Zusammenfassung von BGer-Urteil 7B_1394/2024 vom 4. September 2025

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Gerne fasse ich das bereitgestellte Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts (7B_1394/2024 vom 4. September 2025) detailliert zusammen.

Detaillierte Zusammenfassung des Bundesgerichtsentscheids 7B_1394/2024

1. Einleitung und Verfahrensgegenstand Das vorliegende Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts betrifft eine strafrechtliche Beschwerde wegen Verletzung einer Unterhaltspflicht gemäss Art. 217 Abs. 1 StGB. Der Beschwerdeführer, A.__, wehrte sich gegen das Urteil des Kantonsgerichts Waadt (Cour d'appel pénale) vom 28. Februar 2024, das ihn wegen Nichtleistung von Kindesunterhaltsbeiträgen zu einer Freiheitsstrafe von 50 Tagen verurteilt hatte. Er beantragte einen Freispruch.

2. Sachverhalt und Vorverfahren Der Beschwerdeführer ist Vater des im Jahr 2011 geborenen B.__. Gemäss einem zivilrechtlichen Urteil des Genfer Kantonsgerichts vom 11. Juli 2014 war er verpflichtet, monatliche Unterhaltsbeiträge für seinen Sohn zu leisten, beginnend mit 550 CHF. Zwischen Mai 2018 und August 2018 kam der Beschwerdeführer dieser Verpflichtung nicht nach, woraufhin eine Strafanzeige eingereicht wurde.

Die berufliche Laufbahn des Beschwerdeführers war wechselhaft. Er absolvierte eine Kochlehre, war aber seit 2005 nicht mehr längerfristig in einer abhängigen Erwerbstätigkeit. Seit Juni 2013 bezog er – mit einer kurzen Unterbrechung im Jahr 2015 – Sozialhilfe. Vom 17. Juli bis 30. November 2018 war er zudem arbeitsunfähig.

Nach diversen kantonalen Instanzen (Strafbefehl, Polizeigericht, Kantonsgericht) hatte das Bundesgericht die Sache bereits mit Urteil 6B_679/2022 vom 30. März 2023 an die Vorinstanz zurückgewiesen. Die Vorinstanz wurde angewiesen, den Sachverhalt bezüglich der tatsächlich erzielten Einkünfte, der potentiell erzielbaren Einkünfte (hypothetisches Einkommen) sowie der unabdingbaren Ausgaben des Beschwerdeführers für den Zeitraum vom 1. Mai bis 16. Juli 2018 gemäss Art. 112 Abs. 1 lit. b BGG zu ergänzen und einer umfassenden Beweiswürdigung zu unterziehen. Das Kantonsgericht Waadt bekräftigte daraufhin mit seinem Urteil vom 28. Februar 2024 die Verurteilung des Beschwerdeführers.

3. Rechtliche Erwägungen und Begründung des Bundesgerichts

3.1. Bindungswirkung des Rückweisungsentscheids Das Bundesgericht hält fest, dass es im aktuellen Verfahren an seinen früheren Rückweisungsentscheid gebunden ist (vgl. BGE 148 I 127 E. 3.1). Daher sind lediglich die im ersten Bundesgerichtsentscheid offengehaltenen Fragen betreffend Einkommen, potentielles Einkommen und Ausgaben des Beschwerdeführers für den relevanten Zeitraum vom 1. Mai bis 16. Juli 2018 Gegenstand der erneuten Überprüfung.

3.2. Willkürliche Sachverhaltsfeststellung (Art. 9 Cst.) Der Beschwerdeführer rügt eine willkürliche Sachverhaltsfeststellung. Das Bundesgericht präzisiert, dass Willkür in der Beweiswürdigung nur vorliegt, wenn die Behörde relevante Beweismittel ohne stichhaltigen Grund unberücksichtigt lässt, deren Bedeutung und Tragweite offensichtlich verkennt oder unhaltbare Schlussfolgerungen zieht (BGE 150 IV 360 E. 3.2.1). Im vorliegenden Fall kritisiert der Beschwerdeführer jedoch nicht die vom Kantonsgericht festgestellten konkreten Einkünfte (2'160 CHF/Monat Sozialhilfe) und Ausgaben (2'770 CHF/Monat Existenzminimum), sondern die Anrechnung eines hypothetischen Einkommens. Die Frage der Anrechnung eines hypothetischen Einkommens ist eine Rechtsfrage, auch wenn sie auf faktischen Elementen basiert (BGE 143 III 233 E. 3.2). Das Bundesgericht ist daher an die von der Vorinstanz festgestellten tatsächlichen Einnahmen und Ausgaben gebunden.

3.3. Verletzung einer Unterhaltspflicht und Anrechnung eines hypothetischen Einkommens (Art. 217 Abs. 1 StGB)

  • Voraussetzungen der Strafbarkeit: Gemäss Art. 217 Abs. 1 StGB macht sich strafbar, wer eine familiäre Unterhaltspflicht nicht erfüllt, obwohl er die Mittel dazu hat oder haben könnte. Letzteres betrifft das sogenannte hypothetische Einkommen. Der Täter muss über genügende Mittel verfügen oder sie sich mit zumutbarem Aufwand beschaffen können (BGE 126 IV 131 E. 3a). Dabei ist zu prüfen, ob die Person die ihr gebotenen Erwerbsmöglichkeiten nicht wahrnimmt und ob die Wahrscheinlichkeit, dass die Person ein höheres Einkommen erzielen könnte, ernsthaft ist. Die individuellen Fähigkeiten des Schuldners sowie die Lage auf dem Arbeitsmarkt sind zu berücksichtigen (BGE 114 IV 124 E. 3b/aa). Der Strafrichter ist bezüglich des Bestehens und der Höhe der zivilrechtlichen Unterhaltsbeiträge an das Zivilurteil gebunden, hat aber die tatsächlichen oder potentiell erzielbaren finanziellen Verhältnisse des Schuldners eigenständig zu ermitteln.

