Zusammenfassung von BGer-Urteil 7B_780/2023 vom 15. Oktober 2025

Es handelt sich um ein experimentelles Feature. Es besteht keine Gewähr für die Richtigkeit der Zusammenfassung.

Gerne fasse ich das bereitgestellte Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts detailliert zusammen:

Bundesgericht, Urteil 7B_780/2023 vom 15. Oktober 2025

Parteien: * Beschwerdeführer: A.__ (vertreten durch Me Sophie Bobillier) * Intimé: Ministère public de la République et canton de Genève * Gegenstand: Einziehung von gefährlichen Gegenständen (Art. 69 StGB); Verweigerung der unentgeltlichen Rechtspflege

I. Sachverhalt

Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, beantragte beim kantonalen Fahrzeugamt Genf den Austausch seines afghanischen Führerscheins. Das Fahrzeugamt denunzierte ihn daraufhin bei der Staatsanwaltschaft Genf, da es feststellte, dass die Gültigkeitsdaten auf dem an sich korrekt ausgestellten Führerschein nachträglich und unautorisiert geändert worden waren. Ein Bericht der Genfer Kriminalpolizei bestätigte, dass die manuell in roter Tinte eingetragenen Daten auf dem Führerschein abgekratzt und durch neue, ebenfalls in roter Tinte vermerkte Daten ersetzt worden waren.

Der Beschwerdeführer erklärte bei der Polizei, er sei ohne Führerschein aus Afghanistan geflohen und habe einen Cousin gebeten, die alle drei Jahre erforderliche Verlängerung des Dokuments für ihn vorzunehmen und es ihm zukommen zu lassen. Er legte später eine von ihm übersetzte Kopie einer Bestätigung der Verkehrsmanagementbehörde von Faryab (einer Nachbarprovinz von Djozdjan, wo der Führerschein ausgestellt wurde) vor, wonach sein Führerschein korrekt von der dortigen Verkehrsbehörde ausgestellt worden sei.

Die Staatsanwaltschaft trat mit Verfügung vom 23. Mai 2023 nicht auf den Vorwurf der Urkundenfälschung durch den Beschwerdeführer ein, da sie keine strafbare Handlung feststellte. Sie zog jedoch den afghanischen Führerschein des Beschwerdeführers mit der Begründung ein, das Dokument sei verfälscht worden. Die Chambre pénale de recours des Kantons Genf bestätigte diese Einziehung mit Urteil vom 13. September 2023.

II. Rügen des Beschwerdeführers vor Bundesgericht

Der Beschwerdeführer beantragte vor Bundesgericht die Rückgabe seines Führerscheins und die Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege. Er rügte im Wesentlichen, die Vorinstanz habe die Instruktionsmaxime verletzt, sein rechtliches Gehör missachtet (insbesondere die Nichtbehandlung seiner relevanten Beweisanträge), den Sachverhalt willkürlich festgestellt und die Regeln zur Beweislast bei der Einziehung von gefährlichen Gegenständen gemäss Art. 69 StGB verletzt. Er machte geltend, die Änderungen am Führerschein seien von afghanischen Behörden vorgenommen worden, was durch die von ihm eingereichten Unterlagen und eine von den Behörden durchzuführende Anfrage bei den afghanischen Konsularbehörden in der Schweiz hätte bestätigt werden können. Da die Voraussetzungen für die Annahme einer Straftat nicht hinreichend bewiesen seien, dürfe keine Einziehung erfolgen.

III. Rechtliche Würdigung und Begründung des Bundesgerichts

  1. Grundsatz der Einziehung nach Art. 69 Abs. 1 StGB: Das Bundesgericht erläutert die Voraussetzungen der Einziehung von Gegenständen gemäss Art. 69 Abs. 1 StGB. Diese Norm erlaubt die Einziehung von Gegenständen, die zur Begehung einer Straftat dienten oder bestimmt waren oder aus einer Straftat herrühren, sofern diese Gegenstände die Sicherheit von Personen, die Sittlichkeit oder die öffentliche Ordnung gefährden.

    • Konnexität zu einer Straftat: Es muss ein sachlicher Zusammenhang zwischen dem einzuziehenden Gegenstand und einer Straftat bestehen. Dies setzt voraus, dass eine strafbare Handlung vorliegt, die sowohl die objektiven als auch die subjektiven Tatbestandselemente erfüllt. Entscheidend ist die Existenz einer Straftat, unabhängig davon, ob eine bestimmte Person dafür bestraft werden kann. Fehlt ein subjektives Tatbestandselement, ist eine Einziehung grundsätzlich ausgeschlossen (es sei denn, der Besitz des Gegenstandes ist an sich verboten und eine Spezialnorm erlaubt die Einziehung).
    • Gefährdungsprognose: Der Gegenstand muss eine zukünftige Gefahr für die Sicherheit von Personen, die Sittlichkeit oder die öffentliche Ordnung darstellen.
    • Verhältnismässigkeit: Die Einziehung stellt einen Eingriff in die Eigentumsgarantie (Art. 26 BV) dar und unterliegt dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit.
  2. Beweislast bei der Einziehung: Das Bundesgericht hebt hervor, dass die Beweislast für das Vorliegen der Einziehungsvoraussetzungen, einschliesslich der konkreten Straftat, beim Staat liegt (vgl. BGE 149 IV 307 E. 2.6.2; 147 IV 479 E. 6.5.2.2). Eine Einziehung "im Zweifel" ist demnach ausgeschlossen. Von der Person, deren Gegenstand eingezogen werden soll, kann zwar eine Mitwirkung bei der Beweisführung verlangt werden, soweit dies zumutbar ist, aber die Hauptlast der Beweisführung verbleibt bei den Strafverfolgungsbehörden.

