Zusammenfassung von BGer-Urteil 6B_1297/2023 vom 12. September 2025

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Die vorliegende detaillierte Zusammenfassung des Urteils 6B_1297/2023 des Schweizerischen Bundesgerichts vom 12. September 2025 beleuchtet die massgebenden Punkte und rechtlichen Argumente im Kontext der Beurteilung eines Angriffs (Art. 134 StGB) und der Anordnung einer Landesverweisung (Art. 66a StGB).

Detaillierte Zusammenfassung des Bundesgerichtsurteils 6B_1297/2023

I. Parteien und Gegenstand des Verfahrens

Der Beschwerdeführer A.__ wandte sich mit Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Bern vom 26. Januar 2023. Das Obergericht hatte ihn des Angriffs schuldig gesprochen und zu einer bedingten Geldstrafe von 145 Tagessätzen zu Fr. 160.-- verurteilt, sowie eine fünfjährige Landesverweisung angeordnet. Der Beschwerdeführer beantragte die Aufhebung des Schuldspruchs wegen Angriffs und stattdessen eine Verurteilung wegen Raufhandels (Art. 133 StGB), eventualiter den Verzicht auf die Landesverweisung gemäss Art. 66a Abs. 2 StGB.

II. Sachverhaltliche Grundlagen

Dem vorinstanzlichen Urteil liegt ein komplexer Sachverhalt zugrunde: Am 11. August 2017 kam es in Thun zu einer Auseinandersetzung, bei der der Mitbeschuldigte D._, der Beschwerdeführer A._ und eine weitere Person von einer sogenannten "Geschädigtengruppe" geschlagen oder gestossen wurden. Daraufhin mobilisierten A._ und F._ umgehend weitere Personen, um am Abend des 11. August 2017 einen Racheakt in Thun zu verüben, der eine Spuckattacke und Fusstritte umfasste. Am Folgetag, dem 12. August 2017, rekrutierte die Gruppe um A._ weitere Personen. Die mobilisierten Personen wurden in A._'s Wohnung gebracht, wo der spätere tätliche Übergriff geplant und diskutiert wurde. Die Gruppe rüstete sich mit Waffen und gefährlichen Gegenständen (Pfefferspray, Schlagstock, Messer, Velokette, Schraubenzieher) aus und begab sich zum vereinbarten Treffpunkt. Dort umzingelte die rund 25-köpfige Beschuldigtengruppe die 9-köpfige Geschädigtengruppe und griff diese unvermittelt und brutal an, auch als die Geschädigten bereits wehrlos am Boden lagen. Dabei wurden mehrere Geschädigte (u.a. B.B._ und E.B._, K._, J._, L._ und M._) mit Fäusten, Tritten und Waffen traktiert, was zu Kopf-, Gesichtsverletzungen und einem 30 cm langen Schnitt am Rücken führte; J._ und E.B._ waren wochenlang arbeitsunfähig. Die Angreifer liessen erst ab, als die Polizei angekündigt wurde. Die Vorinstanz stellte fest, dass A.__ einer der Hauptorganisatoren und "Spiritus Rector" des Übergriffs war, aktiv Schläge und Fusstritte austeilte und die Planung in seiner Wohnung die Mobilisierung einer Übermacht, die Bewaffnung und Absprachen über das Aussageverhalten umfasste. Die Behauptung von Friedensgesprächen wurde als Schutzbehauptung gewertet.

III. Rechtliche Würdigung durch das Bundesgericht

1. Sachverhaltsfeststellung und Willkürrüge (E. 2)

Der Beschwerdeführer rügte eine willkürliche Sachverhaltsfeststellung und bestritt insbesondere die Planung eines Angriffs in seiner Wohnung sowie die behauptete Überzahl und Drohkulisse. Er machte geltend, beide Seiten hätten sich aktiv beteiligt, und er habe lediglich die Absicht gehabt, Frieden zu schliessen, und sich nur für den Fall einer misslingenden Aussprache auf eine Schlägerei vorbereitet.

