Zusammenfassung von BGer-Urteil 6B_924/2023 vom 26. August 2025

Es handelt sich um ein experimentelles Feature. Es besteht keine Gewähr für die Richtigkeit der Zusammenfassung.

Das vorliegende Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts vom 26. August 2025 (Verfahren 6B_924/2023, 6B_207/2024, 6B_217/2024, 6B_218/2024, 6B_219/2024, 6B_222/2024) behandelt mehrere miteinander verbundene Beschwerden gegen Entscheidungen des Obergerichts des Kantons Bern. Im Zentrum stehen Verurteilungen wegen öffentlicher Aufforderung zu Verbrechen oder zur Gewalttätigkeit (Art. 259 Abs. 1 aStGB) im Kontext einer politischen Kundgebung.

I. Sachverhalt und Verfahrensgeschichte

Am 25. März 2017 fand in Bern eine bewilligte Kundgebung statt, parallel dazu ein nicht bewilligter Kundgebungsumzug. Im Rahmen des Umzugs wurde ein Handwagen mit einem Transparent mitgeführt, auf dem das Konterfei des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan abgebildet war, mit einer Faustfeuerwaffe gegen dessen Schläfe gerichtet und dem Schriftzug "KILL ER DOGAN with his own weapons!". Dieses Transparent wurde für rund zweieinhalb Stunden auf dem Bundesplatz präsentiert.

Die Regionale Staatsanwaltschaft Bern-Mittelland verurteilte A._ (Beschwerdeführer 1) mit Strafbefehl vom 27. Oktober 2020 u.a. wegen öffentlicher Aufforderung zu Verbrechen oder zur Gewalttätigkeit. Dieser Strafbefehl erwuchs mangels Einsprache in Rechtskraft. Weitere Beschuldigte (B.B._, C._, D._, E.B._, nachfolgend Beschwerdeführer 3-6) wurden mit Strafbefehlen vom 5. November 2020 ebenfalls wegen desselben Tatbestands verurteilt. Sie erhoben Einsprache, worauf das Regionalgericht Bern-Mittelland sie am 9. März 2022 von allen Vorwürfen, einschliesslich der öffentlichen Aufforderung zu Verbrechen, freisprach und ihnen Entschädigungen für die Ausübung ihrer Verfahrensrechte zusprach. A._ ersuchte daraufhin am 24. März 2022 das Regionalgericht um Ausdehnung dieses freisprechenden Urteils auf ihn (Art. 356 Abs. 7 i.V.m. Art. 392 StPO), was das Regionalgericht am 4. Juli 2022 guthiess. Die Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern (Beschwerdeführerin 2) erhob gegen beide Urteile des Regionalgerichts Berufung beim Obergericht. Das Obergericht des Kantons Bern wies mit Beschluss vom 8. Juni 2023 das Gesuch von A.__ um Ausdehnung des freisprechenden Urteils ab. Mit Urteil vom 12. Februar 2024 hob das Obergericht die Freisprüche der Beschwerdeführer 3-6 auf und sprach sie der öffentlichen Aufforderung zu Verbrechen schuldig. Es verhängte Geldstrafen und stellte fest, dass die erstinstanzlich zugesprochenen Entschädigungen mangels Anfechtung in Rechtskraft erwachsen seien, obwohl es die Beschwerdeführer 3-6 nun verurteilte.

Gegen diese obergerichtlichen Entscheidungen wurden Beschwerden in Strafsachen an das Bundesgericht erhoben: A.__ (6B_924/2023) gegen die Ablehnung der Urteilsausdehnung; die Generalstaatsanwaltschaft (6B_207/2024) gegen die Feststellung der Rechtskraft der erstinstanzlichen Entschädigungen; und die Beschwerdeführer 3-6 (6B_217/2024, 6B_218/2024, 6B_219/2024, 6B_222/2024) gegen ihre Schuldsprüche. Das Bundesgericht vereinigte die Verfahren aufgrund des engen Sachzusammenhangs.

