Zusammenfassung von BGer-Urteil 6B_424/2025 vom 25. September 2025

Es handelt sich um ein experimentelles Feature. Es besteht keine Gewähr für die Richtigkeit der Zusammenfassung.

Im Folgenden wird das Urteil des schweizerischen Bundesgerichts (Referenz 6B_424/2025 vom 25. September 2025) detailliert zusammengefasst, wobei die massgebenden Punkte und rechtlichen Argumente, die zum endgültigen Entscheid beigetragen haben, hervorgehoben und vertieft werden. Nebensächliche Punkte wie die Zulässigkeitsfrage, das Eintreten auf die Beschwerde und die Kostenverteilung, sofern nicht zentral für die Argumentation, werden unberücksichtigt gelassen.

Zusammenfassung des Urteils des Bundesgerichts 6B_424/2025 vom 25. September 2025

1. Einleitung und Parteien Das vorliegende Urteil des Bundesgerichts vom 25. September 2025 (Verfahren 6B_424/2025) betrifft eine Beschwerde in Strafsachen (Recours en matière pénale) der Beschwerdeführerin A.__ gegen einen Entscheid der Chambre pénale d'appel et de révision des Kantons Genf vom 10. März 2025. Der Gegenstand der Beschwerde sind die Straftatbestände der Nötigung (contrainte) und versuchten Nötigung (tentative de contrainte) gemäss Art. 181 des Schweizerischen Strafgesetzbuches (StGB) sowie die Rüge der willkürlichen Sachverhaltsfeststellung.

2. Sachverhalt (Zusammenfassung der kantonalen Feststellungen)

Die Beschwerdeführerin A._ ist Gründerin und Leiterin der Association F._ (nachfolgend "die Vereinigung"), einer gemeinnützigen Organisation. Diese Vereinigung schliesst Leihverträge (contrats de prêts à usage) mit Eigentümern von zum Abriss bestimmten Gebäuden ab, um diese vorübergehend Personen in beruflicher Notlage oder Wohnungslosen zur Verfügung zu stellen. Die Leistung der Vereinigung erfolgt gegen eine monatliche Gebühr und die Unterzeichnung einer "Convention d'accompagnement d'hébergement temporaire avec procédure d'expulsion", welche diverse Regeln und ein internes Reglement (u.a. Verbot des Schlosswechsels ohne Zustimmung der Vereinigung) enthält. Verstösse gegen diese Regeln berechtigen zur sofortigen Beendigung der Konvention. Wichtig ist jedoch, dass Ziffer 11 der Konvention eine Kündigungsprozedur vorsieht, die eine Kündigungsfrist von einem Monat auf Ende eines Monats bei Nichtbeachtung der Vertrags- oder Reglementsklauseln festlegt.

Die Verurteilung der Beschwerdeführerin durch die Vorinstanzen erfolgte aufgrund von drei Fällen, in denen sie die Schlösser von Wohnungen wechselte, um Bewohner zur Räumung zu zwingen:

  • E.__: Er hatte am 10. April 2019 eine Konvention unterzeichnet. Nachdem er sich nach anfänglicher Mithilfe aufgrund eines Arbeitsplatzes und dem Gefühl der Ausnutzung durch die Vereinigung zurückgezogen hatte, wurde er telefonisch mit der Räumung bedroht. Am 18. September 2019, früh morgens, liess die Vereinigung die Schlösser seines Mietobjekts wechseln. Am Nachmittag desselben Tages erhielt er per E-Mail ein sofortiges Kündigungsschreiben mit Verweis auf "dysfunktionales Verhalten" und Belästigung der Nachbarschaft. Das Bundesgericht hielt fest, dass diese sofortige Kündigung der einmonatigen Frist gemäss Ziffer 11 der Konvention widersprach.
  • D.__: Er hatte am 29. März 2019 eine Konvention bis zum 30. November 2019 abgeschlossen, deren Dauer durch einen Nachtrag vom 9. September 2019 auf den 2. Oktober 2019 verkürzt wurde.
    • Am 18. September 2019 (erste Phase) versuchte eine Freiwillige der Vereinigung, begleitet von einem Schlosser, die Schlösser zu wechseln. D._ verhinderte dies provisorisch. Am Nachmittag erhielt er, wie E._, ein sofortiges Kündigungsschreiben vom selben Tag, das auf dieselben Gründe verwies.
    • Am 7. Oktober 2019 (zweite Phase), also 19 Tage nach der Kündigungsentscheidung und nach dem vertraglichen Enddatum des 2. Oktober 2019, liessen Mitglieder der Vereinigung die Schlösser der Wohnung wechseln, während alle persönlichen Sachen von D.__ noch darin waren.
  • B.__: Er hatte am 29. Oktober 2018 eine Konvention bis zum 30. November 2019 abgeschlossen, die durch einen Nachtrag vom 28. August 2019 auf den 24. September 2019 vorverlegt wurde. Mit Zustimmung der Vereinigung blieb er jedoch über dieses Datum hinaus in der Wohnung und verpflichtete sich am 24. Oktober 2019, bis zum 30. November 2019 auszuziehen. Am 11. November 2019 liessen Mitglieder der Vereinigung in seiner Abwesenheit die Schlösser wechseln und verweigerten seinem Sohn den Zutritt. An diesem Tag erhielt B.__ per Einschreiben eine Kündigung auf den 13. November 2019 mit Verweis auf unbezahlte Gebühren und das Beherbergen Dritter.

3. Rechtliche Würdigung durch das Bundesgericht

3.1. Sachverhaltsfeststellung und willkürliche Beweiswürdigung (Art. 97 Abs. 1, 105 Abs. 2 LTF; Art. 9 BV)

Das Bundesgericht ist an die Sachverhaltsfeststellungen der Vorinstanz gebunden, es sei denn, diese wurden offensichtlich unrichtig (willkürlich) oder in Verletzung des Rechts festgestellt. Es fungiert nicht als Appellationsinstanz.

Die Beschwerdeführerin rügte, die Vorinstanz habe den Sachverhalt willkürlich festgestellt, insbesondere hinsichtlich der Auslegung der Kündigungsklauseln der Konvention. Sie argumentierte, die Konvention und das interne Reglement sähen bei Regelverstössen eine sofortige Kündigung vor, ohne die Notwendigkeit einer einmonatigen Frist.

Das Bundesgericht weist diese Rüge zurück. Es erinnert an die Regeln der Vertragsauslegung: Zuerst wird der subjektive Wille der Parteien (tatsächlicher Konsens) ermittelt. Ist dieser nicht feststellbar, erfolgt eine objektive Auslegung nach dem Vertrauensprinzip, d.h. wie eine Erklärung nach Treu und Glauben verstanden werden durfte. Subsidiär kann die Regel in dubio contra stipulatorem (bei Zweifeln zu Lasten des Verwenders der Klausel) angewendet werden.

Die Vorinstanz hatte festgestellt, dass die Konvention, trotz unterschiedlicher Formulierungen in den Dokumenten, in Ziffer 11 eine einzige Kündigungsprozedur vorsieht, die stets die Einhaltung einer einmonatigen Frist auf Ende eines Monats erfordert, unabhängig von der Art des Verstoßes. Diese Auslegung wurde durch die eigenen Aussagen der Beschwerdeführerin bestätigt, die gegenüber der Polizei und der Staatsanwaltschaft Ziffer 11 als die gültige Räumungsprozedur der Vereinigung bezeichnet hatte. Das Bundesgericht erachtet diese Auslegung als nicht willkürlich, da sie sich auf den Wortlaut der Konvention und die Aussagen der Beschwerdeführerin stützt. Die Einwände der Beschwerdeführerin wurden als appellatorisch oder ungenügend begründet zurückgewiesen.