Das Bundesgericht trat auf diese Rügen nicht ein. Es verwies auf den restriktiven Massstab der Willkürprüfung gemäss Art. 97 Abs. 1 und Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG. Es stellte fest, die Vorinstanz habe ihre Beweiswürdigung auf übereinstimmende Aussagen der Geschädigten und unbeteiligter Dritter gestützt, welche einen unvermittelten Übergriff bestätigten. Zudem habe ein Mitbeschuldigter die Planung einer Schlägerei eingestanden. Die Mobilisierung zahlreicher Personen und die Mitführung von Waffen untermauerten die vorinstanzlichen Feststellungen. Die pauschalen Bestreitungen des Beschwerdeführers genügten nicht, um Willkür aufzuzeigen.

2. Abgrenzung Angriff (Art. 134 StGB) und Raufhandel (Art. 133 StGB) (E. 3)

2.1. Rechtsnatur und Abgrenzung der Tatbestände Der Kernpunkt der Beschwerde war die Qualifikation des Sachverhalts als Angriff oder Raufhandel. * Angriff (Art. 134 StGB): Der Angriff erfasst die einseitige gewaltsame Einwirkung von mindestens zwei Personen auf den Körper eines oder mehrerer Menschen. Es handelt sich um ein Verbrechen mit einer Strafandrohung von bis zu fünf Jahren Freiheitsstrafe oder Geldstrafe. * Raufhandel (Art. 133 Abs. 1 StGB): Der Raufhandel ist eine wechselseitige tätliche Auseinandersetzung von mindestens drei Personen. Er gilt als Vergehen mit einer Strafandrohung von bis zu drei Jahren Freiheitsstrafe oder Geldstrafe. Art. 133 Abs. 2 StGB sieht die Straflosigkeit für denjenigen vor, der ausschliesslich abwehrt oder die Streitenden scheidet.

2.2. Rechtsprechung des Bundesgerichts zur Abgrenzung Das Bundesgericht präzisierte seine Rechtsprechung zur Abgrenzung: Ein Angriff im Sinne von Art. 134 StGB liegt auch dann vor, wenn die angegriffene Seite nicht völlig passiv bleibt, sondern sich lediglich verteidigt ("sich auf den Schutz vor dem Angriff beschränkt"). Ein Angriff kann zwar zu einem Raufhandel werden, wenn die Abwehrreaktion der angegriffenen Person in ihrer Intensität und Dauer über das zur Verteidigung erforderliche Mass hinausgeht (vgl. Urteile 6B_1115/2022 E. 3.3.1; 6B_454/2022 E. 3.2).

2.3. Stellungnahme zu abweichenden Lehrmeinungen und Präzisierung der Konkurrenzverhältnisse Das Bundesgericht lehnte die in Teilen der Lehre vertretene Auffassung ab, wonach Angreifer lediglich wegen Raufhandels strafbar seien, sobald sich die angegriffene Seite tätlich zur Wehr setzt (vgl. MAEDER, in: Basler Kommentar, Strafrecht, Bd. II, N. 7 zu Art. 134 StGB). Eine solche Auslegung würde dazu führen, dass selbst die rechtfertigende Notwehr des Angegriffenen eine mildere Bestrafung der Angreifer zur Folge hätte, was nicht überzeuge. Das Bundesgericht hielt fest, dass Angreifer auch dann nach Art. 134 StGB strafbar bleiben, wenn das Opfer die Grenzen der zulässigen Abwehr überschreitet und sich seinerseits des Raufhandels schuldig macht. Bei gleichzeitiger Erfüllung der Tatbestandsvoraussetzungen von Art. 134 StGB und Art. 133 StGB geht Art. 134 StGB aufgrund der höheren Strafandrohung vor (vgl. CORBOZ, Les infractions en droit suisse, Vol. I, N. 6 zu Art. 134 StGB; DONATSCH/GRAF/JEAN-RICHARD-DIT-BRESSEL, Strafrecht III, S. 89 und 94).