II. Wesentliche Punkte und rechtliche Argumente des Bundesgerichts

Das Bundesgericht befasste sich im Wesentlichen mit folgenden Kernfragen:

  1. Sachverhaltsfeststellung (Willkürrügen der Beschwerdeführer 3, 5, 6):

    • Identifikation der Personen: Die Beschwerdeführer 3 und 5 monierten, das Obergericht habe sie willkürlich anhand laienhafter Bildvergleiche identifiziert. Das Bundesgericht verneinte Willkür. Das Obergericht habe gestützt auf prägnante Gesichtszüge (markante Augenbrauen, Haarlinie, Ohrform, Bartschatten, Kinngrube) in den Videoaufnahmen die Identifikation vornehmen dürfen. Ein Sachverständigengutachten sei nicht zwingend gewesen, da die Merkmale hinreichend erkennbar waren.
    • Beachtung entlastender Zeugenaussagen (F._, G._): Die Beschwerdeführer rügten, die entlastenden Aussagen der Zeugen zur metaphorischen Deutung des Transparents seien willkürlich ignoriert worden. Das Bundesgericht hielt fest, dass die Würdigung des Sinns einer Äusserung eine Rechtsfrage darstellt, die dem urteilenden Gericht vorbehalten ist. Das Obergericht habe die von F._ vorgebrachten Aspekte (metaphorische und provokative Darstellung an Demonstrationen) in seiner detaillierten Würdigung des Transparentinhalts berücksichtigt, ohne sich diesen unterordnen zu müssen. Auch die Aussagen von G._ zur Mehrdeutigkeit seien hinreichend berücksichtigt worden.
  2. Anwendung des Medienprivilegs (Art. 28 StGB) (Rügen der Beschwerdeführer 3-6):

    • Die Beschwerdeführer 3-6 machten geltend, ihr Handeln falle unter das Medienprivileg von Art. 28 StGB, da es sich um ein Mediendelikt handle und sie nicht als Autor oder Verantwortliche im Sinne der Norm zu qualifizieren seien, sondern eher als Plakatierer.
    • Das Bundesgericht wies dies zurück. Art. 28 StGB privilegiere Personen in der typischen Herstellungs- und Verbreitungskette eines Mediums. Entscheidend sei hier die Art und Weise der Darstellung und Präsentation des Transparents. Das Transparent war in direkter Rede verfasst und zeigte keine Hinweise auf einen Dritturheber. Die Beschwerdeführer 3-6 hätten sich durch ihr aktives Handeln (Befördern des Handwagens, Bedienen der Lautsprecheranlage, exponierter Aufenthalt beim Transparent) mit der Botschaft identifiziert und gegen aussen als Urheber bzw. Verantwortliche für den Inhalt präsentiert. Sie hätten die Botschaft "zu eigen gemacht". Dies unterscheide sich von Fällen wie plakatierenden Parteimitgliedern (BGE 128 IV 53), deren Handeln rein distributiv war und nicht über eine ihnen von einer übergeordneten Stelle aufgetragene Tätigkeit hinausging. Das Bundesgericht qualifizierte die Beschwerdeführer 3-6 damit als "Autor" im Sinne der Bestimmung, denen das Privileg gerade nicht zustehe.
  3. Objektiver Tatbestand der öffentlichen Aufforderung zu Verbrechen (Art. 259 Abs. 1 aStGB) (Rügen der Beschwerdeführer 3-6):

