Zusammenfassung von BGer-Urteil 4D_147/2024 vom 4. August 2025

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Detaillierte Zusammenfassung des Urteils des Schweizerischen Bundesgerichts (4D_147/2024 vom 4. August 2025)

Das vorliegende Urteil des Bundesgerichts (Erste Zivilkammer) befasst sich mit der Frage der definitiven Rechtsöffnung in der Schweiz gestützt auf italienische Urteile, wobei inzident über die Vollstreckbarerklärung dieser Urteile nach dem revidierten Lugano-Übereinkommen (LUÜ) zu befinden war.

1. Sachverhalt

Die Beschwerdeführerin, A._ SA (ehemals C._ SA), eine Genfer Kunstgalerie, verkaufte im April 2018 einem Kunden, dem Intimierten B.__, ein Kunstwerk in Mailand für 8'500 Euro. Bei Lieferung im Mai 2018 fehlte die zum Werk gehörende Titelplatte. Diese wurde nachgeliefert, kam aber beschädigt an. Der Intimierte forderte daraufhin die Rücknahme des Werkes und Rückerstattung des Kaufpreises. Die Galerie erklärte sich zunächst bereit, die Rücksendekosten zu tragen, zog ihr Angebot aber im Juli 2018 zurück und informierte den Kunden, dass er einen neuen Titel erhalten würde.

Nach erfolgloser Mahnung durch den italienischen Anwalt des Intimierten reichte dieser am 8. März 2019 Klage beim Tribunale ordinario di Roma gegen die damalige C.__ SA ein, um den Kaufvertrag aufzulösen und Rückzahlung des Kaufpreises sowie Schadenersatz (insgesamt 8'500 Euro plus 6'500 Euro immaterieller und 2'000 Euro materieller Schaden) zu erwirken.

Die Zustellung der klageeröffnenden Schrift in der Schweiz erfolgte fehlerhaft: Das Genfer Gericht, das mit der Zustellung gemäss Haager Übereinkommen vom 15. November 1965 betraut war, stellte die Schrift am 3. April 2019 irrtümlich an eine andere Gesellschaft (E._ SA), deren alleiniger Verwalter ebenfalls D._ war, statt an C._ SA (die inzwischen in A._ SA umbenannt worden war). Obwohl das Genfer Gericht den römischen Behörden zunächst die korrekte Zustellung bescheinigte, korrigierte es diesen Fehler am 10. Oktober 2019 und teilte mit, dass die Zustellung an C.__ SA nicht habe ausgeführt werden können.

Trotz des formellen Zustellungsmangels hatte die Beschwerdeführerin Kenntnis vom italienischen Verfahren: Am 20. Mai 2020 erhielt sie eine Vorladung zur Verhandlung vom 8. Oktober 2020 sowie die Ergänzungsschrift des Klägers zugestellt. Kurz vor der Verhandlung vom 8. Oktober 2020 informierte die Beschwerdeführerin die italienischen Gerichte per E-Mail, dass sie die klageeröffnende Schrift nie erhalten habe, und ersuchte um Annullierung der Verhandlung und Nachzustellung der Akten. Am 2. November 2020 übersandte der Anwalt des Intimierten der Beschwerdeführerin die klageeröffnende Schrift aus kollegialer Höflichkeit per E-Mail, nachdem er mitgeteilt hatte, der Richter habe alle Zustellungen als korrekt befunden. Am 19. Januar 2021 ersuchte die Beschwerdeführerin das Genfer Gericht um Annullierung seiner fehlerhaften Zustellungsbescheinigung vom 17. April 2019.

Am 16. Februar 2021 erliess das Tribunale ordinario di Roma ein Versäumnisurteil, das den Kaufvertrag wegen grober Pflichtverletzung der C._ SA auflöste und diese zur Rückzahlung von 8'500 Euro zzgl. Zinsen, zur Zahlung von 2'000 Euro Schadenersatz und 2'347.50 Euro Prozesskosten verurteilte. Dieses Urteil wurde der A._ SA am 2. Juni 2021 zugestellt. Ihre Berufung gegen dieses Urteil wurde von der Corte di Appello di Roma am 17. Februar 2022 wegen Verspätung als unzulässig erklärt.

Im Mai 2023 leitete der Intimierte in der Schweiz eine Betreibung ein, wogegen die Beschwerdeführerin Rechtsvorschlag erhob. Der Intimierte beantragte daraufhin die definitive Rechtsöffnung und, inzident, die Vollstreckbarerklärung der italienischen Urteile. Das Genfer Tribunal de première instance wies die Klage ab, die Cour de justice des Kantons Genf hob dieses Urteil jedoch auf und erteilte die definitive Rechtsöffnung. Dagegen reichte die Galerie eine subsidiäre Verfassungsbeschwerde beim Bundesgericht ein.

