Zusammenfassung von BGer-Urteil 8C_560/2024 vom 27. August 2025

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Detaillierte Zusammenfassung des Urteils 8C_560/2024 des Schweizerischen Bundesgerichts Einleitung

Das vorliegende Urteil des Bundesgerichts, IV. öffentlich-rechtliche Abteilung, vom 27. August 2025, behandelt die Beschwerde von A.__ (Beschwerdeführer) gegen das Verwaltungsgericht des Kantons Bern und die IV-Stelle Bern (Beschwerdegegnerin). Im Zentrum des Verfahrens steht die Frage des Rentenanspruchs in der Invalidenversicherung (IV), insbesondere die Anwendung der Schadenminderungspflicht im Kontext eines Abhängigkeitssyndroms. Streitig ist, ob die von der IV-Stelle angeordnete, kontrollierte Suchtmittelabstinenz zumutbar und geeignet war, die Arbeitsfähigkeit des Beschwerdeführers zu steigern, und ob die Einstellung der Invalidenrente ab dem 1. Mai 2023 rechtens erfolgte.

Sachverhalt

A.__, geboren 1982, meldete sich im Jahr 2019 erneut bei der IV-Stelle Bern zum Leistungsbezug an, wobei er eine rezidivierende Erschöpfungsdepression, chronische Schmerzen, ein Glaukom, Schlafstörungen und Migräne geltend machte. Bereits im Jahr 2004 hatte er eine erfolglose Anmeldung getätigt.

Nach anfänglichen Abklärungen forderte die IV-Stelle den Versicherten im Oktober 2021 erstmals auf, schriftlich eine Abstinenz von Alkohol, Cannabis und anderen Suchtmitteln zu bestätigen und sich Laborkontrollen zu unterziehen, unter Hinweis auf seine Schadenminderungspflicht. Dem kam der Beschwerdeführer nicht nach.

In der Folge veranlasste die IV-Stelle eine polydisziplinäre Begutachtung durch die SMAB AG St. Gallen (MEDAS). Das Gutachten vom 7. Juni 2022 diagnostizierte unter anderem ein Abhängigkeitssyndrom durch Alkohol (ICD-10 F10.2) und Cannabinoide (ICD-10 F12.2), eine rezidivierende depressive Störung, Agoraphobie und ADHS. Die Gutachter stellten fest, dass das Suchtverhalten kein Folgezustand eines körperlichen oder psychischen Gesundheitsschadens sei, es jedoch Anhaltspunkte für psychische Folgeschäden (u.a. Mitbedingung der Depression durch die Suchterkrankung) gebe. Die Arbeitsfähigkeit wurde in einer angepassten, einfachen Tätigkeit seit 2018 auf 50 % geschätzt. Die Gutachter erachteten eine Suchtmittelabstinenz als angezeigt und hielten fest, dass dadurch eine vollständige Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit in einer angepassten Tätigkeit gegebenenfalls möglich wäre. Sie betonten jedoch, dass dies eine mindestens teil- oder vollstationäre Behandlung mit suchtmedizinischem Schwerpunkt erfordere, um eine "Abstinenzkompetenz" zu erlangen.

Auf Rückfrage präzisierten die MEDAS-Gutachter im August 2022, dass eine blosse Abstinenz ohne adäquate Therapie in einer Suchtfachklinik zur Erarbeitung der Abstinenzkompetenz nicht ausreiche. Nach einer solchen Therapie und Nachbehandlung sei eine 100%ige Arbeitsfähigkeit nach acht Monaten Abstinenz zu erwarten.

Gestützt auf diese Erkenntnisse stellte die IV-Stelle dem Beschwerdeführer im Dezember 2022 eine bis zum 30. April 2023 befristete halbe Invalidenrente (50 % Invaliditätsgrad) und ab dem 1. Mai 2023 eine Verneinung des Rentenanspruchs (0 % Invaliditätsgrad) in Aussicht. Gleichzeitig forderte sie ihn abermals zur Einhaltung einer viermonatigen, laborkontrollierten vollständigen Abstinenz von sämtlichen Suchtmitteln auf, andernfalls die Rentenleistungen ab Mai 2023 eingestellt würden. Der Beschwerdeführer kam dieser Aufforderung nicht nach und wurde positiv auf Alkohol- und Cannabiskonsum getestet. Im September 2023 verfügte die IV-Stelle die vorgesehene Einstellung der Rente. Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern wies die Beschwerde des Versicherten im August 2024 ab.