2.4. Anwendung auf den vorliegenden Fall Das Bundesgericht bestätigte, dass die Vorinstanz objektiv zu Recht einen Angriff bejaht hatte. Die Tatsache, dass einzelne Geschädigte zur Abwehr auch Gegenschläge austeilten, stand der Qualifikation als Angriff nicht entgegen. Vorangegangene Provokationen der Geschädigtengruppe am Vortag waren mangels der erforderlichen Unmittelbarkeit für die Qualifikation des aktuellen Übergriffs irrelevant (vgl. BGE 118 IV 227 E. 5d/bb, wo ein Angriff selbst nach einer zunächst wechselseitigen Auseinandersetzung bejaht wurde, wenn mehrere Personen einen Flüchtigen verfolgen und über ihn herfallen). Die Beschuldigtengruppe hatte die Geschädigten mit einer vorgängig geplanten Angriffsabsicht aufgesucht. Die objektive Strafbarkeitsbedingung der Körperverletzung war unbestritten erfüllt.

2.5. Subjektiver Tatbestand (Vorsatz) Hinsichtlich des subjektiven Tatbestands genügt Eventualvorsatz (Art. 12 Abs. 2 StGB). Der Vorsatz muss sich auf die Beteiligung am Angriff beziehen, nicht jedoch auf die Todes- oder Körperverletzungsfolge. Das Bundesgericht befand, die Vorinstanz habe willkürfrei festgestellt, dass der Beschwerdeführer mit der Absicht handelte, die Geschädigtengruppe zu schlagen, sich zu revanchieren und seine Ehre wiederherzustellen. Sein Vorsatz, allenfalls auch eine gegenseitige Schlägerei in Kauf zu nehmen, liess seinen Vorsatz bezüglich des Angriffs nicht entfallen.

2.6. Ergebnis zum Schuldspruch Der vorinstanzliche Schuldspruch wegen Angriffs (Art. 134 StGB) wurde als bundesrechtskonform bestätigt.

3. Landesverweisung (Art. 66a StGB) (E. 5)

3.1. Härtefallklausel und Interessenabwägung Der Beschwerdeführer rügte eine Verletzung von Art. 66a Abs. 2 StGB, Art. 13 und 14 BV sowie Art. 8 EMRK. Er machte einen schweren persönlichen Härtefall geltend, da er als Kurde aus Syrien einer verfolgten Minderheit angehöre, die Lage in Syrien instabil und ein Wehrdienst ihn in Lebensgefahr bringen würde. Er verwies auf seine familiären Bindungen in der Schweiz (Ehefrau und Kind, beide Schweizer Staatsbürger), seine Integration als selbstständiger Coiffeur und seine Position als Ersttäter.

Das Bundesgericht prüfte die Härtefallklausel gemäss Art. 66a Abs. 2 StGB, die restriktiv anzuwenden ist und eine kumulative Prüfung eines schweren persönlichen Härtefalls sowie einer Interessenabwägung verlangt. Es bezog dabei den Kriterienkatalog von Art. 31 Abs. 1 VZAE und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu Art. 8 EMRK ein (vgl. BGE 149 IV 231 E. 2.1.1; BGE 146 IV 105 E. 4.2).

3.2. Würdigung des Härtefalls im konkreten Fall * Integration: Die berufliche und sprachliche Integration des Beschwerdeführers (selbstständiger Coiffeur, Dialektkenntnisse) wurde von der Vorinstanz als beachtlich gewürdigt, genügte aber allein nicht für einen schweren Härtefall. Bemängelt wurde das Fehlen einer offiziellen Ausbildung und eine ungenügende Belegung des angegebenen Einkommens. * Familiäre Bindungen: Der Beschwerdeführer war zum Zeitpunkt des obergerichtlichen Urteils muslimisch getraut und seine Frau in der 13. Woche schwanger. Die zivilrechtliche Eheschliessung erfolgte kurz darauf, das Kind wurde im Juli 2023 geboren. Das Bundesgericht teilte die vorinstanzliche Ansicht, dass die Familiengründung (Ehe und Schwangerschaft) erst nach Kenntnis der drohenden Landesverweisung (seit erstinstanzlichem Urteil vom Dezember 2020) in Angriff genommen wurde. Dieser Umstand wurde bei der Interessenabwägung berücksichtigt (vgl. Urteile 6B_643/2023 E. 1.6.3). Da das Kind noch keine tatsächliche Beziehung zu seinem Vater aus einem gefestigten Umfeld gerissen wurde, wurde dies nicht zugunsten des Beschwerdeführers gewertet. Eine Beziehung über Telekommunikationsmittel und Besuche im europäischen Raum (da keine SIS-Ausschreibung erfolgte) seien möglich. * Öffentliches Interesse: Das Bundesgericht betonte das hohe öffentliche Interesse an der Landesverweisung. Die Anlasstat, ein äusserst brutaler Racheakt, organisiert durch den Beschwerdeführer als "Spiritus Rector", zeuge von grosser Gewaltbereitschaft und Geringschätzung der Rechtsordnung. Dies rechtfertige die Landesverweisung zur Verhinderung weiterer Gewaltdelikte. Der Umstand, dass er aufgrund des Verschlechterungsverbots (Art. 391 Abs. 2 StPO) eine relativ tiefe Strafe erhielt, ändert nichts am öffentlichen Interesse.

