Es handelt sich um ein experimentelles Feature. Es besteht keine Gewähr für die Richtigkeit der Zusammenfassung.
Das vorliegende Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts betrifft einen Beschwerdeentscheid der II. Strafrechtlichen Abteilung vom 7. Oktober 2025 (Verfahren 7B_483/2025). Gegenstand des Verfahrens war die Beschwerde von A.__ (nachfolgend Beschwerdeführer) gegen den Entscheid der Chambre pénale de recours des Kantons Genf vom 17. April 2025, welche die Aufhebung seiner amtlichen Verteidigung durch das Polizeigericht bestätigte. Der Beschwerdeführer beantragte die Aufhebung des kantonalen Entscheids, die Feststellung, dass die amtliche Verteidigung aufrechterhalten werde, und die Rückweisung der Sache zur Neuregelung der Kosten.
II. SachverhaltDer Sachverhalt kann wie folgt zusammengefasst werden: 1. Strafanzeige und Vorwürfe: Am 16. Oktober 2023 reichte B._, Leiter einer Abteilung des Genfer Hospice général, eine Strafanzeige wegen übler Nachrede gegen A._ ein. A._, ein aus U._ stammender Sozialhilfeempfänger, hatte B._ in Schreiben vom 17. August 2023 an einen Staatsrat und das Büro des Hochkommissars für Menschenrechte fälschlicherweise beschuldigt, seine Familie bedroht und geäussert zu haben, er hasse U._, wolle, dass diese Genf schnellstmöglich verlassen, und sei froh, dass sie "von den V._ und C._ getötet" würden. 2. Einvernahme und Geständnis: Am 4. Dezember 2023 wurde A._ als Beschuldigter ohne Anwalt, aber mit Dolmetscher einvernommen. Er gab zu, die fraglichen Schreiben selbst verfasst zu haben, und erklärte, er halte an den Aussagen fest, obwohl keine Zeugen sie bestätigen könnten. 3. Strafbefehl und Einsprache: Am 25. Januar 2024 wurde A._ per Strafbefehl der üblen Nachrede schuldig gesprochen und zu einer Geldstrafe von 50 Tagessätzen à CHF 30 (bedingt, mit einer Probezeit von 3 Jahren) verurteilt. A._ erhob rechtzeitig Einsprache. 4. Einsetzung der amtlichen Verteidigung: Am 29. Februar 2024 bewilligte die Genfer Staatsanwaltschaft das Gesuch des Beschwerdeführers um amtliche Verteidigung und ernannte Me D._ zu dessen Rechtsbeistand. 5. Konfrontation und Überweisung: Nach einer Konfrontationseinvernahme am 17. April 2024 (bei der A._ von seinem amtlichen Verteidiger und einem Dolmetscher, B._ von seinem Anwalt begleitet wurde) bestätigte die Staatsanwaltschaft am 18. April 2024 ihren Strafbefehl und überwies das Verfahren an das Genfer Polizeigericht. 6. Antrag auf weitere amtliche Verteidigung: Am 30. Juli 2024 erklärte das Polizeigericht ein erneutes Gesuch des Beschwerdeführers um amtliche Verteidigung als gegenstandslos, da Me D._ bereits am 29. Februar 2024 ernannt worden sei und "anscheinend noch mandatiert" sei. 7. Widerruf der amtlichen Verteidigung durch das Polizeigericht: Am 26. März 2025 widerrief der Präsident des Polizeigerichts die amtliche Verteidigung des Beschwerdeführers und entband Me D._ von seinem Mandat. Er begründete dies damit, dass die Angelegenheit die Bestellung eines Verteidigers nicht erfordere, da die verhängte Strafe weit unter 120 Tagessätzen liege und es sich um eine einzige, weder schwere noch besonders komplexe Straftat handle. 8. Bestätigung durch die kantonale Beschwerdeinstanz: Am 17. April 2025 wies die Chambre pénale de recours des Genfer Justizhofs die Beschwerde des Beschwerdeführers gegen den Widerruf ab und auferlegte ihm die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III. Anträge und Rügen des BeschwerdeführersDer Beschwerdeführer machte geltend, die kantonale Beschwerdeinstanz habe Art. 134 StPO sowie den Grundsatz von Treu und Glauben verletzt. Zudem rügte er eine Verletzung von Art. 132 StPO, Art. 29 Abs. 3 BV und Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK. Er argumentierte, die Bestellung eines amtlichen Verteidigers sei aufgrund seiner Mittellosigkeit (welche unbestritten sei), seiner persönlichen Situation, der ihm vorgeworfenen Delikte und der Tatsache, dass die Gegenpartei anwaltlich vertreten sei, gerechtfertigt.