Ebenso wurden weitere Rügen der Beschwerdeführerin bezüglich des Vertragsendes von D.__ und angeblicher fehlender Drohungen zurückgewiesen, da die Vorinstanz diesbezüglich keine willkürlichen Feststellungen getroffen hatte. Die Frage der Besitzesrechte wurde als Rechtsfrage qualifiziert.

3.2. Nötigung (Art. 181 StGB) und versuchte Nötigung

3.2.1. Definition und Voraussetzungen der Nötigung Art. 181 StGB bestraft, wer jemanden durch Gewalt, Androhung ernsthaften Nachteils oder auf andere Weise in seiner Handlungsfreiheit beschränkt und ihn dadurch zu einem Tun, Dulden oder Unterlassen nötigt. Die Klausel "auf andere Weise" ist restriktiv auszulegen: Es muss sich um ein Zwangsmittel handeln, das wie Gewalt oder Drohung mit ernsthaftem Nachteil geeignet ist, eine Person von durchschnittlicher Empfindlichkeit erheblich in ihrer Entscheidungs- oder Handlungsfreiheit zu beeinträchtigen (analoge Intensität). Die Nötigung ist nur dann widerrechtlich, wenn das angewendete Mittel oder der verfolgte Zweck rechtswidrig ist, oder wenn das Mittel zur Erreichung des Ziels unverhältnismässig ist, oder wenn ein an sich rechtmässiges Mittel für einen legitimen Zweck missbräuchlich oder sittenwidrig angewendet wird. Als Erfolgsdelikt setzt die Nötigung voraus, dass der Täter das Opfer tatsächlich zu einem Tun, Dulden oder Unterlassen genötigt hat.

3.2.2. Anwendung auf die Einzelfälle

  • Fall E.__ (Nötigung): Die Vereinigung kündigte E._ mit sofortiger Wirkung am Tag des Schlosswechsels, obwohl die Konvention gemäss Ziffer 11 eine einmonatige Kündigungsfrist vorschrieb. Die Kündigung war daher ungültig, und E._ hatte weiterhin ein Recht, die Wohnung zu nutzen. Durch den Schlosswechsel in Abwesenheit von E.__ hat die Beschwerdeführerin ihn an der Ausübung seines Besitzes gehindert und ihn zum Verlassen der Wohnung genötigt. Der Zweck der Nötigung (vorzeitige Beendigung der Konvention unter Missachtung der Kündigungsprozedur) war somit widerrechtlich. Der Tatbestand der Nötigung ist erfüllt.

  • Fall D.__ (versuchte Nötigung und Nötigung):

    • Erste Phase (18. September 2019 – versuchte Nötigung): Zum Zeitpunkt des versuchten Schlosswechsels hatte D.__ das Kündigungsschreiben noch nicht erhalten, und die Konvention war noch gültig. Die Beschwerdeführerin war verpflichtet, die vertraglich vorgesehene Kündigungsprozedur einzuhalten. Der Versuch, die Schlösser zu wechseln, um ihn am Zugang zu hindern und zum Verlassen der Wohnung zu zwingen, stellt eine versuchte Nötigung dar.
    • Zweite Phase (7. Oktober 2019 – Nötigung): Zu diesem Zeitpunkt war der Vertrag von D._ gemäss Nachtrag vom 2. Oktober 2019 abgelaufen. D._ hatte somit kein Recht mehr, die Wohnung zu nutzen. Die Beschwerdeführerin berief sich auf Art. 926 Abs. 1 ZGB (Besitzesschutz und Selbsthilfe), um den Schlosswechsel als legitimes Mittel zu verteidigen. Das Bundesgericht weist dieses Argument zurück. D._ hatte keinen "Akt der eigenmächtigen Justiz" begangen, der den Besitz der Beschwerdeführerin gestört oder entzogen hätte. Er hatte lediglich den freiwillig gewährten Besitz beibehalten. Die Situation ist nicht vergleichbar mit illegalen Besetzungen ("Squattern"), bei denen Art. 926 ZGB in Frage kommen könnte. Da D._ keine Besitzesstörung oder -entziehung im Sinne von Art. 926 ZGB verübt hatte, war die Beschwerdeführerin nicht zur Selbsthilfe berechtigt. Sie hätte den petitorischen Klageweg beschreiten müssen, um die Räumung gerichtlich durchzusetzen. Der Schlosswechsel war in diesem Fall ein widerrechtliches Mittel, um D.__ zum Verlassen der Räumlichkeiten zu zwingen. Der Tatbestand der Nötigung ist erfüllt.
  • Fall B.__ (Nötigung): Am 11. November 2019 liess die Beschwerdeführerin die Schlösser wechseln, obwohl die Kündigung erst auf den 13. November 2019 erfolgte und die einmonatige Kündigungsfrist der Konvention nicht eingehalten wurde. Auch hier hat die Beschwerdeführerin die Konvention vorzeitig und unter Missachtung der vertraglichen Prozedur beendet. Der Schlosswechsel war sowohl ein widerrechtliches Mittel als auch verfolgte er einen widerrechtlichen Zweck, da die Konvention noch nicht gültig beendet war. Der Tatbestand der Nötigung ist erfüllt.

