Gerne fasse ich das bereitgestellte Urteil des schweizerischen Bundesgerichts detailliert zusammen.
Bundesgericht, I. öffentlich-rechtliche Abteilung, Urteil vom 6. Oktober 2025 (1C_445/2025)
Parteien:
* Beschwerdeführer: A.__, vertreten durch Rechtsanwalt Fabrizio N. Campanile.
* Beschwerdegegner: Bundesamt für Justiz (BJ), Sektion Auslieferungen.
Gegenstand:
Internationale Rechtshilfe in Strafsachen an Italien, Beschwerde gegen das Urteil der Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts (CRP) vom 7. August 2025 (RR.2025.91).
I. Sachverhalt und Vorverfahren
Der italienische Justizminister stellte am 26. November 2024 ein Auslieferungsersuchen an die Schweiz gegen den italienischen Staatsbürger A.__. Ziel war die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe von insgesamt 5 Jahren, 7 Monaten und 10 Tagen. Grundlage hierfür war ein am 22. Dezember 2023 ergangener Beschluss der Staatsanwaltschaft am Tribunale di Firenze über die Vollstreckung von Konkurrenzstrafen aus vier Urteilen:
- Urteil vom 5. Juli 2010: Wegen unterlassener MwSt-Zahlung (5 Monate, 10 Tage Haft). Das BJ lehnte die Auslieferung für dieses Urteil ab.
- Urteil vom 22. Februar 2012: Wegen einfachem Konkurs (6 Monate Haft).
- Urteil vom 6. Dezember 2016: Wegen einfachem Konkurs (8 Monate Haft).
- Urteil vom 14. Oktober 2020: Wegen betrügerischem Konkurs (4 Jahre Haft).
A._ wurde am 31. Januar 2025 im Kanton Aargau auf Basis eines Auslieferungshaftbefehls des BJ verhaftet. Das BJ bewilligte mit Entscheid vom 26. Mai 2025 die Auslieferung von A._ an Italien zur Vollstreckung der Urteile 2, 3 und 4, lehnte sie jedoch für Urteil 1 ab und forderte eine Neuberechnung des Gesamtstrafmasses. Die Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts (CRP) wies mit Entscheid vom 7. August 2025 die Beschwerde von A.__ gegen die Auslieferungsbewilligung ab.
Dagegen erhob A.__ Beschwerde an das Bundesgericht, wobei er beantragte, die Auslieferung für die Urteile 2, 3 und 4 vollumfänglich zu verweigern, eventuell eine Neuberechnung des Strafmasses unter Ausblendung spezifischer Tatvorwürfe oder die Sistierung des Verfahrens bezüglich Urteil 4 zu erwirken. Zudem forderte er die vollständige Verweigerung der Auslieferung wegen der Gefahr einer menschenrechtswidrigen Behandlung im italienischen Strafvollzug, subsidiär unter Auflagen und Garantien, sowie die sofortige Aufhebung der Auslieferungshaft.
II. Rechtliche Würdigung und Begründung des Bundesgerichts
1. Zulässigkeit der Beschwerde (Art. 84 BGG)
Das Bundesgericht prüft von Amtes wegen die Zulässigkeit der Beschwerde. Gemäss Art. 84 Abs. 1 BGG ist die Beschwerde in Auslieferungssachen nur zulässig, wenn es sich um einen besonders wichtigen Fall handelt. Dieser Begriff wird restriktiv ausgelegt. Ein solcher Fall liegt namentlich vor, wenn fundamentale Verfahrensprinzipien verletzt oder schwerwiegende Mängel im ausländischen Verfahren vorliegen (Art. 84 Abs. 2 BGG). Es liegt am Beschwerdeführer, das Vorliegen eines besonders wichtigen Falles darzulegen. Das Bundesgericht verfügt bei der Beurteilung über ein weites Ermessen. Die Ausführungen des Beschwerdeführers zur Begründung eines "besonders wichtigen Falles" wurden vom Bundesgericht im Folgenden detailliert geprüft.