IV. Erwägungen des BundesgerichtsDas Bundesgericht prüfte die Rügen des Beschwerdeführers eingehend:
1. Zur Zulässigkeit der BeschwerdeDas Bundesgericht trat auf die Beschwerde in Strafsachen ein (Art. 78 BGG), da eine Entscheidung über die amtliche Verteidigung eine solche Beschwerde ermöglicht. Der Beschwerdeführer als beschuldigte Person und die Rüge eines nicht wieder gutzumachenden Nachteils (Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG) waren gegeben. Die Beschwerde wurde fristgerecht eingereicht und richtete sich gegen einen letztinstanzlichen kantonalen Entscheid.
2. Rechtliche Grundlagen der amtlichen Verteidigung und ihres Widerrufs 2.1 Voraussetzungen der amtlichen Verteidigung (Art. 132 StPO)Das Bundesgericht hielt fest, dass ausserhalb der obligatorischen Verteidigungsfälle (Art. 130 StPO) das Recht auf amtliche Verteidigung an zwei kumulative Bedingungen geknüpft ist (Art. 132 Abs. 1 lit. b StPO): * Der Beschuldigte muss mittellos sein. * Die Wahrung seiner Interessen muss die Bestellung eines amtlichen Verteidigers rechtfertigen.
Letztere Bedingung wird gemäss Art. 132 Abs. 2 und 3 StPO konkretisiert: Die Interessen des Beschuldigten rechtfertigen eine amtliche Verteidigung insbesondere dann, wenn die Sache nicht von geringer Bedeutung ist und sie in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht Schwierigkeiten aufweist, die der Beschuldigte allein nicht bewältigen könnte. Eine Sache ist jedenfalls nicht von geringer Bedeutung, wenn dem Beschuldigten eine Freiheitsstrafe von mehr als vier Monaten oder eine Geldstrafe von mehr als 120 Tagessätzen droht. Der Begriff "insbesondere" deutet darauf hin, dass auch andere Gründe, wie die Sicherstellung der Waffengleichheit oder eine besondere Bedeutung des Verfahrensausgangs für den Beschuldigten (z.B. Berufsverbot, Sorgerechtsentzug), eine amtliche Verteidigung rechtfertigen können (vgl. BGE 143 I 164 E. 3.5; BGer 7B_192/2024 E. 3.2).
2.2 Beurteilung der Schwierigkeit der SacheFür die Beurteilung, ob eine Sache Schwierigkeiten aufweist, die der Beschuldigte allein nicht überwinden kann, sind alle konkreten Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen. Die Notwendigkeit eines Rechtsbeistands muss auf objektiven (Art der Sache) und subjektiven (Fähigkeit des Beschuldigten) Elementen beruhen (BGer 7B_1168/2024 E. 2.1.2). * Objektive Schwierigkeit: Eine vernünftige und gutgläubige Person mit den gleichen Merkmalen wie der Beschuldigte, aber mit ausreichenden Mitteln, würde einen Anwalt beiziehen (BGE 142 III 138 E. 5.1). Rechtliche Schwierigkeiten liegen vor, wenn die Subsumtion der Fakten allgemeine oder spezifische Zweifel aufwirft. * Subjektive Schwierigkeit: Hier sind die Fähigkeiten des Beschuldigten (Alter, Ausbildung, Vertrautheit mit Gerichtsverfahren, Sprachkenntnisse) sowie die für die Verteidigung notwendigen Massnahmen (insbesondere Beweisanträge) zu berücksichtigen.
