Zusammenfassung von BGer-Urteil 7B_994/2025 vom 23. Oktober 2025

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Detaillierte Zusammenfassung des Urteils des Schweizerischen Bundesgerichts 7B_994/2025 vom 23. Oktober 2025

Parteien: * Beschwerdeführer: A.__ * Beschwerdegegner: Ministère public de la République et canton de Neuchâtel (Staatsanwaltschaft des Kantons Neuenburg)

Gegenstand: Ersatzmassnahmen zur Untersuchungshaft (Art. 237 ff. StPO)

Verfahrensgang und Sachverhalt:

  1. Strafuntersuchung und Haftanordnung: Am 9. Mai 2025 eröffnete die Staatsanwaltschaft Neuenburg eine Strafuntersuchung gegen A._ wegen Drohung und Gewalt gegen Behörden und Beamte (Art. 285 StGB). Ihm wurde vorgeworfen, am 8. Mai 2025 in Telefonaten mit Justizbehörden im Rahmen von Familienverfahren Drohungen geäussert zu haben (z.B. "Ich werde nicht dabei bleiben", "Ich kenne alle Namen", "Ihr seid am Ende", "Ihr werdet dafür bezahlen"). Am 20. Mai 2025 wurde die Untersuchung auf weitere Drohungen im Mai 2025 ausgedehnt, bei denen A._ angeblich angedeutet hatte, sich an Richtern oder deren Angehörigen zu vergehen, sollten Entscheidungen nicht in seinem Sinne ausfallen.
  2. Untersuchungshaft: A.__ wurde am 21. Mai 2025 festgenommen und am 22. Mai 2025 vom Tribunal des mesures de contrainte (Zwangsmassnahmengericht, TMC) für einen Monat in Untersuchungshaft genommen. Ein Rekurs des Beschwerdeführers gegen diese Anordnung wurde von der Autorité de recours en matière pénale (Strafrechtliche Beschwerdeinstanz, ARMP) am 4. Juni 2025 und vom Bundesgericht am 28. Juli 2025 (Urteil 7B_629/2025) abgewiesen. Auch ein Revisionsgesuch wurde vom Bundesgericht am 7. Oktober 2025 (Urteil 7F_36/2025) als unzulässig abgewiesen. Die Untersuchungshaft wurde am 27. Juni 2025 bis zum 15. August 2025 verlängert.
  3. Anordnung von Ersatzmassnahmen: Am 11. August 2025 wurde A.__ von der Staatsanwaltschaft über beabsichtigte Ersatzmassnahmen informiert, welche er zu akzeptieren erklärte. Er gab an, zu seiner Schwester zu ziehen und weit entfernt von Neuenburg Arbeit und Wohnung zu suchen. Daraufhin ordnete die Staatsanwaltschaft seine sofortige Freilassung an und beantragte dem TMC die Anordnung von Ersatzmassnahmen. Das TMC ordnete am 12. August 2025 folgende Massnahmen für drei Monate (bis 12. November 2025) an:
      1. Formelles Kontaktverbot mit B.__.
      1. Unterstellung unter eine Bewährungshilfe und Befolgung der Anweisungen des Bewährungshelfers.
      1. Pflicht, sich einer Behandlung durch einen Psychiater zu unterziehen und der Medikation (oral oder intramuskulär) zu folgen.
      1. Pflicht, sich Kontrollen zur Sicherstellung der regelmässigen Medikamenteneinnahme zu unterziehen.
      1. Verbot, Gerichtsgebäude zu betreten, ausser bei Ladungen. Das TMC behielt sich die Aufhebung der Massnahmen bei Nichteinhaltung vor.
  4. Rekurs gegen Ersatzmassnahmen: A.__ rekurrierte erfolglos bei der ARMP gegen die Anordnung des TMC. Die ARMP bestätigte die Massnahmen mit Entscheid vom 3. September 2025.
  5. Beschwerde an das Bundesgericht: A.__ reichte Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht ein. Er beantragte hauptsächlich die Aufhebung der Massnahmen 3 und 4 (Medikationspflicht), die Feststellung der "Unausführbarkeit jeder Medikation/Punktion contra voluntatem ausserhalb CC 434" (Hinweis auf zwangsweise Medikation) und eine Entschädigung von 1'000'000 CHF. Subsidiär beantragte er die Aufhebung und Rückweisung an die Vorinstanz.