2. Grundsatz der doppelten Strafbarkeit (Urteile 2 und 3)
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Angriff des Beschwerdeführers: A.__ rügte, die italienischen Urteile 2 und 3 seien hinsichtlich des Prinzips der doppelten Strafbarkeit fehlerhaft und willkürlich. Er machte geltend, seine strafrechtliche Verantwortung sei undifferenziert sowohl für seine Rolle als faktischer Verantwortlicher ("dominus") als auch als formelles Organ (alleiniger Geschäftsführer) der später insolventen Gesellschaften bejaht worden. Nach Schweizer Recht (Art. 725b Abs. 3 OR) sei die Anzeigepflicht bei Überschuldung ausschliesslich dem Verwaltungsrat und nicht einem faktischen Organ auferlegt. Das italienische Recht unterscheide hier nicht, wodurch die doppelte Strafbarkeit fehle oder das Strafmass nicht aufteilbar sei. Das BJ und die CRP hätten diese Frage nicht differenziert und autonom geprüft.
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Begründung des Bundesgerichts:
- Die CRP hat die doppelte Strafbarkeit geprüft und festgestellt, dass die relevanten Fakten, unter Vornahme der notwendigen Transposition (Vergleich der Sachverhalte, nicht der Tatbestände, mit Schweizer Recht), in der Schweiz als ungetreue Geschäftsführung (Art. 165 StGB) strafbar wären.
- Entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers gilt Art. 165 StGB nach ständiger Doktrin und Rechtsprechung auch für ein faktisches Organ und nicht nur für ein formelles Organ einer Gesellschaft. Die CRP verwies hierzu auf Art. 29 StGB, der die Zurechnung von Pflichtverletzungen an natürliche Personen bei juristischen Personen, Gesellschaften oder Einzelfirmen regelt. Diese Norm erstreckt die strafrechtliche Verantwortlichkeit explizit auf Personen, die als Organ oder Mitglied eines Organs handeln, als Gesellschafter, als Mitarbeiter mit autonomen Entscheidungskompetenzen oder als effektive Führungsperson, ohne formelles Organ zu sein.
- Ergänzend führte die CRP aus, dass prima facie auch der Tatbestand der ungetreuen Verwaltung (Art. 158 StGB) in Betracht kommen könnte.
- Das Bundesgericht hielt fest, dass der Beschwerdeführer es unterlassen habe, sich mit diesen entscheidenden, unabhängigen und an sich schon für den Ausgang der Sache ausreichenden Begründungen auseinanderzusetzen, was gemäss Art. 42 Abs. 2 BGG zur Unzulässigkeit der Beschwerde führe.
3. Doppelte Strafbarkeit und Säumnisurteil (Urteil 4)
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Angriff des Beschwerdeführers: A.__ rügte, es fehle eine Prüfung der doppelten Strafbarkeit für das kontumaziale Urteil 4. Dies verletze das rechtliche Gehör und die Begründungspflicht, da die komplexen wirtschaftlichen Prozesse, die zum betrügerischen Konkurs geführt hätten, von den Schweizer Behörden nicht geprüft worden seien. Auch sei nicht berücksichtigt worden, dass er für einen bestimmten Zeitraum nur die Rolle eines faktischen Organs der insolventen Gesellschaften innegehabt habe. Er stellte zudem einen Antrag auf Sistierung des Auslieferungsverfahrens, da er am 3. März 2025 in Italien einen Antrag auf Wiederherstellung in den vorigen Stand ("istanza di restituzione nel termine" gemäss Art. 175 C.p.p. italiano) gestellt habe, um ein neues Verfahren zu erwirken. Bei Annahme dieses Antrags würde die Vollstreckung des Urteils ausgesetzt.
