Zusammenfassung von BGer-Urteil 6B_1283/2023 vom 15. September 2025

Es handelt sich um ein experimentelles Feature. Es besteht keine Gewähr für die Richtigkeit der Zusammenfassung.

Gerne fasse ich das vorliegende Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts detailliert zusammen:

Bundesgericht, Urteil 6B_1283/2023 vom 15. September 2025

Parteien: * Beschwerdeführer: A._ (vertreten durch Rechtsanwältin Zoë Arnold) * Beschwerdegegner: Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau sowie die Privatkläger B._, C._, D.E._, F.E._, G.E._.

Gegenstand: Versuchte schwere Körperverletzung, Angriff, Raufhandel; Anklagegrundsatz; Strafzumessung; Willkür.

I. Sachverhaltsübersicht

Das Obergericht des Kantons Aargau sprach A._ am 7. September 2023 der versuchten schweren Körperverletzung zum Nachteil von C._, des Angriffs sowie des Raufhandels schuldig. Es verurteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und einer Landesverweisung von zehn Jahren. Das Obergericht legte folgenden Sachverhalt zugrunde:

Am 9. Februar 2021, gegen 20:30 Uhr, begaben sich A._, H._, I._ und eine weitere Person (mutmasslich J._) zu einer Liegenschaft. A._, H._ und die weitere Person drangen in das Zimmer von C._ ein, als dieser auf dem Bett lag. Die weitere Person schlug C._ mit einem kantigen Holzstück auf den Rücken und den Kopf. Daraufhin schnitt A._ C._ mit einem unbekannten scharfen Gegenstand an der rechten Wange, was eine mehrere Zentimeter lange Narbe hinterliess. Anschliessend kam es in der Wohnung zu einer wechselseitigen körperlichen Auseinandersetzung zwischen A._, H._ und I._ einerseits sowie B._, F.E._, D.E._ und G.E.__ andererseits, bei der alle aktiv mitwirkten und mehrere Personen Verletzungen erlitten.

A.__ (Beschwerdeführer) legte gegen dieses Urteil Beschwerde in Strafsachen beim Bundesgericht ein, mit dem Antrag auf vollumfänglichen oder teilweisen Freispruch und Rückweisung zur Neubeurteilung.

II. Wesentliche Rügen des Beschwerdeführers und Erwägungen des Bundesgerichts

Der Beschwerdeführer rügte im Wesentlichen eine Verletzung des Anklagegrundsatzes sowie eine willkürliche Sachverhaltsfeststellung und Beweiswürdigung.

1. Verletzung des Anklagegrundsatzes (Art. 9 und Art. 325 StPO)

a. Rüge des Beschwerdeführers: Der Beschwerdeführer machte geltend, die Vorinstanz habe Art. 344 StPO verletzt. Sie habe ihn für den angeklagten Sachverhalt gemäss Anklageziffer 3 wegen Raufhandels verurteilt, obwohl lediglich eine Prüfung von Anklageziffer 1 unter dem Tatbestand des Raufhandels angekündigt worden sei. Zudem seien der von der Vorinstanz angenommene Sachverhalt und der angeklagte Sachverhalt bezüglich des Raufhandels nicht in Übereinstimmung zu bringen; es handle sich um zwei völlig unterschiedliche Sachverhaltsvarianten.

b. Erwägungen des Bundesgerichts: Das Bundesgericht hält fest, dass der Anklagegrundsatz die Umgrenzungs- und Informationsfunktion der Anklageschrift gewährleistet (Art. 9 und 325 StPO; Art. 29 Abs. 2 und 32 Abs. 2 BV; Art. 6 Ziff. 1 und Ziff. 3 lit. a und b EMRK). Das Gericht ist an den in der Anklage umschriebenen Sachverhalt gebunden, nicht jedoch an die darin vorgenommene rechtliche Würdigung (Art. 350 Abs. 1 StPO). Eine abweichende rechtliche Würdigung ist den Parteien mitzuteilen (Art. 344 StPO).

