Zusammenfassung von BGer-Urteil 4A_129/2024 vom 15. September 2025

Es handelt sich um ein experimentelles Feature. Es besteht keine Gewähr für die Richtigkeit der Zusammenfassung.

Gerne fasse ich das bereitgestellte Urteil des schweizerischen Bundesgerichts (BGer 4A_129/2024 vom 15. September 2025) detailliert zusammen:

1. Einleitung und Parteien

Das Urteil betrifft einen Rekurs in Zivilsachen gegen einen Entscheid des Kantonsgerichts Wallis betreffend die definitive Rechtsöffnung. Die Rekurrentin, A._ SA (eine in der Schweiz ansässige Gesellschaft), wehrte sich gegen die definitive Rechtsöffnung für eine Forderung, die auf einem rumänischen Urteil basiert. Die Intimierte, B._ S.R.L. (eine in Rumänien ansässige Gesellschaft), hatte die Rechtsöffnung beantragt. Der Streitwert überstieg CHF 30'000.

2. Sachverhalt und Vorinstanzen

  • Rumänisches Urteil: Ein rumänisches Gericht (Tribunalul Specializat de Cluj, Urteil vom 14. Juli 2017, reformiert durch das Berufungsgericht Cluj am 3. November 2020) verurteilte A._ SA zur Zahlung von EUR 56'178 (Wert der gelieferten Waren und Transportkosten) sowie EUR 16'080.29 an Verzugszinsen bis zum 9. Juni 2016. Zusätzlich wurde A._ SA zur Zahlung von Verzugszinsen in Höhe von 0.15% pro Tag auf den Betrag von EUR 56'178 ab dem 10. Juni 2016 verurteilt. Diese Zinspflicht basierte auf Art. 13 eines Kaufvertrags, der vorsah, dass die Zinsen den geschuldeten Betrag übersteigen könnten. Die rumänischen Gerichte schienen diese Klausel ohne spezifische Einwände der A.__ SA angewendet zu haben. Die von beiden Parteien gegen dieses Urteil eingelegten Rechtsmittel wurden vom Obersten Kassations- und Justizgericht Rumäniens am 24. Mai 2022 abgewiesen.
  • Schweizerische Betreibung: B._ S.R.L. leitete in der Schweiz eine Betreibung gegen A._ SA ein, welche diese in vollem Umfang bestritt.
  • Vorinstanzen: Der Bezirksrichter von Sierre erteilte am 27. Januar 2023 die definitive Rechtsöffnung für einen Teilbetrag und einen Verzugszins von 35% pro Jahr auf CHF 57'470 ab dem 10. Juni 2016. Das Kantonsgericht Wallis bestätigte am 24. Januar 2024 diesen Entscheid im Wesentlichen und präzisierte die definitive Rechtsöffnung auf CHF 16'450 und CHF 57'470, jeweils mit Zinsen von 0.15% pro Tag auf CHF 57'470 ab dem 10. Juni 2016.

3. Rechtliche Problematik und Rügen der Rekurrentin

Die Kernfrage des Falles drehte sich um die Anerkennung des rumänischen Urteils in der Schweiz und die damit verbundene Frage, ob die vereinbarten Verzugszinsen von 0.15% pro Tag dem schweizerischen Ordre Public widersprechen. Das Bundesgericht hatte zu klären, ob von einer Partei, die die Anerkennung eines ausländischen Urteils in der Schweiz mit der Begründung des Ordre Public (Art. 34 Ziff. 1 Lugano-Übereinkommen, LugÜ) bestreitet, verlangt werden kann, dass sie diesen Einwand bereits im Ursprungsstaat geltend gemacht hat.

Die Rekurrentin rügte im Wesentlichen zwei Punkte:

  • Verstoss gegen den materiellen Ordre Public (Art. 34 Ziff. 1 LugÜ): Sie machte geltend, der in Rumänien zugesprochene Zins von 0.15% pro Tag sei exzessiv und verstosse gegen den schweizerischen materiellen Ordre Public, insbesondere wegen der langen Verfahrensdauer (fast 7 Jahre), die den Zins diskriminierend und konfiskatorisch mache.
  • Verstoss gegen den prozessualen Ordre Public (Art. 34 Ziff. 1 LugÜ): Sie behauptete, in Rumänien ihrer Möglichkeit beraubt worden zu sein, Widerklage zu erheben, was ebenfalls einen Verstoss gegen den prozessualen Ordre Public darstelle.