3.3. Irrtum über die Widerrechtlichkeit Die Beschwerdeführerin machte geltend, ihr ehemaliger Anwalt habe ihr telefonisch bestätigt, dass sie ihr Verteidigungsrecht gemäss Art. 926 ZGB ausüben könne. Dieser Einwand wurde als unzulässig verworfen, da er auf neuen Tatsachen beruhte, die im angefochtenen Urteil nicht festgestellt wurden (Art. 105 Abs. 1 LTF).

3.4. Genugtuungsansprüche des Minderjährigen C.__ Die Beschwerdeführerin bestritt die Genugtuungsansprüche des Minderjährigen C.__. Diese Rüge wurde mangels jeglicher Begründung als unzulässig befunden (Art. 42 Abs. 2 LTF).

4. Schlussfolgerung des Bundesgerichts Das Bundesgericht weist die Beschwerde der A.__ ab, soweit diese zulässig ist. Die Verurteilung wegen Nötigung und versuchter Nötigung sowie die zivilrechtlichen Folgen werden bestätigt.

Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:

Das Bundesgericht bestätigte die Verurteilung der Beschwerdeführerin A._ wegen Nötigung und versuchter Nötigung. Zentral war die Feststellung, dass die von ihr geleitete Vereinigung vertraglich an eine einmonatige Kündigungsfrist gebunden war, auch bei schwerwiegenden Regelverstössen. Das eigenmächtige Wechseln von Schlössern zur Räumung von Bewohnern wurde in allen Fällen als widerrechtlich beurteilt: 1. E._ und B._: Die sofortige Kündigung und der Schlosswechsel verstießen gegen die vertraglich vereinbarte Kündigungsfrist, weshalb der verfolgte Zweck widerrechtlich war. 2. D.__ (zweite Phase): Obwohl der Vertrag abgelaufen war, konnte sich die Beschwerdeführerin nicht auf Selbsthilfe gemäss Art. 926 ZGB berufen, da D._ lediglich einen ursprünglich freiwillig gewährten Besitz beibehielt und keine Besitzesstörung oder -entziehung im Sinne der Bestimmung vorlag. Stattdessen hätte der Zivilrechtsweg (petitorische Klage) beschritten werden müssen. Der Schlosswechsel war somit ein widerrechtliches Mittel.

Das Urteil unterstreicht, dass die eigenmächtige Durchsetzung von vermeintlichen Rechten, insbesondere durch Eingriff in den Besitz, auch bei Vorliegen von Vertragsverletzungen oder nach Vertragsablauf, widerrechtlich sein kann, wenn sie nicht im Rahmen der gesetzlich vorgesehenen Verfahren oder der engen Grenzen der Selbsthilfe erfolgt.