Zusammenfassung von BGer-Urteil 6B_927/2023 vom 30. September 2025

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Das vorliegende Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts (6B_927/2023 vom 30. September 2025) befasst sich mit einer Beschwerde in Strafsachen gegen die Verurteilung wegen Hinderung einer Amtshandlung (Art. 286 Abs. 1 StGB) im Kontext der Maskentragepflicht während der Covid-19-Epidemie.

A. Sachverhalt und Verfahrensgeschichte

Die Beschwerdeführerin, A._, wurde beschuldigt, sich am 6. November 2020 im Zug trotz Aufforderung des Zugpersonals geweigert zu haben, den Zug zu verlassen. Sie soll zudem die Zugpolizei daran gehindert haben, sie aus dem Zug zu begleiten, indem sie sich am Sitz festgehalten habe. Das Regionalgericht Oberland sprach A._ zunächst der Hinderung einer Amtshandlung schuldig, sprach sie jedoch vom Vorwurf der Übertretung gegen das Epidemiengesetz (EpG) frei (Freispruch aufgrund eines Attests, das sie von der Maskenpflicht befreite). Das Obergericht des Kantons Bern bestätigte den Schuldspruch wegen Hinderung einer Amtshandlung, stellte die Rechtskraft des Freispruchs betreffend die EpG-Übertretung fest und senkte die Geldstrafe. Die Beschwerdeführerin reichte daraufhin Beschwerde in Strafsachen beim Bundesgericht ein, mit dem Antrag auf Aufhebung des Urteils, Freispruch, Schadenersatz und Genugtuung.

B. Rechtlicher Rahmen und bundesgerichtliche Vorentscheide

Das Bundesgericht verweist auf seine ständige Rechtsprechung betreffend die Rechtmässigkeit der Covid-19-Massnahmen, insbesondere der Maskentragepflicht im öffentlichen Verkehr (Art. 3a Abs. 1 aCovid-19-Verordnung besondere Lage in der Fassung vom 6. Juli 2020 und 15. August 2020, SR 818.101.26). Gemäss dieser Verordnung bestand eine Maskentragepflicht, von der Personen aus besonderen Gründen (insbesondere medizinischen), die dies nachweisen konnten, ausgenommen waren. Weiter hält das Bundesgericht fest, dass die Sicherheitsorgane der Transportunternehmen im öffentlichen Verkehr (Transportpolizei) gemäss Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 4 Abs. 1 lit. b des Bundesgesetzes über die Sicherheitsorgane der Transportunternehmen im öffentlichen Verkehr (BGST) für die Beachtung der Transport- und Benützungsvorschriften sorgen und vorschriftswidrig handelnde Personen anhalten, kontrollieren und wegweisen können. Die in der Covid-19-Verordnung verankerte Maskenpflicht wird als Massnahme gegenüber der Bevölkerung im Sinne von Art. 40 EpG qualifiziert, welche der Bundesrat gestützt auf Art. 6 Abs. 2 lit. b EpG eingeführt hat.

C. Erwägungen des Bundesgerichts zu den Rügen der Beschwerdeführerin

  1. Zur Sachverhaltsfeststellung und Beweiswürdigung (Willkürrüge): Die Beschwerdeführerin rügte im Wesentlichen eine willkürliche Sachverhaltsfeststellung und Beweiswürdigung durch die Vorinstanz, insbesondere hinsichtlich der Frage, ob sie die kontrollierenden Personen als Transportpolizisten erkannt habe und ob ihr Festhalten am Sitz Selbstschutz oder Widerstand gewesen sei. Das Bundesgericht weist diese Rügen ab:

    • Erkennen der Transportpolizisten: Die Vorinstanz stellte willkürfrei fest, dass die Beschwerdeführerin die Beamten aufgrund ihrer Uniformierung (leuchtende Gelbwesten) als Transportpolizisten erkannte. Eigene Aussagen der Beschwerdeführerin stützten diese Annahme.
    • Festhalten am Sitz (Widerstand vs. Selbstschutz): Die Vorinstanz stützte sich auf widersprüchliche Aussagen der Beschwerdeführerin sowie den Spitalbericht, der von einem "Gegenhalten mit den Beinen" sprach. Die Beschwerdeführerin hatte zudem in ihrer Einsprachebegründung selbst erwähnt, sie habe versucht, sich am Sitz festzuhalten, um "Widerstand zu leisten". Das Bundesgericht erachtete die Schlussfolgerung der Vorinstanz, das Festhalten sei zur Widerstandsleistung erfolgt und nicht primär zur visuellen Orientierung, als nicht willkürlich. Der Grundsatz "in dubio pro reo" führt in seiner Funktion als Beweiswürdigungsregel nicht über das Willkürverbot hinaus.
    • Irrelevante Punkte: Die Vorlage des Swisspasses oder die angeblich unterbliebene Beurteilung des Verhaltens der Transportpolizei bis zum Zugriff waren für den Vorwurf der Hinderung einer Amtshandlung nicht entscheidend, da der Fokus auf dem aktiven Festhalten lag.
  2. Zum Tatbestand der Hinderung einer Amtshandlung (Art. 286 StGB): Die Beschwerdeführerin bestritt sowohl das Vorliegen einer rechtmässigen Amtshandlung als auch die Erfüllung des objektiven und subjektiven Tatbestands von Art. 286 StGB.

