Zusammenfassung von BGer-Urteil 9C_781/2023 vom 9. September 2025

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Gerne fasse ich das bereitgestellte Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts im Detail zusammen:

Zusammenfassung des Urteils 9C_781/2023 vom 9. September 2025

1. Einleitung und Sachverhalt

Das Bundesgericht befasste sich mit einer Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten gegen ein Urteil des Schiedsgerichts in Sozialversicherungsstreitigkeiten des Kantons Zürich. Die Beschwerdeführerin, med. prakt. A.__, eine praktische Ärztin mit Fähigkeitsausweis Praxislabor (KHM) und Berechtigung zur Führung einer Praxisapotheke, wurde vom kantonalen Schiedsgericht zur Rückerstattung von CHF 75'670.- an verschiedene Krankenversicherer verpflichtet. Der Vorwurf lautete auf unwirtschaftliche Behandlungsweise gemäss Art. 59 Abs. 1 lit. b des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung (KVG) für das Statistikjahr 2017. Die Krankenversicherer, vertreten durch Santésuisse, hatten ursprünglich höhere Rückforderungsbeträge beantragt. Die Beschwerdeführerin beantragte die Aufhebung des vorinstanzlichen Urteils und die Abweisung der Klage, eventualiter die Rückweisung zur Neubeurteilung mit der Anweisung, analytische Methoden oder eine Einzelfallprüfung anzuwenden.

2. Rechtliche Grundlagen der Wirtschaftlichkeitsprüfung

Das Bundesgericht rekapituliert zunächst die massgebenden Grundsätze der Wirtschaftlichkeitsprüfung im Bereich der obligatorischen Krankenpflegeversicherung:

  • Wirksamkeit, Zweckmässigkeit, Wirtschaftlichkeit (WZW): Leistungen zulasten der obligatorischen Krankenpflegeversicherung müssen diesen Kriterien genügen (Art. 32 Abs. 1 KVG). Leistungserbringer haben ihre Leistungen auf das im Interesse der Versicherten liegende und für den Behandlungszweck erforderliche Mass zu beschränken (Art. 56 Abs. 1 KVG). Wirtschaftlich ist die kostengünstigste Alternative bei vergleichbarem medizinischem Nutzen (BGE 139 V 135 E. 4.4.3). Unnötige Massnahmen sind stets unwirtschaftlich (BGE 151 V 30 E. 2.2.1.1).
  • Sanktionen: Bei Verstoss gegen die Wirtschaftlichkeitsanforderungen kann die gänzliche oder teilweise Rückerstattung von Honoraren für nicht angemessene Leistungen verlangt werden (Art. 59 Abs. 1 lit. b KVG). Ein Verschulden des Leistungserbringers ist hierfür nicht erforderlich (BGE 141 V 25 E. 8.4).
  • Prüfgegenstand und Referenzgruppe: Die Wirtschaftlichkeitsprüfung erfasst die Gesamtheit der unter einer Zahlstellenregister (ZSR)-Nummer abgerechneten Leistungen. Ein Leistungserbringer handelt unwirtschaftlich, wenn er im Vergleich zu seiner Referenzgruppe (Leistungserbringer gleicher Fachrichtung) pro Patient erheblich mehr verrechnet, ohne dass dies durch die ärztliche Behandlungsfreiheit gedeckt oder durch kostenwirksame Besonderheiten (z.B. Leistungsangebot, Patientenkollektiv) erklärt werden kann (BGE 150 V 129 E. 4.1). Die Datenbasis bildet der Datenpool der SASIS AG. Der individuelle Fallwert wird dem Gruppenfallwert (Index von 100 Punkten) gegenübergestellt (BGE 150 V 129 E. 4.4.1).

3. Die zweistufige Screening-Methode

Gestützt auf Art. 56 Abs. 6 KVG haben die Tarifpartner (Leistungserbringer und Krankenversicherer) vertraglich eine Methode zur Wirtschaftlichkeitskontrolle vereinbart, die sog. Screening-Methode (Vertrag vom 20. März 2018, aktualisiert am 1. Februar 2023, gültig ab Statistikjahr 2017).