2.3 Widerruf der amtlichen Verteidigung (Art. 134 Abs. 1 StPO)Die amtliche Verteidigung beginnt mit der Bestellung und dauert so lange an, wie die Gründe für ihre Bestellung fortbestehen, spätestens bis zum Abschluss des Verfahrens vor den kantonalen Instanzen. Ergibt sich im Laufe des Verfahrens, dass die Voraussetzungen für eine amtliche Verteidigung nicht mehr erfüllt sind, widerruft die Verfahrensleitung das Mandat des bestellten Verteidigers (Art. 134 Abs. 1 StPO). Dies ist beispielsweise der Fall, wenn sich herausstellt, dass es sich um einen Bagatellfall handelt (Moreillon/Parein-Reymond, Petit Commentaire, Art. 134 StPO N. 2; Jositsch/Schmid, Praxiskommentar StPO, Art. 134 StPO N. 1).
2.4 Grundsatz von Treu und Glauben (Art. 5 Abs. 3 BV, Art. 3 Abs. 2 lit. a StPO, Art. 9 BV)Das Bundesgericht betonte, dass staatliche Organe sich nicht widersprüchlich oder missbräuchlich verhalten dürfen. Der Einzelne hat unter bestimmten Umständen das Recht, dass Behörden sich an präzise Zusicherungen halten und das in sie gesetzte Vertrauen nicht enttäuschen (BGE 143 V 95 E. 3.6.2). Das Bundesgericht überprüft die Einhaltung des Treu-und-Glauben-Prinzips frei (BGE 147 IV 274 E. 1.10.1).
3. Anwendung auf den vorliegenden Fall durch das Bundesgericht 3.1 Zur Zulässigkeit der Neubewertung der VoraussetzungenDas Bundesgericht bestätigte die Rechtsauffassung der kantonalen Instanz, dass eine Neubewertung der Voraussetzungen für die amtliche Verteidigung zulässig ist, auch wenn sich dabei herausstellt, dass die Bedingungen bereits zum Zeitpunkt der ursprünglichen Bestellung nicht erfüllt waren. Die kantonale Instanz hatte nicht festgestellt, dass sich die Umstände geändert hätten, sondern dass die Voraussetzungen für die amtliche Verteidigung von Anfang an nicht gegeben waren. Ein Widerruf wirkt gemäss Bundesgericht grundsätzlich ex nunc (ab sofort) und nicht ex tunc (rückwirkend). Es ist nicht zu beanstanden, wenn eine Behörde, nachdem sie umfassend Kenntnis vom Dossier genommen hat, eine ursprüngliche Fehleinschätzung korrigiert. Der Gesetzgeber habe mit Art. 134 Abs. 1 StPO explizit vorgesehen, dass die Frage der amtlichen Verteidigung in späteren Phasen des Verfahrens neu beurteilt werden kann (vgl. Lieber in Donatsch/Lieber/Summers/Wohlers, Kommentar StPO, Art. 134 StPO N. 7a; BGer 1B_66/2015). Auch der Verweis des Beschwerdeführers auf das Bundesrats-Botschaft zur StPO (FF 2006 1057) oder auf die Revisionsnormen (Art. 410 StPO) wurde zurückgewiesen, da Art. 134 StPO eine spezifische Regelung für den Widerruf darstellt.
3.2 Zum Grundsatz von Treu und GlaubenDas Bundesgericht verneinte eine Verletzung des Treu-und-Glauben-Prinzips. Der Beschwerdeführer habe nicht dargelegt, dass er aufgrund der ursprünglichen Bestellung des Verteidigers Dispositionen getroffen habe, die er nun nicht ohne Nachteil ändern könne. Das Schreiben des Polizeigerichts vom 30. Juli 2024, welches lediglich die bereits bestehende amtliche Verteidigung bestätigte, habe keine verbindliche Zusage enthalten, dass diese zeitlich unbegrenzt Bestand haben werde. Es lag kein widersprüchliches Verhalten der Behörde vor.