  • Zur Verletzung von Art. 344 StPO: Das Bundesgericht stellte fest, dass die Anklageziffern 1 (mehrfacher Angriff) und 3 (mehrfach versuchte schwere Körperverletzung) denselben Sachverhalt umschreiben, wobei die Unterteilung lediglich der rechtlichen Würdigung dient. Eine Verletzung von Art. 344 StPO lag unter diesen Umständen nicht vor, da keine neue rechtliche Würdigung eines neuen Sachverhalts vorgenommen wurde.
  • Zur Diskrepanz zwischen angeklagtem und festgestelltem Sachverhalt: Das Bundesgericht bestätigte die Auffassung der Vorinstanz, dass die Anklageschrift in ihrer Gesamtheit einen einheitlichen Vorfall am 9. Februar 2021 beschreibt. Die Unterteilung der Anklage in verschiedene Ziffern diene primär dem Überblick und der rechtlichen Qualifikation. Obwohl der Aufbau unüblich sei, sei klar, dass es sich um eine Sachverhaltseinheit handle. Die Anklage habe zudem die notwendigen Elemente für den Tatbestand des Raufhandels (Art. 133 StGB), insbesondere die wechselseitige Auseinandersetzung von mindestens drei Personen, hinreichend umschrieben. Insbesondere die Beschreibung, dass D.E._ und G.E._ mit Stuhl bzw. Messer dazugestossen und G.E.__ sich gewehrt habe, erfülle das Kriterium der Wechselseitigkeit. Die Umschreibung "Freunde bzw. Bruder" für weitere Beteiligte sei ausreichend präzise gewesen, um dem Beschwerdeführer die Verteidigung zu ermöglichen.

Fazit des Bundesgerichts zum Anklagegrundsatz: Eine Verletzung des Anklagegrundsatzes oder von Art. 344 StPO ist nicht ersichtlich.

2. Willkürliche Sachverhaltsfeststellung und Beweiswürdigung (Art. 9 BV, Art. 10 Abs. 3 StPO, Art. 29 Abs. 2 BV)

a. Rüge des Beschwerdeführers: Der Beschwerdeführer beanstandete, die Vorinstanz habe den Sachverhalt in offenkundig falscher, mithin willkürlicher Weise festgestellt und Beweise ungenügend gewürdigt. Er rügte die Verletzung des Grundsatzes "in dubio pro reo" und der Begründungspflicht, indem die Vorinstanz wesentliche Beweise ignoriert oder widersprüchlich gewürdigt habe. Insbesondere die Aussagen des Zeugen L.__ würden den angeblichen Angriff und die versuchte schwere Körperverletzung eindeutig widerlegen.

b. Erwägungen des Bundesgerichts: Das Bundesgericht prüft Sachverhaltsfeststellungen nur auf Willkür (Art. 105 Abs. 1 BGG), d.h., wenn die Beweiswürdigung schlechterdings unhaltbar ist (BGE 148 IV 356 E. 2.1). "In dubio pro reo" hat in dieser Funktion keine über das Willkürverbot hinausgehende Bedeutung. Die Begründungspflicht (Art. 29 Abs. 2 BV, Art. 81 Abs. 3 StPO) verlangt, dass die wesentlichen Punkte der Entscheidung dargelegt werden.

  • Allgemeine Rügen zur Beweiswürdigung: Das Bundesgericht wies einen Grossteil der Rügen des Beschwerdeführers als unzulässige appellatorische Kritik zurück, da er lediglich seine Sicht der Dinge darlegte, ohne substantiiert darzulegen, weshalb die Beweiswürdigung der Vorinstanz schlechterdings unhaltbar sei.

  • Zentrale Mängel bei der Würdigung der Aussage von Zeuge L.__: Das Bundesgericht gab dem Beschwerdeführer jedoch bezüglich der Aussagen des Zeugen L._ Recht. Die Vorinstanz hatte L._'s Aussagen insgesamt als glaubhaft erachtet, wonach dieser C._ kurz nach Ankunft der Gruppe des Beschwerdeführers in der Küche gesehen haben will. Diese Aussage steht jedoch in direktem Widerspruch zur vorinstanzlichen Feststellung, dass C._ beim Erscheinen des Beschwerdeführers in seinem Zimmer schlief und erst durch einen Schlag erwachte. Die Vorinstanz äusserte sich zu diesem zentralen Widerspruch überhaupt nicht. Zudem machte die Vorinstanz widersprüchliche Angaben zur zeitlichen Abfolge der Ereignisse: Zuerst erwog sie, der Angriff auf C.__ habe vor der wechselseitigen Auseinandersetzung stattgefunden; später liess sie die zeitliche Abfolge ausdrücklich offen.

