Gerne fasse ich das vorliegende Urteil des schweizerischen Bundesgerichts (BGer 9C_572/2024 vom 11. September 2025) detailliert zusammen:
Detaillierte Zusammenfassung des Urteils des Bundesgerichts 9C_572/2024
Gericht: Bundesgericht, III. öffentlich-rechtliche Abteilung
Datum des Urteils: 11. September 2025
Parteien:
* Beschwerdeführerin: Fondation A.__
* Beschwerdegegner (Intimé): Office fédéral des assurances sociales (OFAS)
Gegenstand: Invalidenversicherung, Rückerstattung von Subventionen für den Bau und die Sanierung einer Institution
Vorinstanz: Bundesverwaltungsgericht (BVGer), Urteil vom 26. August 2024 (C-1445/2021)
I. Sachverhalt und Prozessgeschichte
Die Beschwerdeführerin, Fondation A._, ist eine private Stiftung, deren Zweck unter anderem die Betreuung von Menschen mit geistiger Behinderung ist. Sie fusionierte 2015 die Fondation B._, die ihrerseits Subventionen der Invalidenversicherung (IV) für den Bau und die Sanierung eines Beschäftigungsheims für erwachsene Menschen mit Behinderung in V.__ erhalten hatte.
Die Fondation B.__ erhielt zwei Hauptsubventionen vom Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV, heute OFAS):
1. Erste Subvention: Ursprünglich provisorisch 1'232'000 CHF (1991), definitiv festgesetzt auf 1'314'797 CHF (31. März 2000) für den Erwerb, Umbau und die Einrichtung eines Gebäudes.
2. Zweite Subvention: Provisorisch 63'000 CHF (2004), definitiv festgesetzt auf 65'564 CHF (15. März 2005) für eine Dachsanierung.
Das Beschäftigungsheim in V._ wurde nach Angaben der Beschwerdeführerin vom 21. Februar 1992 bis zum 16. November 2016 zweckkonform betrieben. Ende 2016 wurde der Betrieb am Standort V._ eingestellt, da die kantonale Behörde die materiellen Aufnahmebedingungen als unzureichend erachtete und die Bewohner in eine andere Institution der Fondation A._ umgesiedelt wurden. Das Gebäude wurde Ende 2017 vom Standort V._ getrennt.
Am 26. November 2018 erinnerte das OFAS die Fondation A.__ an die 25-jährige Zweckbindung der Bausubventionen und forderte Informationen an. Nach einer Voranhörung verlangte das OFAS mit Entscheid vom 24. Februar 2021 die Rückerstattung von 468'632 CHF, da die Subventionen ab Dezember 2016 zweckentfremdet worden seien.
Die Fondation A.__ erhob Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht, das die Beschwerde abwies und den Rückerstattungsbetrag mit Urteil vom 26. August 2024 auf 510'042.76 CHF erhöhte (reformatio in peius).
Gegen dieses Urteil legte die Fondation A.__ Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beim Bundesgericht ein. Sie beantragt primär eine Reduktion des Rückerstattungsbetrags auf 47'459.80 CHF.
II. Rechtsgrundlagen
Die im Urteil massgebenden Rechtsgrundlagen sind:
* Art. 73 aIVG (altes Invalidenversicherungsgesetz): Subventionen für Bau, Ausbau und Renovation von Anstalten. Zum 1. Januar 2008 aufgehoben.
* Art. 104bis aIVV (alte Invalidenversicherungsverordnung): Bei Zweckentfremdung innert 25 Jahren ab Schlusszahlung war die Subvention zurückzuerstatten. Der Rückerstattungsbetrag wurde um 4% für jedes Jahr zweckkonformer Nutzung reduziert. Zum 1. Januar 2008 aufgehoben.
* Übergangsbestimmungen zur IVG-Änderung vom 6. Oktober 2006 (ÜB 2008-2021): Diese Bestimmungen übernahmen den Inhalt von Art. 104bis aIVV und waren bis zum 31. Dezember 2021 in Kraft.
