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Gerne, hier ist eine detaillierte Zusammenfassung des Urteils des Schweizerischen Bundesgerichts 7B_631/2023 vom 18. September 2025:
Detaillierte Zusammenfassung des Bundesgerichtsurteils 7B_631/2023 vom 18. September 2025
1. Gegenstand und Parteien Das Bundesgericht hatte in diesem Fall (7B_631/2023) über die Einsichtnahme in einen Strafbefehl zu entscheiden, gegen den Einsprache erhoben worden war. Beschwerdeführerin war A.__, vertreten durch Me Raphaël Jakob, gegen das Ministère public de la République et canton de Genève. Die Vorinstanz war die Chambre pénale de recours de la Cour de justice de la République et canton de Genève.
2. Sachverhalt Am 9. Juni 2023 erkannte die Staatsanwaltschaft des Kantons Genf die Beschwerdeführerin A._ mittels Strafbefehl des Urkundenfälschung schuldig. Die Beschwerdeführerin erhob dagegen Einsprache. Am 15. Juni 2023 beantragte sie, der Einsprache behaftete Strafbefehl solle nicht an Dritte, insbesondere Medien oder Journalisten, kommuniziert werden. Die Staatsanwaltschaft lehnte diesen Antrag am 16. Juni 2023 ab. Die Chambre pénale de recours bestätigte diesen Entscheid am 28. Juli 2023. Dagegen reichte A._ am 14. September 2023 eine Beschwerde in Strafsachen beim Bundesgericht ein, mit dem Antrag, die Einsichtnahme Dritter in den Strafbefehl sowie in allfällige künftige Strafbefehle im selben Verfahren zu untersagen und eine Verletzung ihrer Grundrechte auf Unschuldsvermutung und Schutz der Privatsphäre festzustellen.
3. Zulässigkeit der Beschwerde (pragmatisch verkürzt) Obwohl die Frage der Zulässigkeit in der Regel nebensächlich ist, hebt das Bundesgericht hier zwei entscheidende Punkte hervor, die für das Verständnis der späteren Argumentation relevant sind:
4. Begründung des Bundesgerichts in der Sache
4.1. Ausgangslage und Problematik Die Vorinstanz hatte die Frage der Einsichtnahme in einen noch nicht rechtskräftigen Strafbefehl in Analogie zur bundesgerichtlichen Rechtsprechung über die Einsichtnahme in noch nicht rechtskräftige oder aufgehobene Urteile beantwortet und Art. 69 Abs. 2 StPO angewandt. Sie ging davon aus, dass Strafbefehle unmittelbar nach Erlass öffentlich seien. Die Beschwerdeführerin machte geltend, Art. 69 Abs. 2 StPO sei in einem solchen Fall nicht anwendbar. Das Bundesgericht stellte fest, dass die Frage der Einsichtnahme in einen noch nicht rechtskräftigen Strafbefehl durch Dritte noch nicht höchstrichterlich entschieden war.
4.2. Kantonale Praxis und Lehrmeinungen (Divergenz) Das Bundesgericht beleuchtete die uneinheitliche kantonale Praxis und Lehre: * Kantonale Rechtsprechung: Kantone wie Luzern, Bern und Solothurn verneinen die Öffentlichkeit von noch nicht rechtskräftigen Strafbefehlen. Genf, St. Gallen, Graubünden und Jura bejahen sie. Eine Studie von Simmler bestätigte diese Divergenz. * Lehrmeinungen: Auch die Doktrin ist gespalten. Eine Mehrheit vertritt die Ansicht, dass nur rechtskräftige Strafbefehle öffentlich sind (z.B. Donatsch/Summers/Wohlers, Jositsch/Schmid). Eine Minderheit befürwortet die Öffentlichkeit auch für noch nicht rechtskräftige Strafbefehle (z.B. Steinmann, Simmler). Eine dritte Meinung bejaht die Öffentlichkeit nur, wenn der Strafbefehl nach Einsprache aufrechterhalten wird.
4.3. Auslegung von Art. 69 StPO
4.3.1. Auslegungsmethodik Das Gericht betont die Notwendigkeit einer pluralistischen Auslegung (Wortlaut, Systematik, Historie, Teleologie) und die Präferenz für eine verfassungskonforme Auslegung. Bei Grundrechtskollisionen ist eine Güterabwägung nach den Prinzipien von Art. 36 BV vorzunehmen.