  • Ungenügende Auseinandersetzung mit der Frage des Angreifers: Die Vorinstanz stellte fest, dass nicht erstellt sei, dass die Gruppe des Beschwerdeführers die Privatkläger einseitig angegriffen habe. Sie bewertete L._'s Aussagen sogar als Indiz dafür, dass die Gruppe des Beschwerdeführers angegriffen wurde und sich die Brüder E._ bewaffnet hatten. Trotzdem liess sie in der Folge offen, welche Gruppe die andere angegriffen hat, ohne dies zu begründen oder sich dazu zu äussern, weshalb sie L.__'s diesbezügliche Aussagen allenfalls nicht als glaubhaft erachtete.

  • Fehlende Prüfung einer Notwehrlage: Das Bundesgericht bemängelte zusätzlich, dass sich in den vorinstanzlichen Ausführungen keine Angaben zu einer allfälligen Notwehrlage finden.

Fazit des Bundesgerichts zur Beweiswürdigung: Die Sachverhaltsfeststellung und Beweiswürdigung der Vorinstanz erwiesen sich in Bezug auf die Aussagen von L.__ als willkürlich bzw. ungenügend begründet. Die Verletzung der Begründungspflicht wurde festgestellt. Dies führte dazu, dass der Ausgang des Verfahrens entscheidend beeinflusst sein könnte.

III. Entscheid des Bundesgerichts

Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau vom 7. September 2023 wird aufgehoben und die Sache zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen. Das Bundesgericht weist die Vorinstanz an, die Beweise – nach einer allfälligen Beweisergänzung (inkl. erneuter Einvernahme des Zeugen L._, sofern erforderlich) – neu zu würdigen und den Sachverhalt willkürfrei festzustellen. Gestützt darauf hat die Vorinstanz die rechtliche Würdigung neu vorzunehmen und sich insbesondere mit den Widersprüchen in L._'s Aussagen, der zeitlichen Abfolge der Ereignisse, der Frage nach dem Angreifer und einer allfälligen Notwehrlage auseinanderzusetzen.

Die Kosten- und Entschädigungsfolgen wurden entsprechend dem teilweisen Obsiegen und Unterliegen geregelt, wobei dem Beschwerdeführer reduzierte Gerichtskosten auferlegt und der Kanton Aargau zur Entschädigung seiner Rechtsvertreterin verpflichtet wurde.

Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:

  1. Anklagegrundsatz: Das Bundesgericht bestätigte, dass die Anklageschrift trotz ihrer Unterteilung einen einheitlichen Sachverhalt umschrieb und die Anforderungen an den Anklagegrundsatz erfüllte; eine Verletzung von Art. 344 StPO oder des Anklageprinzips wurde verneint.
  2. Willkürliche Sachverhaltsfeststellung: Die Beweiswürdigung der Vorinstanz wurde als willkürlich und ungenügend begründet befunden, insbesondere weil:
    • Eine zentrale widersprüchliche Aussage des Zeugen L.__ (C._ in der Küche gesehen) nicht gewürdigt wurde, die im Widerspruch zu C._'s eigenen Aussagen (im Zimmer geschlafen) steht.
    • Widersprüchliche Angaben zur zeitlichen Abfolge der Ereignisse gemacht wurden.
    • Die Frage, welche Gruppe die andere angegriffen hat, offen gelassen wurde, obwohl die Vorinstanz L.__'s Aussagen als Indiz dafür wertete, dass die Gruppe des Beschwerdeführers angegriffen wurde.
    • Keine Auseinandersetzung mit einer allfälligen Notwehrlage erfolgte.
  3. Rückweisung: Das Urteil des Obergerichts wurde aufgehoben und zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückgewiesen, um eine willkürfreie Sachverhaltsfeststellung und Beweiswürdigung vorzunehmen und alle relevanten rechtlichen Fragen, einschliesslich der Notwehr, zu prüfen.