Zusammenfassung von BGer-Urteil 6B_872/2024 vom 24. September 2025

Es handelt sich um ein experimentelles Feature. Es besteht keine Gewähr für die Richtigkeit der Zusammenfassung.

Das Bundesgericht hatte im vorliegenden Fall über eine Beschwerde in Strafsachen von A.__ zu befinden, welche sich gegen ein Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich richtete. Die Beschwerdeführerin wurde wegen fahrlässiger einfacher Verletzung von Verkehrsregeln und pflichtwidrigen Verhaltens bei Unfall verurteilt. Die zentralen Rügen betrafen prozessuale Aspekte, insbesondere die Anordnung eines schriftlichen Berufungsverfahrens, sowie die willkürliche Sachverhaltsfeststellung und Beweiswürdigung.

A. Sachverhalt und Vorinstanzen

Der Beschwerdeführerin wurde vorgeworfen, am 11. März 2022 auf einem Parkplatz in V._ beim Rückwärts Ausparken fahrlässig ein rechts von ihr geparktes Motorrad zu Fall gebracht und einen Sachschaden verursacht zu haben. Anschliessend soll sie sich pflichtwidrig vom Unfallort entfernt haben, obwohl sie das auf dem Boden liegende Motorrad bemerkt und sogar versucht habe, es aufzustellen. Das Bezirksgericht Horgen sprach A._ der fahrlässigen einfachen Verletzung von Verkehrsregeln (Art. 90 Abs. 1 SVG) und des pflichtwidrigen Verhaltens bei Unfall (Art. 92 Abs. 1 SVG) schuldig und verurteilte sie zu einer Busse von Fr. 400.--. Das Obergericht des Kantons Zürich wies die dagegen erhobene Berufung ab und bestätigte die Verurteilung.

B. Prozessuale Fragen vor Bundesgericht

  1. Schriftliches Berufungsverfahren und rechtliches Gehör (Erwägung 2) Die Beschwerdeführerin rügte, das Obergericht habe Art. 406 StPO und Art. 6 EMRK verletzt, indem es auf die Durchführung einer mündlichen Berufungsverhandlung verzichtet und das schriftliche Verfahren angeordnet habe. Zudem sei ihr kein rechtliches Gehör zur Frage der Verfahrensart eingeräumt worden.

    • Rechtliche Grundlagen:

      • Art. 406 Abs. 1 StPO: Regelt die Ausnahmen, in denen das Berufungsgericht ein schriftliches Verfahren anordnen kann, auch ohne Einverständnis der Parteien. Dies ist u.a. bei Übertretungen (lit. c) der Fall, wenn die Überprüfungsbefugnis der Berufungsinstanz ohnehin beschränkt ist (Art. 398 Abs. 4 StPO) und keine Verurteilung wegen eines Verbrechens oder Vergehens beantragt wird.
      • Art. 6 Abs. 1 EMRK: Garantiert den Anspruch auf eine öffentliche Gerichtsverhandlung. Dieser Anspruch ist jedoch nicht absolut und seine Anwendung auf Rechtsmittelinstanzen hängt von den Besonderheiten des konkreten Verfahrens ab. Der EGMR verlangt nicht in jedem Fall eine mündliche Verhandlung, insbesondere wenn die erste Instanz bereits öffentlich verhandelt hat, nur Rechtsfragen zur Debatte stehen, die Sachfragen leicht nach Aktenlage beurteilt werden können, die Sache von geringer Tragweite ist und keine Fragen zur Person und deren Charakter im Vordergrund stehen.
      • Rechtliches Gehör: Ein Vernehmlassungsverfahren betreffend die Art des Verfahrens (schriftlich oder mündlich) ist gemäss Rechtsprechung und Lehre nicht vorgesehen.
    • Anwendung und Begründung des Bundesgerichts: Das Bundesgericht bestätigte die Zulässigkeit des schriftlichen Verfahrens. Es führte aus, dass im vorliegenden Fall unbestrittenermassen eine Übertretung Gegenstand des Verfahrens war und im Berufungsverfahren keine Verurteilung für ein Verbrechen oder Vergehen möglich war (Art. 406 Abs. 1 lit. c StPO). Die erste Instanz hatte bereits eine öffentliche Verhandlung durchgeführt. Die Angelegenheit war zudem von geringer Bedeutung (Busse von Fr. 400.--). Die Prüfungsbefugnis der Vorinstanz in tatsächlicher Hinsicht war auf Willkür beschränkt (Art. 398 Abs. 4 StPO), und die gestellten Fragen konnten anhand der Akten beurteilt werden. Eine erneute Befragung der Beschwerdeführerin oder des Zeugen sei nicht notwendig gewesen. Insgesamt sei die Anordnung des schriftlichen Verfahrens mit Art. 6 Abs. 1 EMRK vereinbar. Auch war die Vorinstanz nicht gehalten, eine Vernehmlassung zur Art des Verfahrens durchzuführen. Die Rügen der Beschwerdeführerin wurden als unbegründet abgewiesen.

