Zusammenfassung von BGer-Urteil 7B_444/2025 vom 23. Oktober 2025

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Das Urteil 7B_444/2025 des Schweizerischen Bundesgerichts vom 23. Oktober 2025 befasst sich mit der zentralen Frage der Gesetzeskonkurrenz zwischen dem Betäubungsmittelgesetz (BetmG) und dem Heilmittelgesetz (HMG) bei der Einfuhr von Betäubungsmitteln, die als Heilmittel verwendet werden. Die Beschwerdeführerin, Swissmedic, ficht die Einstellung eines Strafverfahrens gegen A.__ an, welcher 400 Tabletten Delorazepam Pensa per Post aus Italien in die Schweiz eingeführt hatte.

I. Sachverhalt und Prozessgeschichte

Swissmedic erstattete am 4. Mai 2023 Strafanzeige gegen A.__ wegen Verstosses gegen das BetmG aufgrund der Einfuhr von Delorazepam Pensa. Die Kantonspolizei Zürich rapportierte den Fall an das Statthalteramt des Bezirks Hinwil, das eine Strafuntersuchung eröffnete und diese mit Verfügung vom 22. August 2023 einstellte. Eine von Swissmedic dagegen erhobene Beschwerde wies das Obergericht des Kantons Zürich mit Beschluss vom 11. April 2025 ab. Swissmedic gelangt daraufhin mit Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht und beantragt die Aufhebung des obergerichtlichen Beschlusses sowie die Rückweisung der Sache.

II. Erwägungen des Bundesgerichts

1. Zulässigkeit der Beschwerde (E. 1) Das Bundesgericht prüfte zunächst die Zulässigkeitsvoraussetzungen. Insbesondere stand die Beschwerdelegitimation von Swissmedic nach Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 7 BGG zur Diskussion. Swissmedic ist als Verwaltungsbehörde an der Verfolgung von Verwaltungsstrafsachen nach dem VStrR beteiligt (Art. 90 Abs. 1 HMG) und kann in kantonalen Strafverfahren die Rechte einer Privatklägerschaft wahrnehmen (Art. 90 Abs. 3 HMG), um die einheitliche Anwendung des HMG sicherzustellen.

Unter Verweis auf sein Urteil 6B_863/2023 vom 5. Februar 2024 hielt das Bundesgericht fest, dass Swissmedic ein rechtlich geschütztes Interesse an der Anwendung des HMG hat, jedoch nicht primär für die Anwendung des BetmG zuständig ist. Im vorliegenden Fall bejahte das Bundesgericht das rechtlich geschützte Interesse von Swissmedic, da die Beschwerdeführerin geltend machte, das HMG sei – entgegen der Vorinstanz – im vorliegenden Fall nicht anwendbar. Die Klärung der Anwendbarkeit des HMG bildet somit den Kern des Streits und betrifft direkt den Aufgabenbereich von Swissmedic. Die weiteren Eintretensvoraussetzungen wurden ebenfalls bejaht.

2. Materielle Prüfung – Die Gesetzeskonkurrenz zwischen BetmG und HMG (E. 2)

2.1 Einordnung des Wirkstoffs (E. 2.2) Das Bundesgericht stellte fest, dass Delorazepam Pensa 2 mg Delorazepam als Wirkstoff enthält. Delorazepam ist im Anhang 3, Verzeichnis b, der Betäubungsmittelverzeichnisverordnung (BetmVV-EDI) aufgeführt und somit eine kontrollierte Substanz. Es handelt sich um ein Benzodiazepin, einen abhängigkeitserzeugenden und psychotropen Stoff im Sinne von Art. 2 lit. b BetmG, weshalb die Bestimmungen des BetmG grundsätzlich Geltung beanspruchen. Gleichzeitig wird Delorazepam als angstlösender und beruhigender Wirkstoff eingesetzt und ist somit gemäss Art. 4 Abs. 1 lit. a HMG zur medizinischen Einwirkung auf den menschlichen Organismus bestimmt, weshalb es als Heilmittel gilt. Die Einfuhr erfolgte zur Behandlung der Epilepsieerkrankung der Tochter des Beschwerdegegners, also im Sinne des HMG als Heilmittel. Folglich konnten in diesem Fall grundsätzlich beide Gesetze Geltung beanspruchen.

