Im vorliegenden Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts, I. strafrechtliche Abteilung, vom 24. September 2025 (6B_377/2025) ging es um die Frage der Rechtzeitigkeit einer Einsprache gegen einen Strafbefehl und die damit verbundenen Anforderungen an dessen Eröffnung sowie den Anspruch auf rechtliches Gehör.
1. Sachverhalt und Verfahrensgang
Der Beschwerdeführer A.__ wurde am 4. April 2020 von der Staatsanwaltschaft Zürich-Limmat mittels Strafbefehl wegen Missachtung der Ausgrenzung (Art. 119 Abs. 1 des Bundesgesetzes über Ausländerinnen und Ausländer und über die Integration, AIG) zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 40 Tagen verurteilt. Der Strafbefehl wurde ihm am selben Tag persönlich gegen Empfangsschein ausgehändigt.
Erst am 31. Dezember 2023, also über dreieinhalb Jahre später, erhob A._ Einsprache gegen diesen Strafbefehl. Die Staatsanwaltschaft überwies die Sache an das Bezirksgericht Zürich, wobei sie die Einsprache als verspätet erachtete. Das Bezirksgericht Zürich trat mit Verfügung vom 14. Mai 2024 auf die Einsprache nicht ein und stellte die Rechtskraft des Strafbefehls fest. Die dagegen gerichtete Beschwerde von A._ wies das Obergericht des Kantons Zürich am 10. März 2025 ab. Der Beschwerdeführer gelangte daraufhin an das Bundesgericht.
2. Rechtliche Problematik und Massgebende Argumente des Beschwerdeführers
Die Kernfragen des Verfahrens vor Bundesgericht waren:
a) Ob der Anspruch des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör verletzt wurde, weil das Bezirksgericht Zürich vor seinem Nichteintretensentscheid keine schriftliche Stellungnahme eingeholt oder eine mündliche Hauptverhandlung angesetzt hatte.
b) Ob der Strafbefehl mangelhaft eröffnet wurde, insbesondere aufgrund fehlender Übersetzung und unklarer Rechtsmittelbelehrung, und die Einsprache somit zu Unrecht als verspätet erachtet wurde.
c) Ob das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege im vorinstanzlichen und bundesgerichtlichen Verfahren zu Recht abgewiesen wurde.
3. Begründung des Bundesgerichts im Detail
Das Bundesgericht wies die Beschwerde ab und stützte sich dabei auf folgende detaillierte Begründung:
3.1. Zum Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV, Art. 107 StPO, Art. 6 Ziff. 1 EMRK)
- Grundsatz: Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist formeller Natur. Eine Verletzung führt grundsätzlich zur Aufhebung des Entscheids, es sei denn, sie könne durch eine Rechtsmittelinstanz geheilt werden, welche die Sach- und Rechtslage frei überprüfen kann. Eine Heilung ist selbst bei schwerwiegenden Verletzungen möglich, wenn eine Rückweisung zu einem "formalistischen Leerlauf" führen würde, der mit dem Interesse an einer beförderlichen Beurteilung unvereinbar wäre (BGE 142 II 218 E. 2.8.1; BGE 137 I 195 E. 2.3.2).
- Vorinstanzliche Beurteilung: Die Vorinstanz stellte fest, dass die Erstinstanz (Bezirksgericht) zwar tatsächlich den Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt hatte, indem sie keine schriftliche Stellungnahme einholte oder eine Hauptverhandlung ansetzte. Sie erachtete dies jedoch nicht als besonders schwerwiegende Verletzung. Dies begründete sie damit, dass sich der Beschwerdeführer bereits vor der Staatsanwaltschaft zur Rechtzeitigkeit der Einsprache (mit Argumenten bezüglich Übersetzungsbedarf und mangelhafter Rechtsmittelbelehrung) geäussert hatte. Die Staatsanwaltschaft hatte diese Argumente in der Überweisungsverfügung an das Bezirksgericht sinngetreu wiedergegeben. Das Bezirksgericht hatte sich sodann in seiner Verfügung ausdrücklich mit diesen Argumenten auseinandergesetzt.
- Bundesgerichtliche Bestätigung: Das Bundesgericht schloss sich der Vorinstanz an. Da die Erstinstanz die vorgebrachten Argumente des Beschwerdeführers bereits berücksichtigt hatte und dieser in seiner Beschwerde an die Vorinstanz keine neuen Rügen vorbrachte, wäre ein weiterer Schriftenwechsel oder eine Rückweisung der Sache an die Erstinstanz ein "formalistischer Leerlauf" gewesen. Die Rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs wurde daher als unbegründet abgewiesen.