4. Begründung des Bundesgerichts

Das Bundesgericht prüfte die Rügen der Rekurrentin und kam zu folgenden Schlussfolgerungen:

4.1. Zum Verstoss gegen den materiellen Ordre Public (Zinsen)

  • Grundlagen der Anerkennung: Gemäss Art. 80 Abs. 1 SchKG kann der Gläubiger, der im Besitz eines vollstreckbaren Urteils ist, die definitive Rechtsöffnung beantragen. Ein ausländisches Urteil gilt als Rechtsöffnungstitel, wenn es nach einem internationalen Abkommen (hier LugÜ) oder dem IPRG in der Schweiz vollstreckbar ist. Der Schuldner kann die im Abkommen oder IPRG vorgesehenen Einwände geltend machen (Art. 81 Abs. 3 SchKG). Art. 34 Ziff. 1 LugÜ besagt, dass ein Urteil nicht anerkannt wird, wenn die Anerkennung dem Ordre Public des ersuchten Staates offensichtlich zuwiderläuft.
  • Restriktive Auslegung des Ordre Public: Das Bundesgericht betont, dass die Ordre-Public-Klausel eine Ausnahmeregelung darstellt und restriktiv auszulegen ist, insbesondere im Bereich der Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Urteile (sog. "abgeschwächter Ordre Public"). Die Anerkennung ist die Regel. Ein ausländisches Urteil kann sowohl wegen seines Inhalts (materieller Ordre Public) als auch wegen des Verfahrens (prozessualer Ordre Public) mit dem schweizerischen Ordre Public unvereinbar sein (vgl. BGE 143 III 404 E. 5.2.3; 142 III 180 E. 3.1).
  • Vorleistungsobliegenheit und Rezeption der EuGH-Rechtsprechung: Das Bundesgericht hatte noch nicht entschieden, ob eine Partei, die die Anerkennung eines ausländischen Urteils wegen eines Verstosses gegen den materiellen Ordre Public bestreitet, diesen Einwand bereits im Ursprungsstaat hätte geltend machen müssen. Das Bundesgericht orientiert sich in der Auslegung des LugÜ grundsätzlich an der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) zum Brüsseler Übereinkommen von 1968 und zur Brüssel-I-Verordnung. Der EuGH hat in den Fällen Diageo Brands und Meroni entschieden, dass das Anerkennungssystem auf gegenseitigem Vertrauen beruht. Dies impliziert, dass die Parteien grundsätzlich alle im Ursprungsstaat verfügbaren Rechtsmittel ausschöpfen müssen, um eine mögliche Verletzung des Ordre Public im Vorfeld zu verhindern, es sei denn, besondere Umstände machten die Ausübung dieser Rechtsmittel zu schwierig oder unmöglich.
  • Kritik und Widerlegung durch das Bundesgericht: Ein Teil der schweizerischen Lehre kritisiert diese EuGH-Rechtsprechung, da sie auf Prinzipien des EU-Rechts basiere, die die Schweiz nicht binden, und eine Analogie zu Art. 34 Ziff. 2 LugÜ (Einwand der Versäumnis der Verteidigungsmöglichkeiten) schaffe, gegen den die Schweiz einen Vorbehalt gemacht hat. Das Bundesgericht widerspricht dieser Kritik:
    • Das LugÜ beruht ebenfalls auf einem hohen Mass an gegenseitigem Vertrauen in die Rechtssysteme der Vertragsstaaten (vgl. BGE 14A_547/2022 vom 16. Januar 2024 E. 5.4.3.3).
    • Der EuGH hat die Vorleistungsobliegenheit durch die Bedingung "besondere Umstände, die die Ausübung von Rechtsmitteln zu schwierig oder unmöglich machen" klar abgegrenzt, was sich von der strengeren Formulierung in Art. 34 Ziff. 2 LugÜ ("wenn es ihm möglich war") unterscheidet. Es bestehe daher keine unzulässige Analogie.
    • Die Obliegenheit, Rechtsmittel im Ursprungsstaat zu nutzen und entsprechende Rügen vorzubringen, kann auch auf dem prozessualen Grundsatz von Treu und Glauben basieren. Es wäre missbräuchlich, sich im Ursprungsstaat nicht effektiv zu verteidigen und erst im Anerkennungsverfahren die Einwände vorzubringen.
  • Fazit zur Vorleistungsobliegenheit: Sofern keine besonderen Umstände die Rechtsmittelausschöpfung im Ursprungsstaat zu schwierig oder unmöglich machen, obliegt es einer Partei, die sich auf den materiellen Ordre Public gemäss Art. 34 Ziff. 1 LugÜ beruft, die entsprechenden Rügen bereits im Ursprungsstaat geltend gemacht zu haben.
  • Anwendung auf den Fall: Die Rekurrentin hatte laut Kantonsgericht die Zinsen in den rumänischen Instanzen nicht bestritten. Sie konnte auch nicht darlegen, dass diese Feststellung willkürlich sei oder dass die rumänischen Gerichte die Gültigkeit der Zinsen spezifisch geprüft hätten. Die Rekurrentin kann sich nicht darüber beschweren, dass die rumänischen Gerichte die Möglichkeit einer Reduzierung der Konventionalstrafe (Art. 1541 rumänisches Zivilgesetzbuch) nicht genutzt hätten; es oblag ihr, diesen Einwand im rumänischen Verfahren vorzubringen. Da sie ihre Rechtsmittel in Rumänien zwar genutzt, die konkrete Rüge bezüglich der Zinsen aber nicht vorgebracht hat und auch nicht darlegt, dass die rumänischen Gerichte diese Rüge nicht hätten prüfen können, hat sie der Vorleistungsobliegenheit nicht genügt. Diese Rüge wurde daher abgewiesen.

