Zusammenfassung von BGer-Urteil 6B_959/2024 vom 24. September 2025

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Detaillierte Zusammenfassung des Urteils des Schweizerischen Bundesgerichts 6B_959/2024 vom 24. September 2025

1. Einleitung und Parteien

Das Bundesgericht hatte über eine Beschwerde in Strafsachen von A._ (Beschwerdeführer) gegen ein Urteil des Obergerichts des Kantons Glarus vom 25. Oktober 2024 zu befinden. Das Obergericht hatte den Beschwerdeführer unter anderem der mehrfachen Gefährdung des Lebens gemäss Art. 129 StGB und der Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte gemäss Art. 285 Ziff. 1 StGB schuldig gesprochen und zu einer Freiheitsstrafe von 7 Jahren und 6 Monaten verurteilt. Die Beschwerde richtete sich primär gegen die Schuldsprüche in diesen beiden Punkten sowie gegen die Strafzumessung. Die Beschwerdegegner waren die Staats- und Jugendanwaltschaft des Kantons Glarus sowie die beteiligten Polizisten B._ und C.__.

2. Sachverhalt (massgebliche Feststellungen)

Der Sachverhalt, der dem Urteil zugrunde lag, umfasste im Wesentlichen folgende Geschehnisse: Am 7. Mai 2022 gegen 18.45 Uhr lenkte A._ in U._ ein Fahrzeug. Er fuhr nach einem zuvor begangenen Einbruchdiebstahl auf der Strasse W._. Im Bereich einer 180-Grad-Kurve hatten sich vier Polizisten positioniert. Polizist D._ gab A._ ein Haltezeichen und forderte ihn verbal zum Anhalten auf. A._ beschleunigte jedoch und fuhr weiter. Im Scheitelpunkt der Kurve befanden sich zwei quer auf die Fahrbahn gestellte Patrouillenfahrzeuge, davor die in Uniform gekleideten Polizisten C._ und B._. A._ beschleunigte, als er die Strassensperre erblickte, und fuhr mit einer Geschwindigkeit von ca. 30-50 km/h gezielt auf die beiden Polizisten zu. C._, der sich im rechten Fahrbahnbereich befand, musste von seiner Schusswaffe Gebrauch machen und weglaufen, um einer Kollision zu entgehen. B._, im linken Fahrbahnbereich, musste von der Fahrbahn springen, um sich vor einer drohenden Kollision zu retten. Das Gericht stellte fest, dass bei einer Kollision potenziell lebensgefährliche Verletzungen zu erwarten gewesen wären. A._ lenkte den Personenwagen ohne Geschwindigkeitsreduktion über das linksseitige Wiesenbord an den Polizeifahrzeugen vorbei und flüchtete.

3. Vorinstanzliches Urteil des Obergerichts

Das Kantonsgericht Glarus hatte A._ von der Gefährdung des Lebens und der Gewalt/Drohung gegen C._ und B._ freigesprochen. Auf Berufung der Staatsanwaltschaft und der Polizisten sprach das Obergericht A._ zusätzlich der mehrfachen Gefährdung des Lebens gemäss Art. 129 StGB und der Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte gemäss Art. 285 Ziff. 1 StGB schuldig. Es erhöhte die Strafe auf eine Freiheitsstrafe von 7 Jahren und 6 Monaten.

4. Rügen des Beschwerdeführers vor Bundesgericht

Der Beschwerdeführer rügte primär eine willkürliche Sachverhaltsfeststellung hinsichtlich der Fahrgeschwindigkeit und des angeblich gezielten Zufahrens auf die Polizisten sowie deren Position. Weiter machte er eine falsche Anwendung von Art. 129 StGB geltend, insbesondere bezüglich des subjektiven Tatbestands (direkter Vorsatz) und der Skrupellosigkeit. Eventualiter berief er sich auf Notwehr (Art. 15 StGB) aufgrund angeblich ungerechtfertigter Schussabgaben der Polizisten. Schliesslich beanstandete er die Strafzumessung als offensichtlich überhöht.

5. Erwägungen des Bundesgerichts

5.1 Zur Sachverhaltsfeststellung (Willkürrüge)

Das Bundesgericht prüft die Sachverhaltsfeststellung nur auf offensichtliche Unrichtigkeit bzw. Willkür (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 1 BGG). Willkür liegt vor, wenn die Beweiswürdigung schlechterdings unhaltbar ist; eine bloss andere mögliche Lösung genügt nicht (BGE 148 IV 356 E. 2.1). Die Rüge muss explizit und substanziiert vorgebracht werden (Art. 106 Abs. 2 BGG). Dem Grundsatz "in dubio pro reo" kommt dabei keine über das Willkürverbot hinausgehende Bedeutung zu.