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Begründung des Bundesgerichts:
- Im Rahmen der Prüfung der doppelten Strafbarkeit hat der Schweizer Auslieferungsrichter das ausländische Strafverfahren nicht neu aufzurollen. Er prüft lediglich, ob die in der Rechtshilfeerklärung oder den ausländischen Urteilen dargelegten Fakten auch in der Schweiz strafbar wären. Es ist nicht seine Aufgabe, das Strafmass nach Schweizer Recht zu bemessen oder die ausländischen Urteile materiell (hinsichtlich objektiver und subjektiver Voraussetzungen) zu überprüfen.
- Entscheidend ist, dass die Taten dem Grunde nach auch in der Schweiz strafbar sein könnten. Die Frage, inwieweit die Anwendung von Art. 29 StGB das Strafmass beeinflusst hätte, ist im vorliegenden Kontext unerheblich. Die vom Beschwerdeführer aufgeworfenen materiellen Fragen gehen über den Streitgegenstand hinaus und begründen keinen besonders wichtigen Fall im Sinne von Art. 84 BGG. Das Bundesgericht ist keine Appellationsinstanz, die die Begründetheit ausländischer Verurteilungen objektiv und subjektiv neu bewertet.
- Hinsichtlich des Antrags auf Sistierung wegen des Wiederherstellungsgesuchs in Italien: Das Bundesgericht sieht keinen Grund, das Auslieferungsverfahren auszusetzen. Es ist davon auszugehen, dass die italienischen Behörden diese Umstände berücksichtigen würden, falls das Gesuch angenommen und das Urteil ausgesetzt würde. Der Beschwerdeführer legt nicht dar, warum dies nicht der Fall sein sollte. Es liegt kein Grundsatzfall vor, der eine Sistierung rechtfertigen würde.
4. Haftbedingungen in Italien (Art. 3 EMRK)
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Angriff des Beschwerdeführers: A.__ verlangte die Entwicklung oder Änderung der Praxis, wonach die Auslieferung an Italien grundsätzlich nicht von der Einholung von Garantien abhängig gemacht wird. Er warf dem BJ und der CRP vor, die aktuelle Situation des Strafvollzugs in Italien nicht umfassend geprüft und keine Ersatzmassnahmen zur Haftentlassung in Erwägung gezogen zu haben.
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Begründung des Bundesgerichts:
- Rechtliche Grundlagen und Prüfschwelle: Gemäss Art. 2 Abs. 2 lit. a und d IRSG ist ein Rechtshilfeersuchen unzulässig, wenn Grund zur Annahme besteht, dass das ausländische Verfahren nicht den Verfahrensgrundsätzen der EMRK oder des UNO Paktes II entspricht oder andere schwerwiegende Mängel aufweist. Gemäss Art. 25 Abs. 3 BV und Art. 3 EMRK darf niemand in einen Staat überstellt werden, in dem er Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung ausgesetzt wäre. Der Beschwerdeführer muss glaubhaft darlegen, dass für ihn persönlich und unter den konkreten Umständen ein objektives und ernstes Risiko einer schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung besteht, nicht nur ein theoretisches Risiko.
- Dreistufiges Modell des Bundesgerichts: Das Bundesgericht unterscheidet drei Kategorien von Staaten:
- Rechtsstaatliche Staaten (z.B. westliche Länder): In der Regel kein Risiko im Sinne von Art. 3 EMRK; Auslieferung ohne Garantien.
- Staaten mit ernsthaften Risiken: Risiken können durch diplomatische Garantien minimiert werden, sodass nur ein theoretisches Risiko verbleibt.
- Staaten mit unminimierbaren Risiken: Risiken sind auch mit Garantien nicht zu beherrschen; Auslieferung wird verweigert.
- Situation Italien: Nach dem Urteil des EGMR Torreggiani u.a. gegen Italien (8. Januar 2013) hat das Bundesgericht in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass die Auslieferung an Italien grundsätzlich nicht von Garantien abhängig zu machen ist. Dies aufgrund der zahlreichen Reformen Italiens zur Reduzierung der Überbelegung in Gefängnissen und der Tatsache, dass Italien ein EMRK-Vertragsstaat mit angemessenen Rechtsbehelfen ist.
