Zusammenfassung von BGer-Urteil 6B_107/2025 vom 2. Oktober 2025

Es handelt sich um ein experimentelles Feature. Es besteht keine Gewähr für die Richtigkeit der Zusammenfassung.

Gerne fasse ich das bereitgestellte Urteil des schweizerischen Bundesgerichts (6B_107/2025 vom 2. Oktober 2025) detailliert zusammen:

I. Einleitung

Das Bundesgericht hatte über eine Beschwerde in Strafsachen von A.A.__ (nachfolgend Beschwerdeführerin) gegen ein Urteil des Kantonsgerichts Basel-Landschaft zu entscheiden. Die Beschwerdeführerin wurde von den kantonalen Instanzen wegen Entführung gemäss Art. 183 Ziff. 1 und 2 StGB sowie wegen Entziehens von Minderjährigen gemäss Art. 220 StGB verurteilt. Sie beantragte vor Bundesgericht die Aufhebung des Urteils und ihren Freispruch von diesen Vorwürfen.

II. Sachverhalt (Kurzfassung)

Die Beschwerdeführerin verbrachte ihren damals siebenjährigen Neffen C.B._ am 26. Juni 2019 ohne Wissen und Einverständnis seiner Mutter D.B._ (nachfolgend Beschwerdegegnerin 3), die das alleinige Sorge- und Aufenthaltsbestimmungsrecht innehatte, nach Montenegro zur Grossmutter des Kindes. Der Vater des Kindes, B.A._, holte C.B._ unter dem Vorwand eines Kinobesuchs ab und übergab ihn der Beschwerdeführerin, die mit C.B.__ per Flugzeug nach Belgrad und von dort weiter nach Montenegro reiste. Die Beschwerdeführerin hatte den Reisepass des Kindes, der von einer früheren, mit Einverständnis der Mutter erfolgten Reise stammte, trotz mehrfacher Aufforderung nicht an die Mutter zurückgegeben. Die Mutter reiste einige Tage später selbst nach Montenegro, verbrachte Zeit mit ihrem Sohn und kehrte am 13. Juli 2019 mit ihm in die Schweiz zurück. Eine ältere Reisevollmacht der Mutter, die der Beschwerdeführerin und dem Vater erlaubte, "gemeinsam oder einzeln ausserhalb der Schweiz reisen zu dürfen", war im Zeitpunkt der konkreten Reise gültig.

III. Rechtliche Rügen der Beschwerdeführerin

Die Beschwerdeführerin führte im Wesentlichen folgende Rügen an: 1. Unverwertbarkeit der Einvernahme der Beschwerdegegnerin 3: Die Einvernahme der Privatklägerin D.B.__ vom 22. Januar 2020 sei unverwertbar, da sie entgegen Art. 181 Abs. 1 StPO fälschlicherweise darauf hingewiesen worden sei, nicht zur Aussage verpflichtet zu sein. 2. Fehlerhafte Anwendung der Tatbestände der Entführung und des Entziehens von Minderjährigen: * Die Vorinstanz habe Art. 183 Ziff. 1 und 2 sowie Art. 220 StGB falsch angewandt, indem sie annahm, trotz der bestehenden Reisevollmacht sei eine weitere Einverständniserklärung der Mutter erforderlich gewesen. * Die Annahme einer echten Konkurrenz zwischen Art. 183 Ziff. 2 StGB und Art. 220 StGB sei unzutreffend. * Selbst bei Erfüllung von Art. 183 Ziff. 2 StGB sei die zusätzliche Verurteilung wegen Entführung nach Art. 183 Ziff. 1 StGB falsch.