4.2. Zum Verstoss gegen den prozessualen Ordre Public (Widerklage)

  • Grundsatz der materiellen Erschöpfung der Rügen: Gemäss Art. 75 Abs. 1 BGG ist der Rekurs nur gegen Entscheide kantonaler Letztinstanzen zulässig, wobei die Rechtsmittel nicht nur formal, sondern auch materiell ausgeschöpft sein müssen. Rügen, die dem Bundesgericht unterbreitet werden, müssen bereits vor der Vorinstanz geltend gemacht worden sein. Ein blosser Verweis auf erstinstanzliche Vorbringen genügt der Begründungspflicht im Berufungs- oder Rekursverfahren nicht (Art. 311 Abs. 1 ZPO, Art. 321 Abs. 1 ZPO).
  • Anwendung auf den Fall: Das Kantonsgericht hatte festgestellt, dass die Rekurrentin in ihrer Antwort auf den Rekurs der Intimierten lediglich auf ihre Stellungnahme im Rechtsöffnungsverfahren zu den angeblichen Verfahrensmängeln im rumänischen Verfahren verwiesen hatte. Da ein solcher Verweis den Begründungsanforderungen nicht genügt, hatte das Kantonsgericht die Kritik der Rekurrentin als unzulässig erachtet. Die Rekurrentin rügte vor dem Bundesgericht nicht, dass diese Feststellung des Kantonsgerichts betreffend die unzureichende Begründung willkürlich sei. Ihr Vorbringen war daher bereits aus diesem Grund unzulässig (Art. 42 Abs. 2 BGG).
  • Unzulässigkeit neuer Beweismittel und Rügen: Ein von der Rekurrentin im Replikverfahren vor Bundesgericht vorgelegtes Rechtsgutachten vom 28. März 2024, welches eine Verletzung von Art. 6 EMRK im Zusammenhang mit der Widerklage thematisierte, wurde vom Bundesgericht als verspätet und somit unzulässig erachtet, da es nach Ablauf der Rekursfrist eingereicht wurde (BGE 150 III 89 E. 3.1). Auch die Rüge der Verletzung von Art. 6 EMRK war sowohl wegen fehlender materieller Erschöpfung der Rügen als auch wegen Verspätung unzulässig.

5. Entscheid und Kostenverteilung

Das Bundesgericht wies den Rekurs, soweit er zulässig war, ab. Die Gerichtskosten (CHF 4'000) und die Parteientschädigung (CHF 5'000) wurden der Rekurrentin auferlegt.

Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:

  1. Anerkennung ausländischer Urteile: Das Bundesgericht bekräftigt die restriktive Auslegung des Ordre-Public-Vorbehalts (Art. 34 Ziff. 1 LugÜ) im Anerkennungsverfahren.
  2. Vorleistungsobliegenheit: Eine Partei, die die Anerkennung eines ausländischen Urteils wegen eines Verstosses gegen den materiellen Ordre Public (hier: exzessive Zinsen) verhindern will, muss diesen Einwand grundsätzlich bereits im Ursprungsstaat geltend gemacht haben.
  3. EuGH-Rechtsprechung: Das Bundesgericht rezipiert die Rechtsprechung des EuGH zur Vorleistungsobliegenheit im Anerkennungsrecht, die auf dem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens und dem prozessualen Grundsatz von Treu und Glauben beruht.
  4. Exzessive Zinsen im Ursprungsstaat: Die Rekurrentin hatte die Höhe der Zinsen im rumänischen Verfahren nicht bestritten und konnte nicht darlegen, dass dies unmöglich oder zu schwierig gewesen wäre. Ihr Einwand gegen den materiellen Ordre Public wurde daher abgewiesen.
  5. Prozessualer Ordre Public und Rügen: Die Rüge der Rekurrentin bezüglich der Verletzung des prozessualen Ordre Public (fehlende Widerklagemöglichkeit) wurde abgewiesen, da sie vor der kantonalen Instanz nicht ausreichend begründet worden war (materielle Erschöpfung der Rügen). Neue Rügen und Beweismittel im Bundesgerichtsverfahren waren unzulässig.