Erwägungen des Bundesgerichts:

  1. Zulässigkeit der Beschwerde (Rz. 1): Die Beschwerde in Strafsachen ist grundsätzlich zulässig. Das Bundesgericht wies jedoch darauf hin, dass die Begründung des Beschwerdeführers (ca. 50 Seiten) den Anforderungen von Art. 42 Abs. 2 und 6 BGG sowie Art. 106 Abs. 2 BGG in vielen Teilen nicht genüge. Sie sei ausschweifend, teilweise unverständlich, appellatorisch und wiederhole frühere Argumente. Das Bundesgericht würde sich nur zu den zulässigen Rügen äussern.
  2. Formelle Rügen (Rz. 2):
    • Unabhängigkeit und Unparteilichkeit (Rz. 2.1): Der Beschwerdeführer rügte eine Verletzung der Garantie auf Unabhängigkeit und Unparteilichkeit (Art. 30 Abs. 1 BV, Art. 6 Abs. 1 EMRK), da "Kanzleimitarbeiter" und "Magistraten" angeblich die Untersuchung aufgrund von "internen Notizen" ausgelöst hätten und somit Anklagequelle und Verfahrensführer gewesen seien. Die Staatsanwaltschaft habe diese Notizen verwendet und das psychiatrische Gutachten "gelenkt". Das Bundesgericht wies diese Rüge als pauschal, nicht substantiiert und verspätet vorbracht (Verletzung des Erschöpfungsgrundsatzes) zurück.
    • Rechtliches Gehör (Rz. 2.2): Die Rüge, die kantonale Instanz habe seine Replik nicht geprüft, wurde ebenfalls abgewiesen. Das Bundesgericht stellte fest, dass die Vorinstanz die Replik berücksichtigt, ihren Inhalt detailliert wiedergegeben und zu den relevanten Punkten geantwortet hatte.
    • Rechtsverweigerung (Rz. 2.3): Eine behauptete Rechtsverweigerung bezüglich seines Revisionsgesuchs wurde ebenfalls abgewiesen, da die kantonale Feststellung, das Bundesgericht habe lediglich den Empfang bestätigt, zum damaligen Zeitpunkt korrekt war und das Bundesgericht das Gesuch später ohnehin abgewiesen hatte.
  3. Materielle Rügen – Begründetheit der Ersatzmassnahmen (Rz. 3):
    • Rechtlicher Rahmen (Rz. 3.1): Untersuchungshaft und Ersatzmassnahmen erfordern eine gesetzliche Grundlage (Art. 221 StPO), ein öffentliches Interesse und müssen verhältnismässig sein (Art. 36 Abs. 2, 3 BV). Es muss ein dringender Tatverdacht und ein Haftgrund (Flucht-, Kollusions-, Wiederholungs- oder Ausführungsgefahr) vorliegen. Art. 237 Abs. 4 StPO verweist analog auf die Regeln der Untersuchungshaft.
    • Dringender Tatverdacht (Rz. 3.2, 3.3): Die kantonale Instanz hatte das Bestehen eines dringenden Tatverdachts (Art. 285 StGB) bejaht und auf ihr Urteil vom 4. Juni 2025 verwiesen, welches das Bundesgericht bestätigt hatte. Die Rügen des Beschwerdeführers gegen den Tatverdacht, er sei unschuldig und die "Kanzleivermerke ohne Audioaufzeichnung" seien nicht verwertbar, wurden als appellatorisch und unsubstantiiert zurückgewiesen.
    • Ausführungsgefahr (Risque de passage à l'acte, Rz. 3.2, 3.4):
      • Beurteilung der Vorinstanz: Die Vorinstanz bejahte eine Ausführungsgefahr im Sinne von Art. 221 Abs. 2 StPO. Das psychiatrische Vorabgutachten vom 11. Juni 2025 schliesse diese Gefahr nicht aus, sondern halte ein "sehr hohes Risiko für Drohungen und prozedurale Schritte" fest. Es sei zwar schwierig, sich nach einem einzigen Gespräch "bezüglich der heteroaggressiven Risiken affirmativ zu äussern", doch sei eine "ungünstige Eskalation" im Verhalten des Beschwerdeführers festzustellen, der sich "in die Enge getrieben und nichts zu verlieren" fühle. Der Psychiater diagnostizierte eine bipolare Störung Typ I (aktuelle manische Episode mit psychotischen Symptomen) und Cannabisabhängigkeit. Er wies auf eine Vorgeschichte von Gewalt gegen die Schwester (Würgeversuche) hin. Die Haft habe keine Einsicht gebracht; A.__ beharre auf seiner Vorstellung, Opfer korrupter Behörden zu sein, was sich auch in einer Pressemitteilung vom 14. August 2025 zeige.
      • Rechtliche Anforderungen (Rz. 3.4.2): Das Bundesgericht erinnerte an die seit 1. Januar 2024 geänderte Fassung von Art. 221 Abs. 2 StPO, wonach Untersuchungshaft angeordnet werden kann, wenn eine "ernsthafte und unmittelbare Gefahr" besteht, dass eine Person nach der Drohung mit einem schweren Verbrechen dieses auch tatsächlich ausführt. Es handelt sich um einen autonomen Haftgrund. Bei der Beurteilung sei Zurückhaltung geboten, es sei aber nicht zwingend, dass bereits konkrete Vorbereitungshandlungen erfolgt seien. Der Begriff "unmittelbar" erfordere, dass schwere Verbrechen in naher Zukunft drohen und die Haft dringend geboten sei.