2. Rechtliche Argumente und Begründung des Bundesgerichts

Das Bundesgericht prüfte die Rechtmässigkeit der kantonalen Entscheidung im Rahmen einer subsidiären Verfassungsbeschwerde (Art. 113 ff. BGG), da der Streitwert für eine ordentliche Beschwerde in Zivilsachen nicht erreicht war. Bei der Prüfung von Rügen der Willkür (Art. 9 BV) in der Sachverhaltsfeststellung und Rechtsanwendung übt das Bundesgericht Zurückhaltung und greift nur ein, wenn die angefochtene Entscheidung im Ergebnis unhaltbar ist.

Der Kern des Rechtsstreits betrifft die inzidente Vollstreckbarerklärung der italienischen Urteile im Rahmen des definitiven Rechtsöffnungsverfahrens nach Art. 81 Abs. 3 SchKG i.V.m. dem Lugano-Übereinkommen (LUÜ).

2.1. Anwendbarkeit und Verfahren nach dem Lugano-Übereinkommen

Das Bundesgericht stellte fest, dass das revidierte Lugano-Übereinkommen vom 30. Oktober 2007 (LUÜ) auf den Fall anwendbar ist, da Italien ein EU-Mitgliedstaat ist und die Klage im März 2019 eingeleitet wurde (Art. 63 Abs. 1 LUÜ). Die Vollstreckung eines ausländischen Urteils, das in einem LUÜ-Vertragsstaat ergangen ist, erfordert eine Vollstreckbarerklärung (Exequatur). Diese kann entweder in einem unabhängigen Exequaturverfahren (Art. 38 ff. LUÜ) oder inzident im Rahmen eines definitiven Rechtsöffnungsverfahrens (Art. 81 Abs. 3 SchKG i.V.m. Art. 33 Abs. 1 LUÜ) erfolgen, was hier der Fall war.

Die Anerkennung einer Entscheidung erfolgt gemäss Art. 33 Abs. 1 LUÜ automatisch, ohne besonderes Verfahren. Verweigerungsgründe sind abschliessend in Art. 34 und 35 LUÜ aufgeführt und müssen vom Schuldner, der sich der Vollstreckung widersetzt, vorgebracht und bewiesen werden.

2.2. Der zentrale Verweigerungsgrund: Art. 34 Abs. 2 LUÜ

Der entscheidende Verweigerungsgrund, den die Beschwerdeführerin geltend machte, ist in Art. 34 Abs. 2 LUÜ statuiert: Die Entscheidung wird nicht anerkannt, wenn die klageeröffnende Schrift oder ein gleichwertiges Schriftstück dem säumigen Beklagten nicht so rechtzeitig und in einer Weise zugestellt worden ist, dass er sich verteidigen konnte.

Ein zentraler Aspekt ist der Schweizer Vorbehalt zu Art. 34 Abs. 2 LUÜ gemäss Protokoll Nr. 1, Art. III Abs. 1. Die Schweiz wendet den Schlusssatz dieses Artikels ("es sei denn, er habe es unterlassen, gegen die Entscheidung ein Rechtsmittel einzulegen, obgleich er dazu in der Lage war") nicht an. Dies bedeutet, dass die blosse Möglichkeit eines Rechtsmittels die mangelhafte Zustellung im Schweizer Vollstreckungsverfahren nicht heilen kann. Massgebend ist die effektive Verteidigungsmöglichkeit im ursprünglichen Verfahren.

Das Bundesgericht betonte, dass der Begriff der Zustellung "rechtzeitig und in einer Weise, dass er sich verteidigen konnte" im LUÜ eine autonome Bedeutung hat. Er ist unabhängig von den Zustellungsregeln des Ursprungsstaats, des Vollstreckungsstaats oder eines Drittstaates. Im Gegensatz zu Art. 27 Ziff. 2 des alten Lugano-Übereinkommens (aLUÜ) verlangt Art. 34 Abs. 2 LUÜ keine formell korrekte Zustellung nach den Verfahrensregeln des Ursprungsstaates. Eine formell fehlerhafte Zustellung hindert die Vollstreckung nur dann, wenn der säumige Beklagte konkret ausser Stande war, am Verfahren teilzunehmen und seine Rechte geltend zu machen. Diese Änderung im revidierten LUÜ sollte den Missbrauchsmöglichkeiten entgegenwirken, die die frühere Forderung nach einer "regelmässigen" Zustellung bot.