  • Geschwindigkeit: Die Vorinstanz stützte ihre Annahme einer Geschwindigkeit von 35-40 km/h auf mehrere Zeugenaussagen (Polizisten D._, B._, C._ und E._), die von einem unverminderten Zufahren oder "Zurasen" sprachen. Sie berücksichtigte die Erfahrung der Polizisten in der Einschätzung von Geschwindigkeiten und die widersprüchlichen, aber teilweise auch die höhere Geschwindigkeit bestätigenden eigenen Aussagen des Beschwerdeführers. Ferner zog sie das schusswaffentechnische Gutachten heran, das eine Geschwindigkeit von 36 km/h mit der Kadenz der Schussabgaben in Einklang brachte. Das Bundesgericht verwarf die Rüge des Beschwerdeführers, da er lediglich seine eigene Sicht darlegte und die vorinstanzliche Würdigung der Beweismittel nicht als willkürlich auswies. Die Feststellung der Geschwindigkeit von 35-40 km/h sei plausibel und nicht willkürlich.
  • Position der Polizisten/Polizeisperre: Die Vorinstanz stützte sich auf die schlüssigen Aussagen der Polizisten, die grösstenteils mit der 3D-Rekonstruktion übereinstimmten. Geringfügige Abweichungen erklärte sie mit dem dynamischen und stressreichen Ablauf des Geschehens. Das Bundesgericht erachtete die Argumentation des Beschwerdeführers, die eine Kollision bei der festgestellten Geschwindigkeit und Position als unvermeidbar darstellte, als unbegründet, da die Polizisten tatsächlich ausweichen konnten. Auch hier gelang es dem Beschwerdeführer nicht, eine willkürliche Sachverhaltsfeststellung nachzuweisen.

5.2 Zur rechtlichen Würdigung (Art. 129 StGB – Gefährdung des Lebens)

5.2.1 Tatbestandsmerkmale von Art. 129 StGB Art. 129 StGB bestraft, wer einen Menschen in skrupelloser Weise in unmittelbare Lebensgefahr bringt. * Objektiver Tatbestand: Erfordert eine konkrete, unmittelbare Lebensgefahr. Diese liegt vor, wenn sich aus dem Täterverhalten nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge direkt die Wahrscheinlichkeit oder nahe Möglichkeit der Todesfolge ergibt (BGE 133 IV 1 E. 5.1). Die Gefahr muss unmittelbar, nicht zwingend unausweichlich sein (Urteil 6B_696/2024 E. 3.1.1). * Subjektiver Tatbestand: Bezüglich der unmittelbaren Lebensgefahr ist direkter Vorsatz erforderlich (BGE 133 IV 1 E. 5.1). Der Täter muss die Gefahr mit sicherem Wissen erkannt und gewollt haben. Art. 129 StGB greift, wenn der Täter trotz erkannter Lebensgefahr handelt, aber darauf vertraut, dass sich die Gefahr nicht realisieren wird (BGE 136 IV 76 E. 2.4). Wünscht oder nimmt er den Tod des Opfers in Kauf, läge Tötungsvorsatz (Art. 111 ff. StGB) vor. * Skrupellosigkeit: Beschreibt ein in schwerem Grade vorwerfbares, rücksichtsloses oder hemmungsloses Verhalten (BGE 133 IV 1 E. 5.1). Sie ist zu bejahen, wenn die Lebensgefahr aus nichtigem Grund geschaffen wird oder deutlich unverhältnismässig erscheint, was eine tiefe Geringschätzung des Lebens offenbart.