* Abs. 1: Rückerstattungspflicht, wenn Einrichtungen innert 25 Jahren nach letzter Subventionszahlung zweckentfremdet werden.
* Abs. 2: Reduktion des Rückerstattungsbetrags um 4% für jedes Jahr zweckkonformer Nutzung.
* Übergangsbestimmungen zur IVG-Änderung vom 19. Juni 2020 (ÜB 2022): In Kraft seit dem 1. Januar 2022.
* Abs. 1: Rückerstattungspflicht, wenn Gebäude innert 25 Jahren nach Beginn ihrer Nutzung zweckentfremdet werden. Kann der Beginn der Nutzung vom Subventionsempfänger nicht nachgewiesen werden, beginnt die 25-jährige Frist nach letzter Subventionszahlung.
* Art. 29 Abs. 1 des Subventionsgesetzes (SuG): Bei Zweckentfremdung oder Veräusserung einer mit Subventionen geförderten Immobilie ist der Betrag in Abhängigkeit vom Verhältnis der tatsächlichen zweckkonformen Nutzungsdauer zur vorgesehenen Nutzungsdauer zurückzuerstatten.
III. Wesentliche Rechtsfragen und Argumente der Parteien
Der Kern der Auseinandersetzung dreht sich um den Beginn der Frist für die Berechnung des Rückerstattungsbetrags.
* Beschwerdeführerin: Die Berechnung der 4%-Reduktion pro Jahr zweckkonformer Nutzung sollte ab dem tatsächlichen Nutzungsbeginn des Gebäudes (d.h. Februar 1992) erfolgen, und nicht ab der letzten Subventionszahlung (d.h. März 2000 bzw. März 2005). Sie beruft sich dabei auf:
* Die ÜB 2022, die diese Regelung explizit vorsieht.
* Den Gleichbehandlungsgrundsatz, da das OFAS angeblich seine Praxis geändert habe.
* Eine historische, wörtliche und teleologische Auslegung der Übergangsbestimmungen 2008-2021.
* Ein verzögerter Entscheid des OFAS bei der Festsetzung der definitiven Subvention.
* OFAS und Bundesverwaltungsgericht: Die Berechnung muss gemäss den ÜB 2008-2021 ab der letzten Subventionszahlung erfolgen, da diese Bestimmungen als lex specialis dem SuG vorgehen. Die ÜB 2022 sind intertemporalrechtlich nicht anwendbar.
IV. Begründung des Bundesgerichts im Detail
Das Bundesgericht wies die Beschwerde der Fondation A.__ vollumfänglich ab und bestätigte den Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts. Die wesentlichen Begründungspunkte sind:
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Anwendbarkeit der Rechtsnormen (Intertemporales Recht):
- Das Bundesgericht hält fest, dass die rechtlich massgebenden Tatsachen (Zweckentfremdung im November 2016, Anfrage des OFAS 2018, Rückforderungsentscheid 2021) sich ereigneten, bevor die ÜB 2022 am 1. Januar 2022 in Kraft traten.
- Grundsätzlich sind die im Zeitpunkt der Sachverhaltsverwirklichung geltenden Gesetzesbestimmungen anwendbar (Prinzip des Non-Retroaktivität). Eine rückwirkende Anwendung der günstigeren ÜB 2022 auf einen vor ihrem Inkrafttreten eingetretenen Sachverhalt wäre unzulässig. Die strengen Voraussetzungen für eine echte Rückwirkung sind nicht erfüllt.
- Die Argumentation der Beschwerdeführerin, das OFAS hätte die baldige Änderung der Gesetzeslage berücksichtigen müssen, entbehrt einer rechtlichen Grundlage.
- Fazit: Die Übergangsbestimmungen zur IVG-Änderung vom 6. Oktober 2006 (ÜB 2008-2021) sind vorliegend anwendbar.