    • Rechtmässigkeit der Amtshandlung:

      • Befugnis zur Attestkontrolle: Das Bundesgericht bekräftigte, dass die Maskentragepflicht gemäss Art. 3a aCovid-19-Verordnung besondere Lage auch die Ausnahmeregelung (Nachweis aus besonderen Gründen) umfasste. Die Transportpolizei war demnach befugt, von Fahrgästen den Nachweis eines Attests zu verlangen und dieses einzusehen. Eine mündliche Behauptung, im Besitz eines Attests zu sein, genügt dem Erfordernis des "Nachweises" nicht. Die Bestimmungen des Datenschutzgesetzes beschneiden diese Befugnis nicht.
      • Verhältnismässigkeit der Wegweisung: Die Wegweisung der Beschwerdeführerin aus dem Zug, nachdem sie weder eine Maske trug noch das Attest vorwies, lag im Rahmen der Amtsbefugnisse und stellte keine unverhältnismässige Massnahme dar. Auch wenn eine Weiterfahrt bis zum nächsten Halt (Spiez) eine mildere Massnahme gewesen wäre, handelten die Transportpolizisten im Rahmen ihres Ermessens ("Kann-Vorschrift"). Die Amtshandlung war somit rechtmässig.
    • Objektiver Tatbestand (Hinderung):

      • Art. 286 StGB setzt voraus, dass eine Amtshandlung beeinträchtigt, erschwert oder verzögert wird, wobei ein über den blossen Ungehorsam hinausgehendes, aktives Tun erforderlich ist. Das Bundesgericht verweist auf zahlreiche Präzedenzfälle, in denen physisches Festhalten, Totstellen oder aktives Wehren als Hinderung qualifiziert wurde (z.B. Urteile 6B_702/2023, 6B_145/2021, 6B_1486/2022).
      • Das Festhalten der Beschwerdeführerin an den Zugsitzen, nachdem die Beamten sie gepackt hatten, um sie aus dem Zug zu bringen, wurde als aktiver Widerstand gewertet. Dieses Verhalten beeinträchtigte die reibungslose Durchführung der Amtshandlung und führte zu einer Verzögerung. Eine "starke Gewaltanwendung" oder das Vorliegen einer "Gefahr" ist für die Erfüllung des Tatbestands nicht erforderlich. Der objektive Tatbestand ist erfüllt.
    • Subjektiver Tatbestand (Vorsatz/Sachverhaltsirrtum):

      • Erforderlich ist vorsätzliches Handeln, wobei Eventualvorsatz genügt. Der Täter muss um die mögliche Amtsqualität seines Gegenübers wissen und die Verwirklichung des Tatbestands in Kauf nehmen.
      • Das Bundesgericht bestätigte, dass die Beschwerdeführerin die Beamten als Transportpolizisten erkannt hatte. Auf ihre Frage nach der Rechtsgrundlage des Handelns erhielt sie die Auskunft, dies stehe in einem Polizeigesetz und die Polizei sei zur Kontrolle und Wegweisung befugt. Angesichts dieser Auskunft musste die Beschwerdeführerin es zumindest für möglich halten, dass die Amtshandlung rechtmässig war, und nahm die Hinderung in Kauf.
      • Ein Sachverhaltsirrtum, der den Vorsatz ausschliessen würde, liegt nur vor, wenn der Täter von der völligen Unbeachtlichkeit der Amtshandlung ausgeht. Dies war hier nicht der Fall. Der subjektive Tatbestand ist somit ebenfalls erfüllt.
  3. Weitere Rügen (Gehörsverletzung, Beweisanträge, Strafzumessung, Kosten): Die Beschwerdeführerin rügte zudem eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör, die Abweisung eines Beweisantrags (Existenz eines Registers für Maskenverweigerer bei der SBB) sowie eine fehlerhafte Strafzumessung. Diese Rügen wurden vom Bundesgericht entweder als unbegründet abgewiesen (Genügen der Begründungspflicht der Vorinstanz, keine Ermessensüberschreitung bei der Strafzumessung) oder mangels Substantiierung nicht behandelt (Beweisantrag, Schaden und Genugtuung).

D. Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte

Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit darauf eingetreten wird. Es bestätigt, dass die Maskentragepflicht im öffentlichen Verkehr eine rechtmässige Benützungsvorschrift war und die Transportpolizei befugt war, deren Einhaltung – einschliesslich der Überprüfung von ärztlichen Attesten zur Maskendispens – durchzusetzen. Die Wegweisung der Beschwerdeführerin aus dem Zug war eine rechtmässige und verhältnismässige Amtshandlung. Ihr aktives Festhalten an den Sitzen, um die Beamten an der Durchführung dieser Massnahme zu hindern, stellt eine Hinderung einer Amtshandlung im Sinne von Art. 286 Abs. 1 StGB dar. Die Beschwerdeführerin handelte dabei zumindest eventualvorsätzlich, da sie die mögliche Rechtmässigkeit der Amtshandlung erkannte und deren Hinderung in Kauf nahm. Die Verurteilung wegen Hinderung einer Amtshandlung wurde in vollem Umfang bestätigt.