4.3.2. Wortlaut (Art. 69 Abs. 2 StPO) Der Wortlaut ("Wenn in diesen Fällen die Parteien auf eine öffentliche Urteilsverkündung verzichtet haben oder ein Strafbefehl ergangen ist, können interessierte Personen die Urteile und Strafbefehle einsehen") ist nicht eindeutig. Die Formulierung "in diesen Fällen" bezieht sich auf die in Abs. 1 genannte mündliche Urteilsverkündung. Der Wortlaut gibt aber keine Auskunft darüber, ob nur rechtskräftige oder alle Strafbefehle gemeint sind.
4.3.3. Systematische Auslegung (Art. 69 Abs. 3 lit. d StPO) Art. 69 Abs. 3 lit. d StPO bestimmt, dass das Strafbefehlsverfahren nicht öffentlich ist. Dies sei besonders relevant, da das Strafbefehlsverfahren nicht nur den Erlass, sondern auch die Einsprache und deren Folgen (Art. 354-356 StPO) umfasst. Wenn das gesamte Strafbefehlsverfahren (auch nach Einsprache) nicht öffentlich ist, spricht dies gegen eine Öffentlichkeit des noch nicht rechtskräftigen Strafbefehls im Sinne von Art. 69 Abs. 2 StPO. Diese Interpretation legt nahe, dass nicht rechtskräftige Strafbefehle vom Anwendungsbereich von Art. 69 Abs. 2 StPO ausgenommen sind.
4.3.4. Historische Auslegung Die Botschaft des Bundesrats zum E-StPO (FF 2006 1057, S. 1130) erwähnt, dass Art. 67 Abs. 4 E-StPO (heutiger Art. 69 Abs. 2 StPO) legitime Informationsrechte Dritter befriedigen soll, wenn auf eine öffentliche Urteilsverkündung verzichtet wurde. Im Falle einer Einsprache gegen einen Strafbefehl hat der Beschuldigte gerade nicht auf sein Recht auf eine öffentliche Verhandlung verzichtet. Die historische Auslegung stützt somit das Ergebnis der systematischen Auslegung.
4.3.5. Teleologische Auslegung und Güterabwägung (Grundrechtskollision) Dies ist der Kern der bundesgerichtlichen Argumentation: * Zweck der Öffentlichkeit vs. Unschuldsvermutung: Das Öffentlichkeitsprinzip der Justiz (Art. 30 Abs. 3 BV, Art. 6 Abs. 1 EMRK) dient dem korrekten Verfahren und dem Vertrauen der Öffentlichkeit. Dies steht im Konflikt mit der Unschuldsvermutung (Art. 6 Abs. 2 EMRK, Art. 32 Abs. 1 BV), die besagt, dass jede Person bis zu einer rechtskräftigen Verurteilung als unschuldig gilt. * Schutz der Unschuldsvermutung: Die Kommunikation eines "Urteilsvorschlags" (ATF 149 IV 9 E. 7.1) an Dritte, noch bevor dieser rechtskräftig ist oder der Beschuldigte die Möglichkeit hatte, seine Verteidigungsrechte vollumfänglich auszuüben, erweckt den verfrühten Eindruck der Schuld. Das Bundesgericht verweist auf die Rechtsprechung des EGMR (Allen vs. UK, Karaman vs. Germany, Minelli vs. Switzerland), wonach bereits ein Eindruck der Schuld, selbst ohne formelle Feststellung, die Unschuldsvermutung verletzen kann. * Interessenabwägung: Das öffentliche Interesse an Transparenz kann auch durch die Einsichtnahme in rechtskräftige Strafbefehle oder durch öffentliche Urteile nach Anklageerhebung gewahrt werden. Eine zeitliche Verzögerung gewährleistet die Zuverlässigkeit der Informationen. Hingegen ist der Schaden für die Unschuldsvermutung durch die vorzeitige Kommunikation eines "Urteilsvorschlags" schwer oder gar irreparabel. * Schlussfolgerung: Die adäquateste Lösung zur Vereinbarkeit von Öffentlichkeit und Unschuldsvermutung besteht darin, die Einsichtnahme in Strafbefehle durch Dritte erst dann zu gestatten, wenn diese rechtskräftig geworden sind.