2.2 Kollisionsnorm Art. 1b BetmG (E. 2.3) Das Verhältnis zwischen BetmG und HMG ist in Art. 1b BetmG geregelt: Für Betäubungsmittel, die als Heilmittel verwendet werden, gelten primär die Bestimmungen des HMG (Art. 1b Satz 1 BetmG). Die Bestimmungen des BetmG sind jedoch anwendbar, soweit das HMG keine oder eine weniger weit gehende (d.h. strengere) Regelung trifft (Art. 1b Satz 2 BetmG).

2.3 Botschaft und Lehre (E. 2.4) Die Gesetzesmaterialien und die überwiegende Lehre (u.a. Hug-Beeli, Schlegel/Jucker, Eichenberger, Burri) gehen davon aus, dass das BetmG insbesondere für den Bereich der Ein- und Ausfuhr von Betäubungsmitteln, die als Heilmittel verwendet werden, strengere Regelungen enthält und deshalb vorgeht. Eine detaillierte Begründung, weshalb dies der Fall ist, wurde jedoch weder in den Materialien noch in der zitierten Lehre explizit dargelegt. Dies nimmt das Bundesgericht zum Anlass, eine vertiefte Analyse vorzunehmen.

2.4 Vergleich der Regelungen im Detail (E. 2.5 - 2.7)

  • Grundtatbestand (E. 2.5): Die abstrakte Strafdrohung für die vorsätzliche unbefugte Einfuhr ist in beiden Gesetzen gleich (Freiheitsstrafe bis 3 Jahre oder Geldstrafe). Das HMG ist jedoch insoweit strenger, als es auch die fahrlässige Tatbegehung unter Strafe stellt (Art. 86 Abs. 4 HMG), während das BetmG hier nur vorsätzliche Taten erfasst.
  • Privilegierter Tatbestand für Eigenkonsum/Eigengebrauch (E. 2.6):
    • Strafrahmen: Beide Gesetze sehen für die vorsätzliche unbefugte Einfuhr für den Eigenkonsum/Eigengebrauch eine Übertretung vor. Das HMG sieht hier jedoch eine höhere Höchstbusse vor (Fr. 50'000.-- vs. Fr. 10'000.--), was es in diesem Punkt strenger macht.
    • Umfang des Eigenkonsums/Eigengebrauchs: Das BetmG (Art. 19a BetmG) erfasst nur Handlungen, die ausschliesslich dem eigenen Konsum dienen, wodurch eine Gefährdung Dritter ausgeschlossen sein muss. Das HMG hingegen (Art. 87 HMG) inkludiert den Bedarf für im gleichen Haushalt lebende Personen und Haustiere. In diesem Punkt ist das BetmG also enger und damit strenger in seinem Anwendungsbereich.
    • Fahrlässigkeit: Das HMG bestraft auch die fahrlässige Einfuhr für den Eigengebrauch. Im BetmG ist eine fahrlässige Tatbegehung bei der Einfuhr für den Eigenkonsum nicht strafbar. Hier ist das HMG strenger.
    • Ermessensspielraum: Beide Gesetze sehen in "leichten" (BetmG) bzw. "besonders leichten" (HMG) Fällen die Möglichkeit vor, von einer Strafverfolgung oder Bestrafung abzusehen. Die Frage, welche Formulierung strengere Anforderungen impliziert, liess das Bundesgericht offen, da es sich um unbestimmte Rechtsbegriffe handelt, deren Anwendung eine umfassende Einzelfallprüfung erfordert.
  • Einfuhrbedingungen (Legale Einfuhr) (E. 2.7): Dies ist ein massgeblicher Unterschied.
    • Menge und Versandweg (E. 2.7.1): Das HMG erlaubt Einzelpersonen die Einfuhr kleiner Mengen (ca. Monatsbedarf) nicht zugelassener Arzneimittel für den Eigengebrauch, auch für gesunde Personen und auf dem Versandweg. Das BetmG (Art. 5 Abs. 1bis BetmG i.V.m. Art. 41 BetmKV) erlaubt dies nur kranken Reisenden, die die Substanzen für höchstens 30 Tage mit sich führen; eine Einfuhr auf dem Versandweg ist ausgeschlossen. In diesem Punkt ist das BetmG deutlich restriktiver und damit strenger.
    • Bewilligungspflicht (E. 2.7.2): Das BetmG (Art. 5 Abs. 1 BetmG) verlangt für jede Einfuhr von kontrollierten Betäubungsmitteln eine Bewilligung von Swissmedic, auch für den Eigenkonsum (mit wenigen Ausnahmen für Reisende). Das HMG hingegen unterstellt die Einfuhr kleiner Mengen von Arzneimitteln durch Einzelpersonen für den Eigengebrauch grundsätzlich keiner Bewilligungspflicht. Nur die berufsmässige Einfuhr erfordert eine Bewilligung. Auch hier ist das BetmG deutlich strenger.