IV. Erwägungen des Bundesgerichts

1. Verwertbarkeit der Einvernahme der Beschwerdegegnerin 3

  • Rechtslage: Das Bundesgericht erläutert die unterschiedlichen Einvernahmevarianten nach der Strafprozessordnung (StPO): beschuldigte Person, Zeuge und Auskunftsperson. Gemäss Art. 178 lit. a StPO ist die Privatklägerschaft als Auskunftsperson einzustufen. Für sie gilt gemäss Art. 180 Abs. 2 StPO eine Aussagepflicht, und die Bestimmungen über die Zeugen sind sinngemäss anwendbar (mit Ausnahme von Art. 176 StPO). Die Strafbehörden sind nach Art. 181 Abs. 1 StPO verpflichtet, Auskunftspersonen auf ihre Aussagepflicht oder Verweigerungsrechte hinzuweisen. Beweise, die unter Verletzung von Gültigkeitsvorschriften erhoben wurden, sind gemäss Art. 141 Abs. 2 StPO grundsätzlich unverwertbar, es sei denn, ihre Verwertung sei zur Aufklärung schwerer Straftaten unerlässlich. Beweise, bei denen Ordnungsvorschriften verletzt wurden, sind hingegen verwertbar (Art. 141 Abs. 3 StPO).
  • Anwendung auf den Fall: Das Bundesgericht schliesst sich der Vorinstanz an. Es stellt fest, dass die Beschwerdegegnerin 3 als Privatklägerin tatsächlich zu Unrecht über ein angebliches Aussageverweigerungsrecht belehrt wurde. Dies sei jedoch in diesem Fall ohne Auswirkungen geblieben, da sie ohnehin aussagen wollte und ihre Aussagen durch die falsche Belehrung nicht verfälscht wurden. Eine unterbliebene oder falsche Belehrung über die Aussagepflicht wird erst relevant, wenn die Person die Aussage verweigert. Da die Beschwerdegegnerin 3 freiwillig aussagte, bestand kein Grund für eine Unverwertbarkeit der Einvernahme. Das Bundesgericht verweist hierbei auf seine eigene Rechtsprechung (Urteil 6B_978/2023) sowie auf Lehrmeinungen (Giovannone-Hofmann, Kerner, Perrier Depeursinge). Folglich ist die Verwertung der Einvernahme bundesrechtskonform.

2. Anwendung der Tatbestände der Entführung und des Entziehens von Minderjährigen

  • Sachverhaltsfeststellung und Beweiswürdigung (Reisevollmacht):
    • Prüfungsstandard: Das Bundesgericht prüft Sachverhaltsfeststellungen und Beweiswürdigungen nur auf offensichtliche Unrichtigkeit (Willkür) hin, was eine hohe Begründungsanforderung an die Beschwerdeführerin stellt (Art. 97 Abs. 1 BGG).
    • Auslegung der Reisevollmacht: Die Beschwerdeführerin machte geltend, die von der Mutter erteilte Reisevollmacht habe eine allgemeine Zustimmung für Reisen mit C.B.__ ausserhalb der Schweiz umfasst. Die Vorinstanz ging jedoch willkürfrei davon aus, dass die Vollmacht lediglich zur Legitimation gegenüber Zoll- und Flughafenpersonal diente und keine generelle Zustimmung für jegliche Reisen bedeutete. Selbst wenn dies anders beurteilt würde, sei die Annahme der Vorinstanz, dass für die konkrete Reise das Einverständnis der Mutter gefehlt habe und die Beschwerdeführerin dies zumindest in Kauf genommen habe oder es ihr gleichgültig gewesen sei, nicht willkürlich. Diese Schlussfolgerung stützte die Vorinstanz darauf, dass die Mutter den Pass zurückhaben wollte und die Beschwerdeführerin selbst ausgesagt hatte, niemandem ihre Absichten mitzuteilen und dass ihr Abmachungen der Mutter mit dem Vater gleichgültig seien. Die Behauptung der Beschwerdeführerin, sie habe in gutem Glauben gehandelt, wurde als nachgeschobene Schutzbehauptung gewertet. Das Bundesgericht verwarf die Willkürrüge der Beschwerdeführerin.
  • Subsumtion unter die Tatbestände: Gestützt auf den willkürfrei festgestellten Sachverhalt erachtete das Bundesgericht die Tatbestände als erfüllt:
    • Entführung (Art. 183 Ziff. 2 StGB):
      • Der Tatbestand schützt die körperliche Bewegungsfreiheit und setzt voraus, dass jemand, der noch nicht 16 Jahre alt, urteilsunfähig oder widerstandsunfähig ist, an einen anderen Ort verbracht wird, wodurch der Täter eine Machtposition über das Opfer erlangt und dessen persönliche Freiheit tatsächlich beschränkt ist (d.h., das Opfer kann nicht unabhängig vom Täter an seinen gewohnten Aufenthaltsort zurückkehren). Die Ortsveränderung muss für eine gewisse Dauer vorgesehen sein. Der Wille des Kindes ist irrelevant.
      • Im vorliegenden Fall verbrachte die Beschwerdeführerin den siebenjährigen C.B.__ nach Montenegro. Sie erlangte dadurch eine Machtposition über ihn und schränkte seine Freiheit ein, da er nicht selbständig zurückkehren konnte. Die geplante Aufenthaltsdauer von mehreren Wochen erfüllte das Kriterium der "gewissen Dauer". Die Widerrechtlichkeit ergab sich aus dem fehlenden Einverständnis der allein sorgeberechtigten Mutter. Der objektive Tatbestand war somit erfüllt.
    • Entziehen von Minderjährigen (Art. 220 StGB):
      • Dieser Tatbestand schützt die Person, die über den Aufenthaltsort des Kindes bestimmen darf. Täter kann jeder sein, der die elterliche Sorge bzw. Obhut nicht alleine ausübt.
      • Durch das Verbringen von C.B.__ nach Montenegro wurde er der Beschwerdegegnerin 3 als Inhaberin des Aufenthaltsbestimmungsrechts gegen ihren Willen entzogen. Auch dieser Tatbestand war objektiv erfüllt.
    • Subjektiver Tatbestand: Die Beschwerdeführerin äusserte sich nicht zum subjektiven Tatbestand, weshalb das Bundesgericht keine weiteren Ausführungen dazu machte.
  • Konkurrenz der Tatbestände:
    • Das Bundesgericht bestätigte die Annahme der echten Konkurrenz zwischen Art. 183 Ziff. 2 StGB und Art. 220 StGB durch die Vorinstanz. Es begründete dies mit der Verschiedenheit der geschützten Rechtsgüter: Art. 183 Ziff. 2 StGB schützt die körperliche Bewegungsfreiheit des Minderjährigen selbst, während Art. 220 StGB das Recht der Person schützt, die über den Aufenthaltsort des Kindes bestimmen darf. Diese Auffassung entspricht der herrschenden Lehre, die das Bundesgericht mit einer Vielzahl von Kommentaren und Abhandlungen belegt (Ackermann, Corboz, Delnon/Rüdy, Donatsch/Thommen/Wohlers, Eckert, Sauterel, Stratenwerth/Bommer, Trechsel/Mona).
  • Nennung von Art. 183 Ziff. 1 StGB:
    • Die Beschwerdeführerin rügte, dass sie "in Anwendung von Art. 183 Ziff. 1 und 2 StGB" verurteilt wurde. Das Bundesgericht hielt fest, dass Art. 183 Ziff. 2 StGB keine eigene Strafandrohung enthält, sondern für diese auf Art. 183 Ziff. 1 StGB verweist ("Ebenso wird bestraft [...]"). Die beiden Ziffern sind daher zusammen zu lesen. Die Nennung beider Artikel im Schuldspruch verstösst somit nicht gegen Bundesrecht. Zudem konnte die Beschwerdeführerin keinen Rechtsnachteil durch diese Formulierung darlegen.