  • Begründung der Vorinstanz für hypothetisches Einkommen: Die Vorinstanz hatte dem Beschwerdeführer ein hypothetisches monatliches Nettoeinkommen von 3'471 CHF angerechnet (entsprechend 4'000 CHF brutto), obwohl er tatsächlich nur 2'160 CHF Sozialhilfe bezog. Dies begründete sie mit:

    1. einer "Aussage" des Beschwerdeführers vom 9. April 2018, wonach er 4'500 CHF/Monat verdienen könne;
    2. dem Schweizer Mediansalär von 6'538 CHF und dem ersten Dezil der Lohnempfänger von 4'302 CHF im Jahr 2018 (gemäss BFS);
    3. seiner Ausbildung und seinem beruflichen Werdegang.
  • Widerlegung durch das Bundesgericht: Das Bundesgericht erachtet diese Begründung als unzureichend und willkürlich:

    1. "Aussage" des Beschwerdeführers: Die Vorinstanz bezog sich auf einen Finanzbericht der Polizei, nicht auf ein Anhörungsprotokoll. Dieser Bericht, der vom Beschwerdeführer unterzeichnet wurde, vermerkt explizit, dass er arbeitslos ist. Eine blosse Schätzung eines potenziellen Einkommens ohne weitere Begründung in einem Polizeibericht ist nicht ausreichend, um die tatsächliche Fähigkeit, dieses Einkommen zu erzielen, nachzuweisen.
    2. Statistische Lohnangaben: Die Heranziehung des ersten Dezils der Lohnempfänger ist "lebenserfahrungswidrig" für eine Person, die, wie der Beschwerdeführer, seit vielen Jahren dauerhaft vom Arbeitsmarkt entfernt ist und Sozialhilfe bezieht. Das Bundesgericht weist darauf hin, dass im Mai 2018 die Arbeitslosenquote in der Genferseeregion 7.1% betrug. Unter diesen Umständen ist es nicht ernsthaft anzunehmen, dass der Beschwerdeführer ohne Weiteres ein Bruttoeinkommen von 4'000 CHF hätte erzielen können.
    3. Gesamtwürdigung: Die langjährige Ablösung vom Arbeitsmarkt, der ununterbrochene Sozialhilfebezug seit 2013 und die unmittelbar nach dem relevanten Zeitraum attestierte Arbeitsunfähigkeit machen es unwahrscheinlich, dass der Beschwerdeführer in der Lage gewesen wäre, ein höheres Einkommen als seine Sozialhilfeleistungen zu erzielen. Es gibt keine konkreten und präzisen Anhaltspunkte, die eine ernsthafte Wahrscheinlichkeit für ein höheres Einkommen belegen würden.
  • Schlussfolgerung zur Unterhaltspflichtverletzung: Das Bundesgericht kommt zum Schluss, dass dem Beschwerdeführer für den Zeitraum vom 1. Mai bis 16. Juli 2018 kein hypothetisches Einkommen angerechnet werden darf. Mit seinem tatsächlichen monatlichen Einkommen von 2'160 CHF und seinen anerkannten Ausgaben von 2'270 CHF (vor Berücksichtigung der Krankenkassenprämie und der Unterhaltsbeiträge) verfügte er über unzureichende Mittel, um die Unterhaltsbeiträge für seinen Sohn zu leisten. Die Voraussetzungen für eine Verurteilung wegen Verletzung einer Unterhaltspflicht sind somit nicht gegeben.

4. Entscheid des Bundesgerichts Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut und reformiert das Urteil der Vorinstanz. Der Beschwerdeführer A.__ wird vom Vorwurf der Verletzung einer Unterhaltspflicht für den Zeitraum vom 1. Mai bis 31. August 2018 freigesprochen. Die Sache wird zur Neuregelung der Kosten und Entschädigungen des kantonalen Verfahrens an die Vorinstanz zurückgewiesen. Dem Beschwerdeführer wird eine Parteientschädigung zu Lasten des Kantons Waadt zugesprochen; Gerichtskosten für das Bundesgerichtsverfahren werden nicht erhoben.

5. Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte

  • Kernfrage: Die Anrechnung eines hypothetischen Einkommens bei der Beurteilung einer Verletzung der Unterhaltspflicht (Art. 217 Abs. 1 StGB).
  • Voraussetzungen hypothetisches Einkommen: Eine Anrechnung ist nur zulässig, wenn die Person mit zumutbarem Aufwand eine höhere Erwerbstätigkeit hätte ausüben können und eine ernsthafte Wahrscheinlichkeit für ein höheres Einkommen besteht, unter Berücksichtigung individueller Fähigkeiten und des Arbeitsmarktes.
  • Bundesgerichtliche Kritik an Vorinstanz: Die Vorinstanz hat die Anrechnung des hypothetischen Einkommens des Beschwerdeführers unzureichend begründet. Weder ein vager Polizeibericht noch statistische Durchschnittslöhne sind für eine Person, die seit Langem arbeitslos ist und Sozialhilfe bezieht, ausreichend, um ein höheres Einkommen als realisierbar anzunehmen.
  • Ergebnis: Da dem Beschwerdeführer kein hypothetisches Einkommen angerechnet werden kann und seine tatsächlichen Einkünfte seine unabdingbaren Ausgaben nicht deckten, fehlten ihm die Mittel zur Erfüllung seiner Unterhaltspflicht.
  • Urteilsspruch: Das Bundesgericht sprach den Beschwerdeführer vom Vorwurf der Verletzung der Unterhaltspflicht für den relevanten Zeitraum frei.