  3. Fehlerhafte Anwendung durch die Vorinstanz: Das Bundesgericht kritisiert die Argumentation der Chambre pénale de recours. Diese habe die Beweislastverteilung verkannt, indem sie implizit vom Beschwerdeführer verlangte, die Nichterfüllung der Einziehungsvoraussetzungen zu beweisen. Stattdessen hätte die Strafverfolgungsbehörde beweisen müssen, dass die Voraussetzungen erfüllt sind.

  4. Unzureichende Sachverhaltsfeststellung und Verletzung des rechtlichen Gehörs:

    • Fehlende Beweise für eine Straftat: Obwohl die Änderungen am Führerschein feststehen, ist nicht erwiesen, dass diese von einem unbefugten Dritten vorgenommen wurden und nicht von einer zuständigen afghanischen Behörde.
    • Plausibilität der Beschwerdeführer-Hypothese: Das Bundesgericht verweist auf die notorischen Störungen bei der Ausstellung offizieller afghanischer Dokumente nach dem Machtwechsel im Sommer 2021, einschliesslich der Anwendung von Ad-hoc-Lösungen (wie Vignettierungen oder manuelle Einträge). Angesichts dieses Kontextes und der vom Beschwerdeführer vorgelegten Bestätigung der Verkehrsbehörde Faryab sei die Hypothese, dass die manuellen Änderungen von einer zuständigen staatlichen afghanischen Behörde vorgenommen wurden (was den Tatbestand der Urkundenfälschung ausschliessen würde), plausibel.
    • Unzureichende Beweislage: Die vorhandenen Beweismittel reichen nicht aus, um rechtsgenüglich nachzuweisen, dass die Änderungen nicht von einer solchen Behörde vorgenommen wurden.
    • Verletzung der Instruktionsmaxime und des rechtlichen Gehörs: Die Vorinstanz hat willkürlich den Beweisantrag des Beschwerdeführers abgelehnt, Kontakt mit den afghanischen Konsularbehörden in der Schweiz aufzunehmen, um abzuklären, ob die Praxis solcher manuellen Änderungen an Führerscheinen durch lokale afghanische Behörden verbreitet ist. Diese Erkundigung wäre geeignet gewesen, den Sachverhalt zu klären.
  5. Schlussfolgerung des Bundesgerichts: Aufgrund der fehlerhaften Beweislastverteilung, der unzureichenden Sachverhaltsfeststellung und der willkürlichen Ablehnung relevanter Beweisanträge verletzt das Urteil der Vorinstanz Art. 69 Abs. 1 StGB und Art. 389 Abs. 2 und 3 StGB in Verbindung mit dem Willkürverbot (Art. 9 BV).

IV. Entscheid und Rechtsfolgen

Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut. 1. Der angefochtene Entscheid wird reformiert, und der afghanische Führerschein wird dem Beschwerdeführer zurückgegeben. 2. Die Sache wird an die Chambre pénale de recours zurückgewiesen, damit diese über die Frage der amtlichen Verteidigung für das Rekursverfahren neu entscheidet (da sie diese zuvor mit der Begründung abgelehnt hatte, der Rekurs sei aussichtslos, ohne die weiteren Voraussetzungen zu prüfen) sowie über die Kosten und allfälligen Entschädigungen des Vorverfahrens und des kantonalen Rekursverfahrens. 3. Für das Bundesgerichtsverfahren werden keine Gerichtskosten erhoben, und dem Beschwerdeführer wird eine Parteientschädigung zugesprochen. Die Anfrage zur unentgeltlichen Rechtspflege wird damit als gegenstandslos erklärt.

V. Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte

Das Bundesgericht hob die Einziehung eines afghanischen Führerscheins auf. Es stellte fest, dass die Vorinstanz die Beweislastregeln bei der Einziehung von gefährlichen Gegenständen (Art. 69 Abs. 1 StGB) falsch angewendet hatte. Die Beweislast für das Vorliegen einer Straftat als Voraussetzung für die Einziehung liegt beim Staat. Angesichts der notorischen Schwierigkeiten bei der Dokumentenausstellung in Afghanistan nach dem Machtwechsel 2021 und der vom Beschwerdeführer vorgelegten Unterlagen war die Hypothese plausibel, dass die Änderungen am Führerschein von einer zuständigen afghanischen Behörde vorgenommen wurden, was eine Urkundenfälschung ausschliessen würde. Die Vorinstanz hatte zudem willkürlich einen relevanten Beweisantrag des Beschwerdeführers (Anfrage bei den afghanischen Konsularbehörden) abgelehnt. Da die Existenz einer Straftat nicht rechtsgenüglich bewiesen war, war die Einziehung unzulässig und der Führerschein dem Beschwerdeführer zurückzugeben.