5.2.2 Anwendung auf den vorliegenden Fall * Objektiver Tatbestand: Das Bundesgericht bestätigte die vorinstanzliche Annahme einer unmittelbaren Lebensgefahr. Das Zufahren mit 35-40 km/h auf eine Polizeisperre nach einer Kurve, bei der zwei Polizisten unmittelbar vor den Fahrzeugen standen, schaffe nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge die nahe Möglichkeit einer Todesfolge. Die vom Beschwerdeführer vorgebrachten abstrakten Unfallstatistiken bei geringeren Geschwindigkeiten und ausweichenden Personen seien für die Beurteilung der konkreten Situation unerheblich. * Subjektiver Tatbestand: Der Beschwerdeführer habe zweifellos damit gerechnet, dass die Polizei nach dem Einbruchdiebstahl über die Tat informiert war und seine Verhaftung drohte. Er habe die Polizeisperre bewusst in Kauf genommen und sei ohne zu bremsen oder zu verlangsamen auf die Polizisten zugefahren. Das Bundesgericht bestätigte, dass er die nahe Möglichkeit des Todes der Polizisten mit sicherem Wissen erkannt und gewollt habe, um sie abzuschrecken und sich der Verhaftung zu entziehen. Sein Vertrauen darauf, dass die Polizisten ausweichen würden, schliesse den direkten Vorsatz bezüglich der Lebensgefahr nicht aus. Die Vorinstanz habe zu Recht eine besondere Hemmungs- und Rücksichtslosigkeit bejaht.

5.3 Zur Notwehr (Art. 15 StGB)

Der Beschwerdeführer machte geltend, die Schussabgaben der Polizisten seien ungerechtfertigt gewesen und hätten eine Notwehrsituation für ihn begründet. Das Bundesgericht verneinte dies mit dem Hinweis, dass der Beschwerdeführer die Lebensgefahr für die Polizisten durch sein Fahrverhalten bereits vor den Schussabgaben von C.__ geschaffen hatte. Es sei nicht ungeklärt, wer zuerst eine Lebensgefahr schuf. Ein Sachverhaltsirrtum des Beschwerdeführers bezüglich einer Notwehrsituation wurde ausgeschlossen. Die Rechtmässigkeit der Schussabgaben der Polizisten sei zudem Gegenstand eines separaten Parallelverfahrens und nicht des vorliegenden Verfahrens gegen den Beschwerdeführer.

5.4 Zu Art. 285 Ziff. 1 StGB (Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte)

Das Bundesgericht trat auf die Rüge des Beschwerdeführers bezüglich der falschen Anwendung von Art. 285 Ziff. 1 StGB nicht ein, da die Ausführungen des Beschwerdeführers den Anforderungen an eine substanziierte Rüge gemäss Art. 42 Abs. 2 BGG nicht genügten.

5.5 Zur Strafzumessung

Das Bundesgericht bestätigte die vorinstanzliche Strafzumessung. Es wies darauf hin, dass dem Sachgericht bei der Strafzumessung ein erheblicher Ermessensspielraum zukommt und das Bundesgericht nur bei Ermessensüberschreitung oder -missbrauch eingreift (BGE 149 IV 217 E. 1.1). Der Beschwerdeführer beschränkte sich darauf, eine eigene, geringere Strafe vorzuschlagen, ohne substantiiert darzulegen, inwiefern die Vorinstanz ihr Ermessen überschritten haben sollte. Die Strafzumessung von 7 Jahren und 6 Monaten Freiheitsstrafe wurde daher als bundesrechtskonform befunden.

6. Kostenfolgen

Die Beschwerde wurde abgewiesen, soweit darauf eingetreten werden konnte. Das Gesuch des Beschwerdeführers um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wurde gutgeheissen, da die Bedürftigkeit erstellt war und die Beschwerde nicht von vornherein aussichtslos erschien. Es wurden keine Gerichtskosten erhoben, und der Rechtsvertreter des Beschwerdeführers wurde aus der Bundesgerichtskasse entschädigt.

Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:

Das Bundesgericht bestätigte die Schuldsprüche wegen mehrfacher Gefährdung des Lebens (Art. 129 StGB) und Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte (Art. 285 Ziff. 1 StGB). Es wies die Rügen des Beschwerdeführers bezüglich willkürlicher Sachverhaltsfeststellung (Geschwindigkeit 35-40 km/h, gezieltes Zufahren auf Polizisten) und falscher Rechtsanwendung ab. Insbesondere bejahte das Gericht den direkten Vorsatz des Beschwerdeführers hinsichtlich der unmittelbaren Lebensgefahr für die Polizisten und die skrupellose Art seines Handelns, da er bewusst auf die Polizisten zufuhr, um seine Flucht zu ermöglichen. Ein Rechtfertigungsgrund (Notwehr) wurde verneint, da der Beschwerdeführer die Lebensgefahr für die Polizisten bereits vor den polizeilichen Schussabgaben geschaffen hatte. Auch die Rüge gegen die Strafzumessung (Freiheitsstrafe von 7 Jahren und 6 Monaten) wurde als unbegründet abgewiesen. Das Bundesgericht gewährte dem Beschwerdeführer jedoch die unentgeltliche Rechtspflege.