- Die CRP stellte fest, dass die vom Beschwerdeführer zitierten CPT-Berichte kritische Punkte bezüglich der Centri di permanenza per il rimpatrio (CPR) betreffen, nicht jedoch das allgemeine Strafvollzugssystem. Die CRP nahm die Kritik der NGO Antigone und die Äusserungen des italienischen Staatspräsidenten Mattarella bezüglich allgemeiner Haftbedingungen zur Kenntnis, befand aber, dass der Beschwerdeführer nicht konkret nachgewiesen habe, dass er unter den spezifischen Umständen seines Falles (als italienischer Staatsbürger ohne gesundheitliche Probleme) einem ernsthaften und konkreten Risiko einer menschenrechtswidrigen Behandlung in Italien ausgesetzt wäre. Das CPT stehe zudem in engem Kontakt mit den italienischen Behörden zur Problemlösung.
- Das Bundesgericht bestätigt diese Praxis. Die Auslieferung an Italien wird weiterhin nicht von formellen Garantien abhängig gemacht. Das BJ hat die Situation in den italienischen Gefängnissen jedoch weiterhin zu überwachen.
5. Auslieferungshaft
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Angriff des Beschwerdeführers: A.__ rügte die gängige Praxis, wonach die Auslieferungshaft während des gesamten Verfahrens aufrechterhalten wird, sofern die Auslieferung nicht offensichtlich unzulässig ist. Er forderte die unverzügliche Aufhebung der Haft, eventuell unter Anordnung geeigneter Ersatzmassnahmen (z.B. Electronic Monitoring).
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Begründung des Bundesgerichts: Der Beschwerdeführer legt keine Gründe dar, warum die seit langem bestehende Rechtsprechung zur Auslieferungshaft geändert werden sollte. Die Anordnung von Ersatzmassnahmen wie Electronic Monitoring setzt ebenfalls das Vorliegen eines "besonders wichtigen Falles" voraus, welcher hier nicht gegeben ist. Mit dem Entscheid über die Auslieferung wird der Antrag auf Haftentlassung ohnehin gegenstandslos.
III. Fazit des Bundesgerichts
Die Beschwerde ist unzulässig. Die Gerichtskosten werden dem Beschwerdeführer auferlegt.
IV. Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte
- Zulässigkeit: Die Beschwerde wurde als unzulässig erachtet, da der Beschwerdeführer keinen "besonders wichtigen Fall" gemäss Art. 84 BGG glaubhaft darlegen konnte.
- Doppelte Strafbarkeit: Das Bundesgericht bestätigte die doppelte Strafbarkeit der dem Beschwerdeführer vorgeworfenen Konkurstatbestände, da diese als ungetreue Geschäftsführung (Art. 165 StGB) auch für faktische Organe (Art. 29 StGB) in der Schweiz strafbar wären. Eine materielle Neubewertung des ausländischen Urteils ist im Auslieferungsverfahren nicht vorgesehen.
- Säumnisurteil & Sistierung: Eine Sistierung des Auslieferungsverfahrens wegen eines italienischen Antrags auf Wiederherstellung in den vorigen Stand wurde abgelehnt, da dies keinen "besonders wichtigen Fall" darstellt und die italienischen Behörden entsprechende Entwicklungen selbst berücksichtigen würden.
- Haftbedingungen in Italien: Das Bundesgericht hält an seiner Praxis fest, dass die Auslieferung an Italien grundsätzlich nicht von der Einholung formeller Garantien bezüglich der Haftbedingungen abhängig zu machen ist, da Italien EMRK-Vertragsstaat ist und Reformen durchgeführt hat. Der Beschwerdeführer konnte kein konkretes, ernsthaftes und objektives Risiko für seine Person darlegen.
- Auslieferungshaft: Der Antrag auf Aufhebung der Auslieferungshaft wurde abgewiesen, da keine Gründe für eine Abweichung von der gängigen Praxis dargelegt wurden und die Frage mit dem Hauptentscheid gegenstandslos wird.