2.5 Fazit zur Gesetzeskonkurrenz und Fehler der Vorinstanz (E. 2.8) Das Bundesgericht hält fest, dass für die Anwendung des Art. 1b Satz 2 BetmG nicht die konkrete Anwendbarkeit einer einzelnen Vorschrift auf den vorliegenden Fall, sondern die Gesamtheit der Regelung ("réglementation") entscheidend ist. Obwohl das HMG in einzelnen Aspekten strenger sein mag (z.B. Bestrafung fahrlässiger Taten, höhere Bussen), ist das BetmG gesamthaft betrachtet die strengere Regelung für die Einfuhr von Betäubungsmitteln, die als Heilmittel verwendet werden. Dies gilt insbesondere aufgrund: 1. des engeren Anwendungsbereichs des privilegierten Tatbestands bezüglich des Eigenkonsums (nur eigener Konsum, nicht für Dritte im Haushalt); 2. der fehlenden Möglichkeit der legalen Einfuhr von Betäubungsmitteln durch gesunde Einzelpersonen auf dem Versandweg; und 3. des generellen Bewilligungserfordernisses für jede Einfuhr von Betäubungsmitteln.

Die Vorinstanz habe Bundesrecht verletzt, indem sie fälschlicherweise annahm, das BetmG enthalte keine strengeren Vorschriften als das HMG und somit das HMG für anwendbar erklärte. Zudem sei die von der Vorinstanz angeführte Norm des Art. 19a Ziff. 2 BetmG nicht anwendbar, da im vorliegenden Fall nach den Feststellungen kein ausschliesslicher Eigenkonsum vorlag (Sohn des Beschwerdegegners).

2.6 Konsequenzen für die Zuständigkeit (E. 2.8.4) Da das HMG im vorliegenden Fall nicht zur Anwendung gelangt, muss die Vorinstanz die Frage der Zuständigkeit des Statthalteramts und die damit verbundene Frage der Nichtigkeit der Einstellungsverfügung neu beurteilen.

III. Ergebnis (E. 3) Das Bundesgericht hiess die Beschwerde gut, hob den Beschluss des Obergerichts des Kantons Zürich vom 11. April 2025 auf und wies die Sache zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurück. Es wurden keine Gerichtskosten erhoben und keine Parteientschädigung zugesprochen.

Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:

Das Bundesgericht hat entschieden, dass für die Einfuhr von Delorazepam Pensa, einem Betäubungsmittel, das als Heilmittel verwendet wird, die Bestimmungen des Betäubungsmittelgesetzes (BetmG) anwendbar sind, weil dieses im Gesamtvergleich eine strengere Regelung als das Heilmittelgesetz (HMG) trifft. Diese Strenge ergibt sich insbesondere aus dem engeren Begriff des "Eigenkonsums" (nur für die eigene Person), dem Verbot der Einfuhr auf dem Versandweg für Einzelpersonen und der generellen Bewilligungspflicht für jede Einfuhr von Betäubungsmitteln. Die Vorinstanz hat diese Gesetzeskonkurrenz gemäss Art. 1b BetmG falsch beurteilt. Das Urteil klärt die Abgrenzung der Anwendbarkeit beider Gesetze im Bereich der Einfuhr von kontrollierten Heilmitteln und betont, dass die Gesamtheit der Regelung massgebend ist. Die Sache wurde an die Vorinstanz zurückgewiesen, um die strafrechtliche Beurteilung und die Zuständigkeitsfrage neu zu prüfen.