februar, März oder April 2024, die notwendigen Vorkehrungen zur Wahrung seiner Interessen zu treffen (z.B. Post an eine temporäre Adresse umleiten oder eine Drittperson beauftragen).
- Die eigenen Aussagen des Beschwerdeführers widersprachen seinen Behauptungen der Hilflosigkeit: Er gab an, seine Mutter regelmässig zur Postabholung zu seinem Wohnsitz geschickt zu haben und mehrfach versucht zu haben, sich über den Stand des Verfahrens zu informieren. Diese Handlungen zeigten, dass er sehr wohl in der Lage war, sich um seine Angelegenheiten zu kümmern oder Dritte zu beauftragen.
- Rolle der Staatsanwaltschaft: Das Bundesgericht stellte klar, dass die Staatsanwaltschaft keine Fristwiederherstellung gewähren konnte. Die Staatsanwaltschaft hatte die vermeintliche Beschwerde des Beschwerdeführers vom Februar 2025 lediglich an die zuständige Chambre pénale de recours weitergeleitet, wie es Art. 91 Abs. 4 StPO für die Weiterleitung eines an eine unzuständige Behörde gerichteten Rechtsmittels vorsieht. Die Staatsanwaltschaft ist gemäss StPO Partei im Beschwerdeverfahren und hat keine gerichtliche Kompetenz, über die Zulässigkeit einer Beschwerde oder die Wiederherstellung einer Frist zu entscheiden (vgl. Art. 94 Abs. 2 StPO).
4. Schlussfolgerung
Das Bundesgericht gelangte zum Schluss, dass die kantonale Beschwerdeinstanz die kantonale Beschwerde des A.__ zu Recht als verspätet und unzulässig erklärt hat. Es lag keine unverschuldete Verhinderung vor, die eine Fristwiederherstellung gerechtfertigt hätte. Die Beschwerde an das Bundesgericht wurde daher abgewiesen, soweit darauf eingetreten werden konnte. Die Gerichtskosten wurden dem unterliegenden Beschwerdeführer auferlegt.
5. Zusammenfassung der wesentlichen Punkte
- Streitgegenstand: Prüfung der fristgerechten Einreichung einer kantonalen Beschwerde gegen eine Nichteintretensverfügung der Staatsanwaltschaft und der Voraussetzungen einer Fristwiederherstellung.
- Bundesgerichtliche Prüfung: Das Bundesgericht prüft die Beschwerde nur insofern, als sie eine formelle Rechtsverweigerung durch die kantonale Instanz wegen unzulässigerklärung der Beschwerde aufgrund Fristversäumnisses betrifft. Materielle Rügen zur ursprünglichen Nichteintretensverfügung sind in diesem Stadium unzulässig.
- Zustellfiktion (Art. 85 Abs. 4 lit. a StPO): Wurde korrekt angewendet, da der Beschwerdeführer mit einer amtlichen Mitteilung rechnen musste. Die Nichteintretensverfügung galt somit am 2. April 2024 als zugestellt.
- Fristwiederherstellung (Art. 94 StPO): Eine Fristwiederherstellung wurde abgelehnt, da keine unverschuldete Verhinderung nachgewiesen werden konnte.
- Medizinische Argumente des Beschwerdeführers für eine eingeschränkte Mobilität im März/April 2024 wurden als nicht ausreichend für eine objektive oder subjektive Unfähigkeit zur Wahrnehmung seiner Interessen befunden.
- Die eigenen Handlungen und Aussagen des Beschwerdeführers (Mutter mit Postabholung beauftragt, Nachfragen bei Behörden) widerlegten eine unverschuldete Verhinderung.
- Rolle der Staatsanwaltschaft: Die Staatsanwaltschaft hatte keine Kompetenz, über die Zulässigkeit der Beschwerde oder eine Fristwiederherstellung zu entscheiden; ihre Weiterleitung des Schreibens an die kantonale Beschwerdeinstanz war lediglich eine ordnungsgemässe Verfahrenshandlung gemäss Art. 91 Abs. 4 StPO.
- Ergebnis: Die Beschwerde an das Bundesgericht wurde abgewiesen, die Entscheidung der kantonalen Beschwerdeinstanz, die kantonale Beschwerde als unzulässig zu erklären, wurde bestätigt.