3.2. Zur Eröffnung des Strafbefehls und der Rechtzeitigkeit der Einsprache
- Grundsätze der Eröffnung und Einsprachefrist: Gegen einen Strafbefehl ist innert 10 Tagen Einsprache zu erheben (Art. 354 Abs. 1 lit. a StPO). Diese Frist beginnt mit der Zustellung des Strafbefehls, welche gemäss Art. 85 StPO schriftlich und gegen Empfangsbestätigung erfolgen muss (BGE 144 IV 57 E. 2.3).
- Anspruch auf Verständlichkeit und Übersetzung: Nach Art. 68 Abs. 2 StPO muss der beschuldigten Person der wesentliche Inhalt der wichtigsten Verfahrenshandlungen in einer ihr verständlichen Sprache mündlich oder schriftlich zur Kenntnis gebracht werden. Ein Anspruch auf vollständige Übersetzung aller Akten besteht nicht. Bei Strafbefehlen müssen aber zumindest das Dispositiv und die Rechtsmittelbelehrung übersetzt werden (BGE 145 IV 197 E. 1.3.3; Urteil 6B_860/2020). Der Umfang der Hilfestellungen richtet sich nach den effektiven Bedürfnissen und konkreten Umständen (BGE 143 IV 117 E. 3.1). Die beschuldigte Person ist grundsätzlich verpflichtet, ihren Übersetzungsbedarf zu signalisieren (BGE 145 IV 197 E. 1.3.3).
- Vorinstanzliche Würdigung der Eröffnung im konkreten Fall:
- Der Beschwerdeführer hatte bei seinen Einvernahmen ausdrücklich auf einen Dolmetscher verzichtet und erklärt, den Tatvorwurf zu verstehen und anzuerkennen. Er habe der Befragung folgen können und seine Kenntnis der Ausgrenzung bestätigt.
- Der Polizeirapport bescheinigte dem Beschwerdeführer Deutschkenntnisse. Die Behauptungen des Beschwerdeführers, er habe die Befragung kaum folgen können oder das Protokoll nicht gelesen, fanden in den Akten keine Stütze.
- Es war für die Behörden nicht ersichtlich, dass der Beschwerdeführer einen Übersetzungsbedarf gehabt hätte. Der Beschwerdeführer signalisierte einen solchen Bedarf auch nicht bei der persönlichen Aushändigung des Strafbefehls. Dies wäre ihm, auch angesichts seiner Einlassungen bei der Einvernahme, zuzutrauen gewesen.
- Der Beschwerdeführer war bereits am 29. Januar 2020 mit einem Strafbefehl entlassen worden, was auf seine Kenntnis des Ablaufs hindeutet.
- Fazit der Vorinstanz: Die Staatsanwaltschaft war mangels entsprechender Hinweise nicht gehalten, den Strafbefehl von sich aus mündlich zu übersetzen. Der Strafbefehl wurde korrekt eröffnet.
- Bundesgerichtliche Ablehnung der Beschwerdebegründung:
- Appellatorische Kritik: Das Bundesgericht wies appellatorische Kritik des Beschwerdeführers zurück, wie die Behauptung, die Staatsanwaltschaft hätte seine "Analphabetismus" erkennen müssen, oder seine Erklärungen, er sei froh gewesen, entlassen zu werden und habe keine Verzögerungen riskieren wollen. Solche pauschalen Behauptungen reichten nicht aus, um Willkür darzulegen.
- Erwartung der Strafe: Die vorinstanzliche Erwägung, der Beschwerdeführer habe nach seinem Geständnis mit einer Strafe rechnen müssen, zielte darauf ab, seine Erwartungshaltung bezüglich des Strafbefehls zu begründen, und nicht auf die Zulässigkeit einer Einsprache bei Geständnis.
- Verzögerung der Einsprache (3.5 Jahre): Die Vorinstanz hatte zutreffend ausgeführt, dass die Einsprachefrist auch dann massiv überschritten gewesen wäre, wenn eine Übersetzungspflicht bestanden hätte und der Beschwerdeführer selbst eine Übersetzung hätte einholen müssen. Eine Rechtsmittelfrist darf zwar nicht um die Zeit gekürzt werden, die für eine Übersetzung benötigt wird (Urteil 6B_667/2017 E. 5.1), aber dies rechtfertigt keine dreieinhalbjährige Untätigkeit. Es handle sich hierbei nicht um eine "Verjährung", sondern um eine Eventualerwägung zur extremen Fristversäumnis.