    • Inhalt der Aufforderung: Die Beschwerdeführer 3-6 argumentierten, das Transparent sei mehrdeutig, als Metapher zu verstehen und rufe nicht eindeutig zur Tötung auf. Sie verwiesen auf das Wortspiel "KILL ER DOGAN" und die Redewendung "mit den eigenen Waffen schlagen".
    • Das Bundesgericht bestätigte die vorinstanzliche Würdigung. Bei der Eruierung des Inhalts sei ein objektiver Massstab massgeblich (Eindruck des unbefangenen Durchschnittsbetrachters). Das Gesamtbild aus Abbildung (Pistole auf Schläfe) und Schriftzug ("KILL ER DOGAN with his own weapons!") sei eindeutig eine Aufforderung zur Tötung des türkischen Präsidenten. Die genannten Nuancen relativierten die Tötungsaufforderung nicht, sondern verstärkten sie ("der Mörder Erdogan solle getötet werden"). Eine metaphorische Lesart sei objektiv nicht naheliegend, insbesondere im Kontext einer thematisch passenden Kundgebung. Das Gericht verwies auf BGE 111 IV 151 E. 1a zur Eindeutigkeit einer Äusserung.
    • Grundrechte (Meinungsäusserungs- und Versammlungsfreiheit): Die Beschwerdeführer 3-6 beriefen sich auf Art. 16 und 22 BV sowie Art. 10 und 11 EMRK.
    • Das Bundesgericht verneinte einen Grundrechtsschutz. Das Transparent gehe über provozierende Kritik hinaus und fordere zur Tötung einer Person auf. Solches Verhalten sei nach Art. 259 StGB als gefährlich eingestuft, da es den öffentlichen Frieden bedrohe. Die Meinungsäusserungsfreiheit sei durch diese Strafbestimmung eingeschränkt. Auch der EGMR erlaube es, zu Gewalt aufrufende Meinungsäusserungen zu verbieten (Verweis auf Urteile Sener, Erdogdu, Sürek gegen Türkei).
    • Territoriale Geltung und geschütztes Rechtsgut: Die Beschwerdeführer 3-6 bestritten, dass der öffentliche Friede in der Schweiz durch eine Aufforderung zu einem Delikt im Ausland gefährdet sei.
    • Das Bundesgericht präzisierte, dass Art. 259 StGB primär den kollektiven Rechtsfrieden schützt, und zwar das Vertrauen der Einzelnen darauf, dass die Strafrechtsordnung nicht durch Mobilisierung der Massen untergraben wird (im Einklang mit BGE 145 IV 433 E. 3.6). Dieser Schutz gelte auch, wenn die propagierte Straftat im Ausland verübt werden soll, sofern sie dort ebenfalls illegal ist. Die öffentliche Aufforderung zu einem im Ausland verübten Delikt untergräbt sowohl die schweizerische als auch die ausländische Rechtsordnung. Es zog eine Analogie zur versuchten Anstiftung zu einer Auslandstat, die ebenfalls in der Schweiz strafbar ist (Urteil 6B_1029/2021).
    • Zurechnung der Aufforderung (Tathandlung): Die Beschwerdeführer 3-6 bestritten, aktiv zur Verbreitung der Botschaft beigetragen zu haben.
    • Das Bundesgericht bestätigte, dass ihre Handlungen (Befördern des Handwagens, Bedienen der Audioanlage, Ausrichten von Lautsprechern, auffälliger Aufenthalt beim Transparent) aktive Beiträge zum Verbreiten der Botschaft waren. Sie hätten sich nicht zufällig, sondern gezielt mit dem Transparent an den Kundgebungen präsentiert und damit Aufmerksamkeit auf dessen Botschaft gelenkt.
  4. Subjektiver Tatbestand (Vorsatz) (Rügen der Beschwerdeführer 3, 5, 6):

    • Die Beschwerdeführer 3, 5 und 6 bestritten Kenntnis vom Inhalt des Transparents und den Willen zur Verbreitung. Sie sahen einen Widerspruch in der Annahme des direkten Vorsatzes zur Aufforderung, wenn das Obergericht gleichzeitig eine konkrete Tötungsabsicht verneine.
    • Das Bundesgericht bejahte den Vorsatz. Angesichts ihrer aktiven und zielgerichteten Beteiligung an den Kundgebungen im Zusammenhang mit dem Transparent sei lebensfremd, keine Kenntnis vom Inhalt anzunehmen. Der Wille zur Verbreitung sei ebenfalls aus ihrem Verhalten ableitbar. Der angebliche Widerspruch sei keiner: Ein direkter Vorsatz zur öffentlichen Aufforderung zu einem Verbrechen (Art. 259 StGB) liege vor, wenn die Aufforderung das eigentliche Handlungsziel ist (z.B. Provokation, Unsicherheit stiften). Die konkrete Verwirklichung des Delikts, zu dem aufgerufen wird (hier: Tötung Erdogans), könne vom Täter auch nur mit Eventualvorsatz in Kauf genommen werden. Die zwei Vorsätze müssten nicht gleichgelagert sein.
  5. Gesuch um Ausdehnung gutheissender Rechtsmittelentscheide (Beschwerde A.__, 6B_924/2023):