4.3.6. Ablehnung der Analogie der Vorinstanz Das Bundesgericht verwirft die von der Vorinstanz gezogene Analogie zwischen einem Strafbefehl mit Einsprache und einem erstinstanzlichen Urteil, gegen das Berufung eingelegt wurde: * Ein Strafbefehl mit Einsprache erlangt gerade nicht die Qualität eines Urteils (Art. 354 Abs. 3 StPO; ATF 142 IV 11 E. 1.2.2) und unterbricht insbesondere die Verjährung nicht. * Ein erstinstanzliches Urteil ergeht nach kontradiktorischen Verhandlungen und in der Regel vollständiger Beweisaufnahme, während ein Strafbefehl nach Einsprache eine weitere Beweisaufnahme durch die Staatsanwaltschaft (Art. 355 Abs. 1 StPO) nach sich ziehen kann und von einer Verfolgungsbehörde, nicht von einem Richter, erlassen wird. Die Analogie ist daher unzutreffend.
4.3.7. Endergebnis der Auslegung Art. 69 Abs. 2 StPO ist dahingehend auszulegen, dass er ausschliesslich rechtskräftige Strafbefehle erfasst. Strafbefehle, die noch nicht rechtskräftig sind (weil die Einsprachefrist läuft oder Einsprache erhoben wurde), unterliegen den allgemeinen Regeln der Akteneinsicht, insbesondere Art. 101 StPO.
4.3.8. Praktische Schwierigkeiten bei später Einsprache Das Bundesgericht geht auf die von der Staatsanwaltschaft aufgeworfenen praktischen Schwierigkeiten bei verspäteter Einsprache ein. Es hält fest, dass diese nicht unüberwindbar sind. Die Staatsanwaltschaft kann grundsätzlich von der Rechtskraft ausgehen, wenn innerhalb von 14 Tagen nach Zustellung des Strafbefehls an alle Parteien keine Einsprache eingegangen ist (unter Berücksichtigung üblicher Postlaufzeiten). Bei strittiger Gültigkeit einer Einsprache muss die Einsichtnahme bis zur Klärung verweigert werden.
4.4. Anwendung auf den vorliegenden Fall Die Vorinstanz hat Art. 69 Abs. 2 StPO falsch angewendet, indem sie die Einsichtnahme in den noch nicht rechtskräftigen Strafbefehl gestattete. Stattdessen hätte Art. 101 Abs. 3 StPO angewendet werden müssen, was bedeutet, dass die Beweislast für ein überwiegendes Informationsinteresse beim Dritten liegt und nicht für ein Geheimhaltungsinteresse bei der Beschwerdeführerin. Die Rüge der Beschwerdeführerin ist somit begründet.
5. Fazit des Bundesgerichts Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der angefochtene Entscheid wird reformiert. Der Staatsanwaltschaft wird untersagt, Dritten Zugang zu noch nicht rechtskräftigen Strafbefehlen im Verfahren P/427/2023 zu gewähren, es sei denn, dies erfolgt auf der Grundlage eines spezifischen, vollstreckbaren Antrags. Die Sache wird zur Neuregelung der Kosten und Entschädigungen des kantonalen Verfahrens an die Vorinstanz zurückgewiesen. Im Bundesgerichtsverfahren werden keine Gerichtskosten erhoben, und die Beschwerdeführerin erhält eine Parteientschädigung.
Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:
Das Bundesgericht hat entschieden, dass noch nicht rechtskräftige Strafbefehle nicht dem Öffentlichkeitsprinzip der Justiz unterliegen und Dritten zur Einsicht verweigert werden müssen. Es hat Art. 69 Abs. 2 StPO so ausgelegt, dass er nur für rechtskräftige Strafbefehle gilt. Diese Auslegung basiert auf einer umfassenden Würdigung des Wortlauts, der Systematik (insbesondere Art. 69 Abs. 3 lit. d StPO, der das Strafbefehlsverfahren als nicht öffentlich erklärt) und der Historie. Massgeblich war die teleologische Güterabwägung zwischen dem Öffentlichkeitsprinzip der Justiz und der Unschuldsvermutung (Art. 6 Abs. 2 EMRK). Das Gericht betonte, dass die vorzeitige Kommunikation eines "Urteilsvorschlags" die Unschuldsvermutung irreparabel schädigt, während das öffentliche Informationsinteresse auch durch die Einsichtnahme in rechtskräftige Strafbefehle gewahrt werden kann. Eine Analogie zu anfechtbaren Urteilen wurde abgelehnt, da ein Einsprache behafteter Strafbefehl keine Urteilsqualität besitzt. Nicht rechtskräftige Strafbefehle unterliegen stattdessen den Regeln zur Akteneinsicht gemäss Art. 101 StPO, die ein überwiegendes Interesse des Dritten erfordert.