3.3. Vollzugshindernisse (Art. 66d StGB) Der Beschwerdeführer machte geltend, die Landesverweisung sei wegen der Situation in Syrien und der Gefahr für sein Leben und seine Freiheit (Wehrdienst) nicht vollziehbar und verletze Art. 2 und 3 EMRK.

Das Bundesgericht verneinte ein der Anordnung der Landesverweisung entgegenstehendes definitives Vollzugshindernis. Es hielt fest, dass die allgemein schwierige geopolitische Lage in Syrien allein kein definitives Vollzugshindernis darstellt; erforderlich sei eine konkrete persönliche Gefährdung, die der Beschwerdeführer nicht hinreichend dargelegt habe (vgl. Urteil 6B_502/2024 vom 7. Februar 2025 E. 6.3). Sein Asylgesuch wurde bereits 2013 abgewiesen. Trotz der weiterhin instabilen Verhältnisse in Syrien und insbesondere in den kurdischen Gebieten sei eine Stabilisierung der Situation in naher Zukunft nicht ausgeschlossen. Die Zuständigkeit für die Prüfung nicht-definitiver Vollzugshindernisse obliegt im Übrigen den Vollzugsbehörden.

4. Strafzumessung (E. 4) Die Rügen des Beschwerdeführers zur Strafzumessung basierten ausschliesslich auf der Annahme, er sei lediglich des Raufhandels und nicht des Angriffs schuldig zu sprechen. Da der Schuldspruch wegen Angriffs bestätigt wurde, ging das Bundesgericht auf diese Rüge nicht weiter ein.

IV. Ergebnis

Das Bundesgericht wies die Beschwerde ab, soweit darauf eingetreten wurde. Der Schuldspruch wegen Angriffs und die Anordnung der Landesverweisung wurden bestätigt.

Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:

  1. Schuldspruch Angriff bestätigt: Das Bundesgericht bekräftigte, dass ein einseitiger Übergriff von mindestens zwei Personen als Angriff (Art. 134 StGB) qualifiziert wird, selbst wenn sich die Angegriffenen zur Abwehr wehren. Die Angreifer bleiben Angreifer, unabhängig davon, ob die Opfer die Grenzen der Notwehr überschreiten.
  2. Kein schwerer persönlicher Härtefall: Eine gute Integration des Beschwerdeführers allein begründet keinen schweren Härtefall. Die familiäre Bindung, insbesondere die Familiengründung (Ehe und Geburt des Kindes), wurde nicht zugunsten des Beschwerdeführers gewertet, da sie in Kenntnis der drohenden Landesverweisung erfolgte.
  3. Öffentliches Interesse an Landesverweisung überwiegt: Die Schwere der Tat – ein brutal organisierter Racheakt mit erheblichen Verletzungen – führte dazu, dass das hohe öffentliche Interesse an der Landesverweisung das persönliche Interesse des Beschwerdeführers am Verbleib in der Schweiz überwog.
  4. Kein definitives Vollzugshindernis: Die allgemeine geopolitische Lage in Syrien stellt kein definitives Vollzugshindernis dar. Es fehlt an einer konkret dargelegten individuellen Gefahr für Leib und Leben des Beschwerdeführers, die die Anordnung der Landesverweisung verhindern würde.