  • Erster Schritt: Screening mittels Regressionsanalyse: Dieses Verfahren dient dazu, Leistungserbringer mit auffälligen Kostenstrukturen zu identifizieren, die eine möglicherweise unwirtschaftliche Behandlungsweise nahelegen (BGE 150 V 129 E. 5.3.1). Auffällige Kosten sind jedoch nicht gleichzusetzen mit unwirtschaftlicher Behandlungsweise. Die Regressionsanalyse, eine zweistufige Methode, berücksichtigt patientenbezogene Morbiditätsindikatoren (Alter, Geschlecht, pharmazeutische Kostengruppen PCG, Franchisen, Spital-/Pflegeheimaufenthalt im Vorjahr) und leistungserbringerbezogene Faktoren (Facharztgruppe, Standortkanton). Ziel ist die Neutralisierung verhaltensunabhängiger kostenrelevanter Faktoren, um den Kosteneffekt einer unwirtschaftlichen Behandlung zu isolieren (BGE 150 V 129 E. 4.4.1).
  • Toleranzmarge: Die Rechtsprechung sieht eine Toleranzmarge von 20 bis 30 Indexpunkten vor, um dem individuellen Praxisstil und der ärztlichen Behandlungsfreiheit Rechnung zu tragen (BGE 137 V 43 E. 2.2). Das Bundesgericht hält fest, dass diese Rechtsprechung auf der früheren Methodik basierte. Mit der neuen, zweiteiligen Prüfung ist eine Anpassung der Handhabung der Toleranzmarge erforderlich: Für das Screening ist eine provisorische, pauschale Marge zu veranschlagen, um unnötig viele Leistungserbringer als auffällig zu kennzeichnen. Die definitive, individualisierte Marge (von 20 bis 30 Punkten) kann erst im zweiten Teil der Wirtschaftlichkeitsprüfung (Einzelfallprüfung oder schiedsgerichtliches Verfahren) festgelegt werden, im pflichtgemässen Ermessen des Schiedsgerichts, unter Berücksichtigung von Spezialisierungen etc. (Querverweis auf Urteil 9C_199/2022 vom 29. April 2025 E. 4.4.2, zur Publ. vorgesehen).
  • Zweiter Schritt: Einzelfallprüfung: Indiziert das Screening eine unwirtschaftliche Behandlungsweise, folgt die Einzelfallprüfung. Hier wird die definitive Toleranzmarge festgelegt und es werden Praxisbesonderheiten ermittelt, die sich auf die Kostenstruktur auswirken. Der Leistungserbringer erhält Gelegenheit, seine Sicht darzulegen und objektiv nachvollziehbare, nicht berücksichtigte Praxisbesonderheiten aufzuzeigen (BGE 150 V 129 E. 4.3.3). Das Bundesgericht listet verschiedene angebots- und nachfrageseitige Praxisbesonderheiten auf (z.B. langjährige/ältere Patienten, Hausbesuche, Spezialisierungen, Morbidität, die durch PCG nicht abschliessend erfasst wird – BGE 150 V 129 E. 5.5.3; Urteil 9C_166/2022 vom 9. Dezember 2024 E. 9.1 ff., zur Publ. vorgesehen). Der Leistungserbringer hat eine Mitwirkungspflicht, muss die Besonderheit und deren Kostenrelevanz glaubhaft machen, aber den Kosteneffekt nicht exakt quantifizieren (BGE 150 V 129 E. 5.3.2; Urteil 9C_166/2022 vom 9. Dezember 2024 E. 5.5.3, nicht zur Publ. vorgesehen).

4. Direkte versus veranlasste Kosten

  • Feststellung der Wirtschaftlichkeit: Die Beurteilung erfolgt auf Grundlage des Gesamtkostenindexes, der direkte und veranlasste Kosten umfasst. Eine Gesamtbetrachtung ist erforderlich, da ein Arzt, der viele Leistungen selbst erbringt, zwar höhere direkte, aber tiefere veranlasste Kosten verursachen und damit gesamthaft wirtschaftlich handeln kann (BGE 137 V 43 E. 2.5.6). Veranlasste Kosten sind z.B. für verordnete Medikamente, Laborleistungen, Mittel und Gegenstände sowie Leistungen anderer (nichtärztlicher) Leistungserbringer auf ärztliche Anordnung. Leistungen anderer Ärzte (bei selbständiger Weiterbehandlung) oder bestimmte nichtärztliche Leistungen (z.B. psychologische Psychotherapie gemäss Art. 50c KVV) werden nicht einbezogen.
  • Gegenstand der Rückforderung: Nur die direkten Kosten (inkl. selbst abgegebener Medikamente) können zurückgefordert werden, da Art. 56 Abs. 2 KVG von "zu Unrecht bezahlte[n]" Vergütungen spricht (BGE 137 V 43 E. 2.5).