2.3. Anwendung auf den konkreten Fall

Die Vorinstanz (Cour de justice) hatte festgestellt, dass die klageeröffnende Schrift der Beschwerdeführerin zwar nicht formell zugestellt worden war, der Anwalt des Intimierten diese Schrift aber der Anwältin der Beschwerdeführerin am 2. November 2020 per E-Mail übermittelt hatte. Die Beschwerdeführerin habe es versäumt zu beweisen, dass der Mangel der formellen Zustellung sie konkret daran gehindert habe, am italienischen Verfahren teilzunehmen und ihre Rechte geltend zu machen.

Das Bundesgericht bestätigte diese Argumentation der Vorinstanz und wies die Rügen der Beschwerdeführerin zurück: * Keine Willkür bei der Sachverhaltsfeststellung: Die Vorinstanz habe nicht festgestellt, dass eine formelle Zustellung erfolgt sei, sondern lediglich eine informelle. Die Rüge, dass nicht auch die Beilagen zur Klageschrift übermittelt wurden, wurde als unerheblich abgewiesen. Auch die Einschätzung des "attentistischen Verhaltens" der Beschwerdeführerin sei nicht willkürlich. * Keine willkürliche Beweislastumkehr: Das Bundesgericht hielt fest, dass die Beweislast für das konkrete Ausserstandesein zur Verteidigung korrekterweise bei der Beschwerdeführerin (als Schuldnerin) lag. * Keine willkürliche Verletzung von Art. 34 Abs. 2 LUÜ oder des rechtlichen Gehörs: Die Vorinstanz hat ihre Entscheidung nachvollziehbar begründet. Die Beschwerdeführerin hatte seit Mai 2020 Kenntnis vom italienischen Verfahren (durch Zustellung der Vorladung zur Verhandlung vom Oktober 2020 und der Ergänzungsschrift des Klägers) und von den zugrundeliegenden Forderungen seit 2018. Sie erhielt die klageeröffnende Schrift im November 2020 informell übermittelt. Trotzdem habe sie keine proaktiven Schritte unternommen, um sich in Italien zu verteidigen (z.B. durch Kontaktaufnahme mit dem Gericht oder Beauftragung eines italienischen Anwalts). Ihre späten E-Mails an die italienischen Gerichte kurz vor der Verhandlung vom Oktober 2020 seien nicht ausreichend gewesen. Sie hätte an der Verhandlung teilnehmen oder sich vertreten lassen können, um ihre Rechte, einschliesslich des Zustellungsmangels, geltend zu machen. Die Erwähnung des späteren, verspäteten Rechtsmittels der Beschwerdeführerin war angesichts des Schweizer Vorbehalts zu Art. 34 Abs. 2 LUÜ irrelevant, wurde aber vom Bundesgericht als nicht entscheidungserheblich angesehen, da die Begründung der kantonalen Instanz zur tatsächlichen Verteidigungsmöglichkeit bereits tragfähig war.

3. Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte

Das Bundesgericht hat die subsidiäre Verfassungsbeschwerde abgewiesen und die definitive Rechtsöffnung bestätigt. Entscheidend war die Auslegung von Art. 34 Abs. 2 LUÜ: 1. Massgeblich ist die tatsächliche Verteidigungsmöglichkeit des säumigen Beklagten, nicht die formelle Korrektheit der Zustellung nach dem Recht des Ursprungsstaates. 2. Die Beweislast, dass die Zustellung nicht rechtzeitig und in einer Weise erfolgte, die eine Verteidigung ermöglichte, liegt beim Schuldner. 3. Im vorliegenden Fall hatte die Beschwerdeführerin trotz anfänglich fehlerhafter formeller Zustellung ausreichend Kenntnis vom Verfahren und den Forderungen, erhielt die Klageschrift informell und hätte sich verteidigen können. Ihr "attentistisches" Verhalten führte dazu, dass sie nicht nachweisen konnte, konkret an der Verteidigung gehindert gewesen zu sein. 4. Der Schweizer Vorbehalt zu Art. 34 Abs. 2 LUÜ (Nichtanwendung der Heilung eines Zustellungsmangels durch spätere Rechtsmitteleinlegung) spielte eine Rolle bei der Bewertung des Verhaltens der Beschwerdeführerin, änderte aber im Ergebnis nichts, da bereits die tatsächliche Verteidigungsmöglichkeit im Vordergrund stand.