V. Gesamtschlussfolgerung des Bundesgerichts

Die Beschwerde wurde abgewiesen. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wurde infolge Aussichtslosigkeit ebenfalls abgewiesen. Die Gerichtskosten wurden der Beschwerdeführerin auferlegt, wobei ihren finanziellen Verhältnissen Rechnung getragen wurde.

VI. Zusammenfassende Schlussfolgerung der wesentlichen Punkte

  • Verwertbarkeit von Aussagen: Eine fehlerhafte Belehrung über die Aussagepflicht der Privatklägerschaft führt nicht zur Unverwertbarkeit ihrer Einvernahme, wenn sie dennoch freiwillig aussagt und ihre Aussagen nicht durch die Falschbelehrung beeinflusst werden.
  • Reisevollmacht und Zustimmung: Eine generische Reisevollmacht zum Zweck der Legitimation gegenüber Grenzbehörden stellt keine generelle Zustimmung zu jeder Reise dar und ersetzt nicht das spezifische Einverständnis des Inhabers des Aufenthaltsbestimmungsrechts für eine konkrete Reise. Die Feststellung des fehlenden Einverständnisses ist willkürfrei erfolgt.
  • Erfüllung der Tatbestände: Die Entführung (Art. 183 Ziff. 2 StGB) und das Entziehen von Minderjährigen (Art. 220 StGB) sind aufgrund des Verbringens des Kindes ohne das spezifische Einverständnis der sorgeberechtigten Mutter ins Ausland, wodurch eine Machtposition über das Kind erlangt und das Aufenthaltsbestimmungsrecht der Mutter verletzt wurde, erfüllt.
  • Echte Konkurrenz: Zwischen dem Tatbestand der Entführung von Minderjährigen (Art. 183 Ziff. 2 StGB) und dem Entziehen von Minderjährigen (Art. 220 StGB) besteht echte Konkurrenz, da sie unterschiedliche Rechtsgüter schützen (die körperliche Bewegungsfreiheit des Kindes einerseits und das Aufenthaltsbestimmungsrecht des Sorgeberechtigten andererseits).
  • Verweisnorm Art. 183 Ziff. 1 StGB: Die Nennung von Art. 183 Ziff. 1 StGB im Schuldspruch neben Art. 183 Ziff. 2 StGB ist korrekt, da Ziff. 2 für die Strafandrohung auf Ziff. 1 verweist und nicht isoliert anwendbar ist.