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Gleichbehandlung und "Gleichheit im Unrecht":
- Die Beschwerdeführerin rügte eine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes, da das OFAS seine Praxis zur Berechnung der Rückerstattung nach dem BGE 144 V 224 (Juli 2018) geändert habe. Vorher sei die Berechnung ab tatsächlichem Nutzungsbeginn (im Sinne des SuG) erfolgt.
- Das Bundesgericht bestätigt die Darstellung des OFAS: Nach dem BGE 144 V 224, der die Priorität der IVG-Übergangsbestimmungen gegenüber dem SuG als lex specialis feststellte, hatte das OFAS seine Praxis korrigiert und die Berechnung ab dem Zeitpunkt der letzten Subventionszahlung gemäss ÜB 2008-2021 vorgenommen.
- Ein Anspruch auf "Gleichheit im Unrecht" besteht nicht. Wenn eine Verwaltungsbehörde eine frühere, als fehlerhaft erkannte Praxis korrigiert, um das Recht korrekt anzuwenden, kann ein Betroffener nicht die Fortführung der fehlerhaften Praxis verlangen.
- Fazit: Die Rüge der Gleichbehandlung ist unbegründet.
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Auslegung der Übergangsbestimmungen 2008-2021 (Art. 1 und 2):
- Wortlaut und Systematik:
- Der Wortlaut der Art. 1 und 2 ÜB 2008-2021 ist nicht völlig unzweideutig. Art. 1 legt die 25-Jahres-Frist für die Rückerstattungspflicht fest, beginnend mit der letzten Subventionszahlung. Art. 2 legt die Reduktion um 4% für jedes Jahr zweckkonformer Nutzung fest, ohne einen expliziten Startpunkt für diese Reduktion zu nennen.
- Systematisch betrachtet können die Begriffe in Art. 2 jedoch nicht anders verstanden werden, als dass sie sich auf die in Art. 1 festgelegte Frist beziehen. Eine Reduktion von 4% pro Jahr führt nach 25 Jahren zu einem Nullsaldo, was perfekt mit der 25-jährigen Rückerstattungsfrist übereinstimmt. Die Reduktion erfolgt somit für jedes Jahr, das zwischen der letzten Subventionszahlung und dem Zeitpunkt der Zweckentfremdung liegt.
- Historische Auslegung:
- Das Bundesgericht zeichnet die Gesetzgebungsgeschichte nach:
- Ursprünglich sah Art. 104bis aIVV (1975) eine vollständige Rückerstattung innert 25 Jahren nach der Schlusszahlung vor.
- Eine Revision 1998 strich das Wort "vollständig" und fügte die 4%-Reduktionsregel hinzu, um eine pro-rata-Lösung zu schaffen und eine Harmonisierung mit dem SuG zu erzielen. Diese Harmonisierung war jedoch nicht vollständig, da spezifische IV-Regelungen beibehalten wurden.
- Die Übernahme dieser Bestimmungen in die ÜB 2008-2021 als formelles Gesetz erfolgte ohne Anpassung an das SuG. Gemäss Art. 2 Abs. 2 SuG gehen spezialgesetzliche Bestimmungen dem SuG vor.
- Erst die ÜB 2022 (gültig ab 2022) haben die Regelung explizit an das SuG angepasst, indem sie den Beginn der 25-Jahres-Frist an den Nutzungsbeginn knüpfen.
- Die im Message des Bundesrates 2017 erwähnte "Rechtsprechung", die eine Auslegung der IV-Bestimmungen im Sinne des SuG gefordert hatte, bezog sich auf einen Entscheid der Eidgenössischen Rekurskommission von 2003 (RKKL 2003). Diese hatte die damalige IVV-Bestimmung als unzulässige Einschränkung des SuG erachtet und für die Berechnung der Reduktion eine Anwendung des SuG (Nutzungsbeginn) gefordert, während die 25-Jahres-Frist ab Schlusszahlung gemäss IVV weiter galt.