    • Das Bundesgericht stellte fest, dass die Beschwerde von A.__, die auf der Ausdehnung des freisprechenden Regionalgerichts-Urteils basierte, mit der Aufhebung dieses Urteils durch das Obergericht (und die Bestätigung der Schuldsprüche durch das Bundesgericht) gegenstandslos geworden ist. A.__s Rechtsschutzinteresse sei entfallen. Das Verfahren wurde abgeschrieben.
  6. Entschädigungsfolgen (Beschwerde Generalstaatsanwaltschaft, 6B_207/2024):

    • Die Generalstaatsanwaltschaft rügte, das Obergericht habe zu Unrecht die erstinstanzlich zugesprochenen Entschädigungen für die Beschwerdeführer 3-6 (aufgrund der Freisprüche) als rechtskräftig erachtet, obwohl es die Freisprüche aufgehoben und Schuldsprüche verhängt habe.
    • Das Bundesgericht gab der Generalstaatsanwaltschaft Recht. Gemäss Art. 428 Abs. 3 StPO muss die Rechtsmittelinstanz, wenn sie einen neuen Entscheid fällt, von Amtes wegen auch über die erstinstanzliche Kostenregelung befinden. Die Kostenregelung präjudiziert die Entschädigungsfrage. Eine Neubeurteilung der Entschädigungsfolgen sei daher ebenfalls von Amtes wegen vorzunehmen, um widersprüchliche Ergebnisse zu vermeiden, die den Vorgaben von Art. 426 Abs. 1 und Art. 429 Abs. 1 StPO zuwiderlaufen würden. Das Obergericht habe Bundesrecht verletzt, indem es dies unterliess. Die Sache wurde zur Neubeurteilung der Entschädigungen an die Vorinstanz zurückgewiesen.

III. Ergebnis und kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte

  • Identifikation und Beweiswürdigung: Die Identifikation der Beschwerdeführer anhand von Bildmaterial und die Würdigung von Zeugenaussagen durch die Vorinstanz wurden vom Bundesgericht als nicht willkürlich bestätigt.
  • Medienprivileg (Art. 28 StGB): Den Beschwerdeführern 3-6 wurde das Medienprivileg verwehrt, da sie sich durch ihr aktives und exponiertes Handeln mit der Botschaft des Transparents identifiziert und als dessen Urheber bzw. Verantwortliche agiert hatten.
  • Objektiver Tatbestand (Art. 259 Abs. 1 aStGB): Die auf dem Transparent vermittelte Botschaft ("KILL ER DOGAN with his own weapons!" mit Pistole) wurde als eindeutige und eindringliche Aufforderung zur Tötung des türkischen Präsidenten und somit zu einem Verbrechen gewertet. Politische Meinungsäusserungs- und Versammlungsfreiheit schützt solche Aufrufe zur Gewalt nicht.
  • Rechtsgut und territoriale Geltung: Art. 259 Abs. 1 aStGB schützt den öffentlichen Frieden, der auch durch Aufrufe zu im Ausland zu begehenden, dort strafbaren Delikten tangiert wird.
  • Subjektiver Tatbestand (Vorsatz): Die Vorinstanz bejahte zu Recht den direkten Vorsatz der Beschwerdeführer 3-6, die Botschaft des Transparents zu verbreiten. Ein vermeintlicher Widerspruch zwischen dem direkten Vorsatz zur Aufforderung und einer fehlenden konkreten Tötungsabsicht wurde verneint, da die beiden Vorsätze unterschiedlich gelagert sein können.
  • Beschwerde A.__ (6B_924/2023): Die Beschwerde wurde gegenstandslos, da die ihr zugrundeliegenden freisprechenden Urteile, deren Ausdehnung A.__ begehrte, aufgehoben wurden.
  • Beschwerde Generalstaatsanwaltschaft (6B_207/2024): Die Generalstaatsanwaltschaft erhielt Recht bezüglich der Entschädigungen. Das Obergericht hätte die erstinstanzlich zugesprochenen Entschädigungen von Amtes wegen neu beurteilen müssen, da es die Freisprüche in Schuldsprüche umgewandelt hatte.

Das Bundesgericht bestätigte somit die Schuldsprüche der Beschwerdeführer 3-6 wegen öffentlicher Aufforderung zu Verbrechen, wies deren Beschwerden ab und hiess die Beschwerde der Generalstaatsanwaltschaft hinsichtlich der Entschädigungen gut, indem es die Sache an die Vorinstanz zurückwies. Die Beschwerde von A.__ wurde als gegenstandslos abgeschrieben.