5. Das vorinstanzliche Urteil und die Rügen der Beschwerdeführerin

Das kantonale Schiedsgericht stellte für 2017 einen Regressionsindex totale Kosten von 169 Punkten und einen Regressionsindex direkte Arztkosten von 166 Punkten fest. Es sah den Toleranzbereich von 120 Punkten überschritten und damit den Anscheinsbeweis der Unwirtschaftlichkeit als erbracht an. Die von der Beschwerdeführerin geltend gemachten Praxisbesonderheiten (Führung einer Praxisapotheke, Fortbildungsnachweise in Gynäkologie und Dermatologie, überdurchschnittliche Zahl von Hausbesuchen) wurden als nicht signifikant oder nicht zur Bildung einer differenzierten Vergleichsgruppe führend verworfen. Die Rückforderung wurde mit CHF 75'670.- festgesetzt, basierend auf einer separaten Berechnung für direkte Kosten ohne Medikamente und direkte Medikamentenkosten. Die Beschwerdeführerin rügte u.a. die Methodik, die Relevanz ihrer Fortbildungsnachweise und die Berücksichtigung der Hausbesuche sowie der Selbstdispensation.

6. Begründung des Bundesgerichts zur Rückweisung

Das Bundesgericht stellt fest, dass die vorinstanzliche Berechnung der Rückforderung nicht den jüngst ergangenen Vorgaben des Bundesgerichts entspricht. Es verweist auf das (nach dem angefochtenen Urteil ergangene) Urteil 9C_199/2022 vom 29. April 2025 E. 10.2 und 10.3 (zur Publikation vorgesehen).

  • Neue Berechnungslogik: Eine Rückforderung kommt nur infrage, wenn der Index der direkten Kosten (um Praxisbesonderheiten und Toleranzwert bereinigt) den Toleranzwert übertrifft. Die Berechnung der Rückerstattungsquote muss jedoch weiterhin auf dem Gesamtkostenindex basieren, um die kompensatorische Wirkung unterdurchschnittlicher veranlasster Kosten (vgl. BGE 137 V 43 E. 2.5.6) zu berücksichtigen.
  • Formel: Ein Verstoss gegen das Gebot der wirtschaftlichen Behandlungsweise liegt vor, wenn der Gesamtkostenindex der direkten und veranlassten Kosten pro abgerechnetem Patient (nach Abzug der Toleranzmarge und der Praxisbesonderheiten) grösser als 100 ist. Die Rückforderung ist dann zulässig, wenn dies zusätzlich auch hinsichtlich des (in gleicher Weise korrigierten) Indexes der direkten Kosten zutrifft. Das Rückforderungssubstrat beschränkt sich auf die totalen direkten Kosten.
  • Konkrete Berechnungsformel des Bundesgerichts: Totale direkte Kosten × [ ( (bereinigter Gesamtkostenindex – 100) ) / (unbereinigter Gesamtkostenindex) ]
  • Resultat: Da die Vorinstanz diese neue Berechnungsmethode nicht angewendet hat, wird die Sache zur Neubeurteilung an diese zurückgewiesen. Das kantonale Schiedsgericht erhält die Anweisung, den Parteien Gelegenheit zur Vervollständigung der notwendigen Daten zu geben und die Wirtschaftlichkeitsfrage sowie die allfällige Rückforderung unter Berücksichtigung der aktuellen bundesgerichtlichen Rechtsprechung (insbesondere BGE 150 V 129, 9C_166/2022 und 9C_199/2022) neu zu entscheiden.

7. Prozessuales

Ein Schriftenwechsel ist aufgrund der neuen, nacherfolgenden Judikatur nicht nötig. Das Gesuch um aufschiebende Wirkung wird gegenstandslos. Die Rückweisung der Sache gilt als vollständiges Obsiegen der Beschwerdeführerin. Es werden keine Gerichtskosten erhoben, und die Beschwerdegegnerinnen müssen der Beschwerdeführerin eine Parteientschädigung von CHF 1'500.- bezahlen.

Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:

  • Anfechtung: Eine Ärztin wurde vom kantonalen Schiedsgericht wegen unwirtschaftlicher Behandlungsweise zur Rückerstattung von CHF 75'670.- verpflichtet.
  • Grundlage der Prüfung: Die zweistufige Screening-Methode (Regressionsanalyse und Einzelfallprüfung) zur Identifikation unwirtschaftlicher Behandlungsweisen, basierend auf dem Vergleich des individuellen Fallwerts mit einer Referenzgruppe und unter Berücksichtigung einer Toleranzmarge und allfälliger Praxisbesonderheiten.
  • Zentrale Neuerung (Bundesgericht): Das Bundesgericht präzisiert die Berechnung der Rückforderung, insbesondere die Notwendigkeit, für die Rückerstattungsquote den Gesamtkostenindex (direkte und veranlasste Kosten) heranzuziehen, auch wenn die Rückforderung selbst nur auf die direkten Kosten beschränkt ist. Dies dient der Berücksichtigung kompensatorischer Effekte.
  • Urteil: Die vorinstanzliche Berechnung entsprach dieser neuen Formel nicht. Das Bundesgericht hebt das Urteil auf und weist die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurück, die die neuen bundesgerichtlichen Vorgaben berücksichtigen muss.