3.3 Zur Beurteilung der Schwere und Komplexität der SacheDas Bundesgericht bestätigte die Einschätzung der kantonalen Instanz, dass die Voraussetzungen für eine amtliche Verteidigung nicht erfüllt seien, da die Sache weder schwerwiegend noch komplex genug sei. * Geringe Schwere: Die dem Beschwerdeführer konkret drohende Geldstrafe von 50 Tagessätzen liegt weit unter der Schwelle von 120 Tagessätzen, ab der eine Sache jedenfalls nicht mehr als geringfügig gilt (Art. 132 Abs. 3 StPO). * Keine objektive oder subjektive Komplexität: * Der Fall betrifft eine einzige Straftat der üblen Nachrede, die auf einem einzigen Sachverhaltskomplex (den umstrittenen Schreiben) beruht. * Der Beschwerdeführer hatte die Verfassung der Schreiben und deren Inhalt selbst zugegeben und konnte seine Position mit Hilfe eines Dolmetschers darlegen, sowohl bei der ersten Einvernahme als auch bei der Konfrontationseinvernahme mit Anwalt. Es wurde keine Begründung geliefert, warum er dies nicht auch vor dem Polizeigericht allein (mit Dolmetscher) tun könnte. * Der Beschwerdeführer behauptete nicht, in der Lage zu sein, Entlastungsbeweise zu liefern, welche eine anwaltliche Unterstützung unerlässlich machen würden. * Der Verweis auf den Entscheid 1B_481/2019, wo die amtliche Verteidigung bei übler Nachrede bejaht wurde, sei nicht stichhaltig. Dort ging es um mehrere Delikte (üble Nachrede, Verleumdung, Beschimpfung, Erpressung, Nötigung), die ein komplexes Konkursrecht erforderten, sowie um erhebliche Zivilforderungen. Dies sei im vorliegenden Fall nicht gegeben. * Der Umstand, dass die Gegenpartei anwaltlich vertreten ist, allein genügt nach ständiger Rechtsprechung nicht, um den Grundsatz der Waffengleichheit zu verletzen und eine amtliche Verteidigung zu begründen, insbesondere da der Beschwerdeführer nicht geltend machte, dass die Staatsanwaltschaft die Anklage persönlich vertreten müsste. Der Beschwerdeführer müsse lediglich auf die Zivilforderungen der geschädigten Partei reagieren. * Die mangelnde Vertrautheit mit der Gerichtspraxis oder die Notwendigkeit einer eventuellen Schlichtung/Mediation seien ebenfalls keine ausreichenden Gründe für eine amtliche Verteidigung.
V. Schlussfolgerung des BundesgerichtsDas Bundesgericht wies die Beschwerde vollumfänglich ab. Die Voraussetzungen für die amtliche Verteidigung waren nach Einschätzung des Gerichts weder zum Zeitpunkt des Widerrufs noch zu Beginn des Verfahrens erfüllt. Da die Beschwerde von vornherein aussichtslos war, wurde auch das Gesuch des Beschwerdeführers um unentgeltliche Rechtspflege abgewiesen (Art. 64 Abs. 1 BGG). Die Gerichtskosten von CHF 1'200 wurden dem Beschwerdeführer auferlegt, wobei seine ungünstige finanzielle Situation berücksichtigt wurde (Art. 65 Abs. 2, Art. 66 Abs. 1 BGG).
VI. Kurze Zusammenfassung der wesentlichen PunkteDas Bundesgericht hat entschieden, dass die amtliche Verteidigung des Beschwerdeführers rechtmässig widerrufen wurde. Die Voraussetzungen für eine amtliche Verteidigung (Mittellosigkeit, Wahrung der Interessen) waren im vorliegenden Fall – insbesondere aufgrund der geringen Schwere der vorgeworfenen üblen Nachrede (50 Tagessätze) und der fehlenden komplexen Sach- oder Rechtsfragen – nicht gegeben. Es ist zulässig, die Voraussetzungen einer amtlichen Verteidigung im Laufe des Verfahrens neu zu beurteilen und eine ursprünglich fehlerhafte Bestellung ex nunc zu widerrufen. Auch der Grundsatz von Treu und Glauben wurde nicht verletzt, da keine verbindlichen Zusicherungen für eine unbefristete amtliche Verteidigung vorlagen und der Beschwerdeführer keine unzumutbaren Dispositionen getroffen hatte. Die Anwesenheit eines Anwalts der Gegenpartei allein genügt nicht, um eine amtliche Verteidigung zur Sicherstellung der Waffengleichheit zu rechtfertigen.