      • Bundesgerichtliche Analyse der Ausführungsgefahr (Rz. 3.4.3): Entgegen der Behauptung des Beschwerdeführers habe das Vorabgutachten die Ausführungsgefahr nicht ausgeschlossen, sondern lediglich die Schwierigkeit der präzisen Einschätzung nach einem einzigen Gespräch betont. Die vom Psychiater festgestellten psychischen Störungen (bipolare Störung, sich verschlechternder Verlauf, fehlende Behandlung, Gewalttätigkeit in der Vergangenheit) und die anhaltende Opferhaltung des Beschwerdeführers begründeten weiterhin eine "ernsthafte und unmittelbare Gefahr", dass er, sich in die Enge getrieben fühlend, seine Drohungen in die Tat umsetzen könnte, wobei insbesondere Kinder betroffen sein könnten. Das Bundesgericht bestätigte die Bejahung der Ausführungsgefahr durch die Vorinstanz.
  4. Materielle Rügen – Verhältnismässigkeit spezifischer Massnahmen (Rz. 4):
    • Angriff des Beschwerdeführers (Rz. 4.1): A.__ rügte die Massnahmen 3 und 4, insbesondere die Medikationspflicht, als ohne gesetzliche Grundlage, unverhältnismässig und aufgrund eines mangelhaften Einverständnisses ergangen.
    • Unbestrittene Massnahmen (Rz. 4.3, 4.4): Die Verpflichtung zur psychiatrischen Behandlung an sich sowie die Massnahmen 1, 2 und 5 (Kontaktverbot, Bewährungshilfe, Betretensverbot von Gerichtsgebäuden) wurden vom Beschwerdeführer nicht angefochten und vom Bundesgericht als verhältnismässig erachtet.
    • Die Medikationspflicht (Teil von Massnahme 3 und 4) (Rz. 4.5):
      • Mangelnde Grundlage und Präzision (Rz. 4.5.1): Das Bundesgericht stellte fest, dass die Vorinstanz die Notwendigkeit und Eignung einer Medikation zur Abwendung der Ausführungsgefahr nicht schlüssig dargelegt hatte. Es fehle an einer Expertise, die aussage, dass die psychiatrische Behandlung zwingend die Einnahme von Medikamenten erfordere. Die Eignung und Erforderlichkeit einer medikamentösen Behandlung seien im gegenwärtigen Stadium nicht nachgewiesen. Zudem seien die Konturen der vom TMC angeordneten Medikation ("jeder Art von Medikation, oral oder intramuskulär") zu unpräzise, um die Verhältnismässigkeit im engeren Sinne oder gar die gesetzliche Grundlage (Art. 36 Abs. 1 BV) prüfen zu können.
      • Bedeutung der Zustimmung (Rz. 4.5.2): Die anfängliche Zustimmung des Beschwerdeführers zu den Massnahmen vor der Staatsanwaltschaft ändere nichts an dieser Bewertung, da die kantonale Instanz seine Rügen materiell geprüft hatte.
    • Schlussfolgerung zur Medikationspflicht (Rz. 4.6): Das Bundesgericht kam zum Schluss, dass der angefochtene Entscheid in diesem Punkt (Medikationspflicht und damit verbundene Kontrollen) zu reformieren sei. Die Pflicht zur psychiatrischen Behandlung erstrecke sich nicht auf die Einnahme von Medikamenten und die damit verbundenen Kontrollen. Dies schliesse jedoch nicht aus, dass das TMC später gemäss Art. 237 Abs. 5 StPO neue, präziser definierte Massnahmen anordne, falls dies erforderlich sei.
  5. Entscheid und Kosten (Rz. 5, 6): Die Beschwerde wurde teilweise gutgeheissen. Der angefochtene Entscheid wurde reformiert, indem die Pflicht zur psychiatrischen Behandlung nicht die Einnahme von Medikamenten und die damit verbundenen Kontrollen umfasst. Im Übrigen wurde die Beschwerde, soweit zulässig, abgewiesen. Die Sache wurde zur Neubeurteilung der Kosten und Entschädigungen des kantonalen Verfahrens an die Vorinstanz zurückgewiesen. Die Gesuche um aufschiebende Wirkung und vorsorgliche Massnahmen wurden durch den Sachgerichtsentscheid gegenstandslos. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wurde insoweit abgewiesen, als die Beschwerde ohne Erfolgschancen war. Die Gerichtskosten für den Beschwerdeführer wurden aufgrund des teilweisen Obsiegens auf 1'000 CHF reduziert; eine Parteientschädigung wurde nicht zugesprochen, da er nicht anwaltlich vertreten war.
Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:

Das Bundesgericht bestätigte die Anordnung von Ersatzmassnahmen zur Untersuchungshaft gegen A.__ aufgrund eines dringenden Tatverdachts und einer ernsthaften und unmittelbaren Ausführungsgefahr (Risque de passage à l'acte). Es stützte sich dabei auf die Schwere der Drohungen, die psychische Verfassung des Beschwerdeführers (bipolare Störung mit psychotischen Symptomen, Cannabisabhängigkeit) und seine Gewalttätigkeit in der Vergangenheit.

Das Gericht wies alle formellen Rügen (Unparteilichkeit, rechtliches Gehör) sowie die materiellen Rügen gegen den Tatverdacht und die Ausführungsgefahr ab.

Teilweise gutgeheissen wurde die Beschwerde jedoch bezüglich der Pflicht zur Medikation und deren Kontrolle. Das Bundesgericht befand, dass die Eignung und Erforderlichkeit einer Medikation zur Abwendung der Ausführungsgefahr nicht ausreichend dargelegt waren und die Anordnung diesbezüglich zu unpräzise sei. Es fehle an einer konkreten Expertenmeinung, die eine Medikationspflicht begründe. Die Pflicht zur psychiatrischen Behandlung an sich wurde hingegen bestätigt, muss sich aber nicht auf die zwangsweise Einnahme von Medikamenten und deren Kontrolle erstrecken.