C. Sachverhaltsfeststellung und Beweiswürdigung (Erwägung 3, 4 und 5)

  1. Rüge der willkürlichen Sachverhaltsfeststellung (Erwägung 3.1) Die Beschwerdeführerin machte geltend, die Vorinstanz habe den Sachverhalt willkürlich festgestellt, indem sie zum Schluss gekommen sei, ihr Personenwagen habe beim Rückwärts Ausparken das Motorrad gestreift und zu Fall gebracht.

    • Rechtliche Grundlagen zur Willkür:
      • Art. 97 Abs. 1, 105 Abs. 1 und 2 BGG: Sachverhaltsfeststellungen können nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig sind (d.h. willkürlich) oder auf einer Rechtsverletzung beruhen und der Mangel für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann. Willkür liegt vor, wenn der angefochtene Entscheid offensichtlich unhaltbar ist oder in klarem Widerspruch zur tatsächlichen Situation steht. Eine erhöhte Begründungsanforderung für Willkürrügen gilt.
      • Art. 398 Abs. 4 StPO: Bei Übertretungen prüft das Bundesgericht frei, ob die Vorinstanz eine Rüge der willkürlichen Beweiswürdigung zu Unrecht verneint hat, nimmt aber keine eigene Beweiswürdigung vor.
      • Art. 6 Abs. 1 StPO (Untersuchungsgrundsatz) und antizipierte Beweiswürdigung: Die Strafbehörden klären alle bedeutsamen Tatsachen von Amtes wegen ab. Sie können auf die Abnahme weiterer Beweise verzichten, wenn der Sachverhalt genügend abgeklärt ist und ein an sich taugliches Beweismittel die bereits gewonnene Überzeugung nicht erschüttern würde (antizipierte Beweiswürdigung). Dies wird vom Bundesgericht nur unter dem Aspekt der Willkür überprüft.
  2. Beweiswürdigung der Vorinstanzen (Erwägung 4) Die Vorinstanzen stützten sich massgeblich auf die Aussagen des Zeugen C.__. Dieser hatte zum Tatzeitpunkt beobachtet, wie die Beschwerdeführerin rückwärts ausparkte und dabei das Motorrad umkippte. Er gab an, die eigentliche Berührung zwar nicht gesehen oder gehört zu haben (was durch geschlossene Autofenster und den Blickwinkel erklärt wurde), aber den kausalen Zusammenhang zwischen dem Ausparkvorgang und dem Umkippen des Motorrads glaubhaft geschildert. Seine Aussagen wurden als sachlich, plausibel und ohne Eigeninteresse beurteilt. Die Vorinstanz berücksichtigte auch die Aussagen der Beschwerdeführerin, die einräumte, dass das Motorrad "schon stimmen werde", wenn der Zeuge dessen Umfallen im Zusammenhang mit ihrer Rückwärtsfahrt behaupte, sie aber zu weit weg gewesen sei. Die Vorinstanz wertete dies dahingehend, dass die Beschwerdeführerin die Position des Motorrads beim Ausparken nicht im Blick gehabt hatte. Ihre Behauptung, trotz offenem Fenster keine Kollision gehört zu haben, wurde als Schutzbehauptung gewertet, da ein umfallendes Motorrad nach allgemeiner Lebenserfahrung Geräusche verursache. Alternative Ursachen für das Umkippen (Windstoss, Selbstumfallen) wurden von den Vorinstanzen willkürfrei ausgeschlossen.

  3. Rügen der Beschwerdeführerin und deren Beurteilung (Erwägung 5)

    • Fehlende gerichtliche Zeugeneinvernahme (Erwägung 5.1-5.3): Die Beschwerdeführerin rügte, der Zeuge C.__ sei nur im Vorverfahren, nicht aber gerichtlich einvernommen worden, obwohl die Verurteilung auf dessen Aussage beruhe. Dies verletze das Unmittelbarkeitsprinzip (Art. 343 Abs. 3 StPO) und ihr rechtliches Gehör.