- Mangelhafte Rechtsmittelbelehrung (Adresse): Die Vorinstanz wies zutreffend darauf hin, dass die erforderliche Adresse der Staatsanwaltschaft Zürich-Limmat dem Briefkopf des Strafbefehls entnommen und leicht über öffentliche Kanäle ermittelt werden konnte. Selbst eine irrtümliche Einreichung bei einer unzuständigen Schweizer Behörde hätte die Frist gewahrt (Art. 91 Abs. 4 Satz 1 StPO).
- Andere Urteile: Verweise auf andere kantonale Urteile wurden vom Bundesgericht als irrelevant erachtet, da die Vorinstanz bereits schlüssig dargelegt hatte, warum diese nicht vergleichbar waren oder die Gleichgültigkeit des Beschwerdeführers gegenüber Strafbefehlen untermauerten.
- Schlussfolgerung: Die Einsprache vom 31. Dezember 2023 wurde zu Recht als verspätet abgewiesen. Der Strafbefehl vom 4. April 2020 ist somit in Rechtskraft erwachsen.
3.3. Zu den Kosten- und Entschädigungsfolgen sowie der unentgeltlichen Rechtspflege
- Grundsätze: Unentgeltliche Rechtspflege (Art. 29 Abs. 3 BV) wird gewährt, wenn die Mittel fehlen und das Rechtsbegehren nicht aussichtslos ist. "Aussichtslos" bedeutet, dass die Gewinnaussichten beträchtlich geringer sind als die Verlustgefahren (BGE 142 III 138 E. 5.1).
- Vorinstanzliche Beurteilung und Bundesgerichtliche Bestätigung: Die Vorinstanz qualifizierte die Beschwerde als aussichtslos. Das Bundesgericht bestätigte dies. Die Verletzung des rechtlichen Gehörs durch die Erstinstanz wurde als geheilt betrachtet, da die Argumente des Beschwerdeführers bereits berücksichtigt wurden und keine neuen Rügen vorgebracht wurden. Ein anwaltlich vertretener Beschwerdeführer hätte die Aussichtslosigkeit erkennen müssen.
- Schlussfolgerung: Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wurde daher abgewiesen, und der Beschwerdeführer trägt die Gerichtskosten.
4. Wesentliche Punkte der Entscheidung in Kürze
- Heilung des rechtlichen Gehörs: Eine anfängliche Verletzung des rechtlichen Gehörs durch die Erstinstanz kann geheilt werden, wenn die betroffene Person ihre Argumente bereits vor einer Vorinstanz vorbringen konnte, diese Argumente von der Entscheidinstanz berücksichtigt wurden und ein weiterer Schriftenwechsel einen "formalistischen Leerlauf" darstellen würde.
- Anforderungen an die Strafbefehlseröffnung: Die persönliche Aushändigung eines Strafbefehls ist grundsätzlich korrekt. Bei fehlender Kenntnis der Verfahrenssprache muss die beschuldigte Person ihren Übersetzungsbedarf signalisieren, sofern dies für die Behörden nicht offensichtlich ist. Bei Strafbefehlen sind zumindest Dispositiv und Rechtsmittelbelehrung zu übersetzen, ein genereller Anspruch auf Vollübersetzung besteht jedoch nicht.
- Fristen: Die Einsprachefrist von 10 Tagen beginnt mit der Zustellung und ist strikt. Eine massiv überlange Verspätung (hier: 3.5 Jahre) kann auch bei hypothetischem Übersetzungsbedarf nicht entschuldigt werden, da die beschuldigte Person in der Pflicht ist, sich selbst um eine Übersetzung zu bemühen.
- Unentgeltliche Rechtspflege: Ein Rechtsmittelgesuch ist aussichtslos, wenn die Gewinnaussichten beträchtlich geringer sind als die Verlustgefahren. Im vorliegenden Fall wurde dies bejaht, da die Hauptargumente des Beschwerdeführers als unbegründet erachtet wurden.
Das Bundesgericht bestätigte somit die Rechtskraft des Strafbefehls und die Rechtmässigkeit des Nichteintretens auf die Einsprache aufgrund deren krasser Verspätung, gestützt auf die Annahme, dass der Strafbefehl korrekt eröffnet wurde und allfällige Mängel im Recht auf Gehör geheilt werden konnten.