- Entscheidender Punkt: Das Bundesgericht stellte jedoch in BGE 144 V 224 (2018) – nach dem Bundesrats-Message 2017 – klar, dass die ÜB 2008-2021 als lex specialis dem SuG vorgehen (im Kontext der Verjährung). Diese Schlussfolgerung ist auch für andere Abweichungen, wie die Berechnung des Rückerstattungsbetrags, gültig (bestätigt in BGer 9C_458/2022 von 2023).
- Daher war die Korrektur der OFAS-Praxis nach BGE 144 V 224 und die Anwendung der ÜB 2008-2021, die den Beginn der Frist für die Reduktion an die letzte Subventionszahlung knüpfen, rechtskonform. Die Beschwerdeführerin kann nicht verlangen, die ÜB 2008-2021 so auszulegen, als ob sie bereits die spätere Fassung der ÜB 2022 darstellen würden.
- Teleologische Auslegung: Die allgemeinen Argumente der Beschwerdeführerin zum Förderzweck von gemeinnützigen Institutionen sind für die konkrete Auslegung der Berechnungsmethode nicht stichhaltig.
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Weitere Rügen:
- Die Rüge der Beschwerdeführerin bezüglich eines angeblichen "Verzugs" des OFAS bei der Festsetzung der definitiven Subvention im Jahr 2000 (für 1991 erfolgte Zahlungen) wurde abgewiesen. Es fehlt eine Rechtsgrundlage für eine Reduktion des Rückerstattungsbetrags aufgrund eines solchen Verzugs, und die Beschwerdeführerin hätte eine Rüge wegen Rechtsverweigerung oder -verzögerung früher geltend machen müssen. Zudem hat sie die Feststellungen der Vorinstanz, wonach das OFAS bis 1999 auf ergänzende Informationen warten musste, nicht substantiiert angefochten.
- Die Beschwerdeführerin bestreitet die "neue Berechnungsmethode" des Bundesverwaltungsgerichts, ohne jedoch die konkreten Berechnungen des BVGer substantiiert anzufechten. Sie verweist lediglich auf ihre eigene Auslegung der ÜB 2008-2021, die das Bundesgericht bereits verworfen hat.
V. Schlussfolgerung des Bundesgerichts
Das Bundesgericht gelangt zum Schluss, dass die Beschwerde in allen Punkten unbegründet ist. Die Auslegung und Anwendung der Übergangsbestimmungen 2008-2021 durch das Bundesverwaltungsgericht ist korrekt. Der Rückerstattungsbetrag von 510'042.76 CHF bleibt bestehen.
Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:
- Anwendbares Recht: Für die Rückerstattung von Subventionen bei Zweckentfremdung sind die Übergangsbestimmungen zur IVG-Änderung vom 6. Oktober 2006 (ÜB 2008-2021) massgebend, da die rechtlich relevanten Fakten vor Inkrafttreten der ÜB 2022 (ab 1. Januar 2022) lagen. Eine rückwirkende Anwendung der neueren Bestimmungen ist unzulässig.
- Berechnungsbasis der Rückerstattung: Die 25-jährige Rückerstattungsfrist sowie die Berechnung der jährlichen Reduktion um 4% für zweckkonforme Nutzung beginnen mit dem Zeitpunkt der letzten Subventionszahlung, nicht mit dem tatsächlichen Nutzungsbeginn des Gebäudes.
- Priorität der IVG-Bestimmungen: Die Übergangsbestimmungen der IVG gehen als lex specialis den allgemeinen Bestimmungen des Subventionsgesetzes (SuG) vor (BGE 144 V 224).
- Gleichheit im Unrecht: Ein Anspruch auf Fortführung einer von der Verwaltung als fehlerhaft erkannten Praxis besteht nicht, wenn diese Praxis zur korrekten Rechtsanwendung geändert wird.
- Ergebnis: Die Beschwerde wurde abgewiesen, und der von der Vorinstanz festgesetzte Rückerstattungsbetrag von 510'042.76 CHF wird bestätigt.