      • Rechtliche Grundlagen (Unmittelbarkeitsprinzip): Das Strafprozessrecht kennt ein beschränktes Unmittelbarkeitsprinzip. Eine erneute Beweisabnahme ist nur erforderlich, wenn die unmittelbare Kenntnis des Beweismittels für die Urteilsfällung notwendig erscheint, etwa wenn die Kraft des Beweismittels entscheidend vom persönlichen Eindruck abhängt ("Aussage gegen Aussage"-Konstellationen bei Widersprüchen, schweren Vorwürfen). Das Gericht verfügt über Ermessen.
      • Anwendung und Begründung des Bundesgerichts: Das Bundesgericht verneinte eine Verletzung. Es hielt fest, dass die Beschwerdeführerin die Glaubwürdigkeit des Zeugen nicht substantiiert in Frage stellte und es im vorliegenden Fall nicht in besonderem Masse auf den persönlichen Eindruck des Zeugen ankam. Die Verurteilung stützte sich zudem nicht allein auf die Zeugenaussage, sondern auch auf den Polizeirapport und die Aussagen der Beschwerdeführerin. Ihr Verteidiger war bei der Einvernahme des Zeugen anwesend und hatte Fragen gestellt. Da alternative Ursachen für das Umkippen willkürfrei ausgeschlossen wurden, mussten Detailfragen zum "Ausschwenken" nicht vertieft werden. Das erstinstanzliche Gericht habe sein Ermessen nicht überschritten.
    • Ungenügende polizeiliche Spurensicherung und Begründungspflicht (Erwägung 5.4.1): Die Beschwerdeführerin rügte, eine ungenügende Spurensicherung durch die Polizei (fehlende Asservierung von Mikrospuren) habe einen Entlastungsbeweis vereitelt. Ferner sei die Begründungspflicht verletzt worden.

      • Anwendung und Begründung des Bundesgerichts: Das Bundesgericht befand, dass die unterbliebene Spurensicherung nicht schädlich war, da der Sachverhalt bereits aus den vorhandenen Beweismitteln (Zeuge, Beschwerdeführerin) schlüssig erstellt werden konnte. Zudem hatte die Beschwerdeführerin selbst nie behauptet, an ihrem Fahrzeug seien keine Spuren sichtbar gewesen. Eine Verletzung der Begründungspflicht wurde verneint, da die Vorinstanz die wesentlichen Punkte erörtert und ihre Entscheidungsgründe transparent dargelegt hatte.
    • Abweisung des Beweisantrags auf "rekonstruktiven Augenschein" (Erwägung 5.4.2): Die Abweisung des Antrags auf Durchführung eines "rekonstruktiven Augenscheins" mittels antizipierter Beweiswürdigung wurde vom Bundesgericht als nicht zu beanstanden erachtet, da die Sachlage aufgrund der bereits vorliegenden Beweise als geklärt galt.

    • Gesamtwürdigung (Erwägung 5.5): Das Bundesgericht kam zum Schluss, dass die Vorinstanz eine willkürliche Beweiswürdigung durch die erste Instanz zu Recht verneinen durfte und davon ausgehen konnte, dass es aufgrund des Verhaltens der Beschwerdeführerin zu einer Streifkollision gekommen war, die zum Umkippen des Motorrads führte. Die rechtliche Würdigung dieses Sachverhalts durch die Vorinstatnz (d.h. die Anwendung von Art. 90 Abs. 1 SVG und Art. 92 Abs. 1 SVG) wurde von der Beschwerdeführerin nicht angefochten und daher vom Bundesgericht nicht weiter geprüft.

D. Ergebnis

Die Beschwerde wurde abgewiesen, soweit darauf eingetreten wurde. Die Gerichtskosten wurden der Beschwerdeführerin auferlegt.

Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:

Das Bundesgericht hat die Verurteilung der Beschwerdeführerin wegen fahrlässiger einfacher Verletzung von Verkehrsregeln und pflichtwidrigen Verhaltens bei Unfall bestätigt. 1. Schriftliches Verfahren: Die Anordnung eines schriftlichen Berufungsverfahrens für eine Übertretung war zulässig und mit Art. 6 EMRK vereinbar, da die erste Instanz öffentlich verhandelt hatte, der Fall von geringer Bedeutung war und die Sachfragen anhand der Akten beurteilt werden konnten. Ein Anhörungsrecht zur Verfahrensart besteht nicht. 2. Beweiswürdigung: Die Feststellung einer Streifkollision durch die Vorinstanzen wurde nicht als willkürlich erachtet. Sie stützte sich primär auf die glaubhaften Aussagen eines Zeugen und die eigenen, teilweise belastenden Einlassungen der Beschwerdeführerin. Alternative Unfallursachen wurden willkürfrei ausgeschlossen. 3. Unmittelbarkeitsprinzip: Das Absehen von einer erneuten gerichtlichen Einvernahme des Zeugen war nicht zu beanstanden, da dessen Glaubwürdigkeit nicht in Frage gestellt wurde, der Fall keine "Aussage gegen Aussage"-Konstellation darstellte, die Verurteilung nicht ausschliesslich auf der Zeugenaussage beruhte und der Verteidiger bei der Erstbefragung anwesend war. 4. Beweisanträge: Rügen bezüglich ungenügender Spurensicherung und abgelehnter rekonstruktiver Augenscheine wurden zurückgewiesen, da der Sachverhalt als hinreichend geklärt erachtet wurde.