Streitfrage

Die zentrale Streitfrage vor Bundesgericht ist, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzte, indem sie einen Rentenanspruch des Beschwerdeführers ab 1. Mai 2023 verneinte. Konkret geht es um die Frage, ob die gutachterlich empfohlene und von der Beschwerdegegnerin angeordnete kontrollierte vollständige Suchtmittelabstinenz zumutbar und geeignet war, eine volle Arbeitsfähigkeit in einer angepassten Tätigkeit zu erlangen, und ob die IV-Stelle ihre Untersuchungspflicht wahrgenommen hat.

Rechtliche Grundlagen und Erwägungen des Bundesgerichts
  1. Anwendbares Recht: Das Bundesgericht stellt fest, dass aufgrund der Weiterentwicklung der IV (WEIV) und der Übergangsbestimmungen für Rentenbezüger unter 55 Jahren (wie dem Beschwerdeführer) die altrechtlichen Bestimmungen für den Rentenanspruch bis zum 31. Dezember 2021 gelten. Für eine Rentenanpassung ab dem 1. Januar 2022 kommt hingegen das neue Recht zur Anwendung (Art. 17 Abs. 1 ATSG). Die streitige Renteneinstellung ab 1. Mai 2023 fällt unter das neue Recht.

  2. Grundsätze der Invalidität und psychischer Gesundheitsschäden: Das Gericht verweist auf die korrekte Wiedergabe der Bestimmungen und Grundsätze zur Invalidität (Art. 7 f. ATSG) sowie zur Annahme eines rentenbegründenden psychischen Gesundheitsschadens (BGE 141 V 281). Auch bei fachärztlich diagnostizierten Abhängigkeitssyndromen bzw. Substanzkonsumstörungen ist nach dem strukturierten Beweisverfahren zu ermitteln, ob und wieweit sich diese auf die Arbeitsfähigkeit auswirken (BGE 147 V 234 E. 2.2; 145 V 215 E. 5.3.3).

  3. Schadenminderungspflicht bei Abhängigkeitssyndromen:

    • Anwendung: Die Schadenminderungspflicht (Art. 7 IVG) findet auch bei einem Abhängigkeitssyndrom Anwendung. Von der versicherten Person kann die aktive Teilnahme an zumutbaren medizinischen Behandlungen verlangt werden (Art. 7 Abs. 2 lit. d IVG). Die Anforderungen an diese Pflicht sind strenger, wenn eine erhöhte Inanspruchnahme der IV in Frage steht, z.B. wenn der Verzicht auf schadenmindernde Vorkehren Rentenleistungen auslösen oder perpetuieren würde (BGE 113 V 22 E. 4d).
    • Voraussetzungen für Sanktionen (Art. 21 Abs. 4 ATSG i.V.m. Art. 7b IVG):
      • Zumutbarkeit der Massnahme: Die Massnahme darf keine Gefahr für Leben und Gesundheit darstellen (Art. 21 Abs. 4 ATSG i.V.m. Art. 7a IVG). Bei geringem Eingriff in Persönlichkeitsrechte sind an die Wahrscheinlichkeit der Besserung keine hohen Anforderungen zu stellen.
      • Eignung der Massnahme: Die Vorkehr muss geeignet sein, eine wesentliche Steigerung der Erwerbsfähigkeit zu bewirken. Es bedarf keiner strikten Beweisführung, sondern einer gewissen Wahrscheinlichkeit des Erfolgs.
      • Weigerung der versicherten Person: Die Person muss sich der Massnahme widersetzt, entzogen oder nicht aus eigenem Antrieb das ihr Zumutbare dazu beigetragen haben.
    • Rechtsfolge: Bei Verletzung der Schadenminderungspflicht nach Mahnung und Bedenkzeit kann die Leistung gekürzt oder verweigert werden. Die versicherte Person ist dann so zu stellen, wie wenn sie ihre Pflicht wahrgenommen hätte (Urteil 8C_245/2022 E. 5.4.2).
  4. Würdigung des MEDAS-Gutachtens und der Vorinstanz:

    • Die Vorinstanz stützte sich massgeblich auf das MEDAS-Gutachten und bejahte die Eignung und Zumutbarkeit der angeordneten Abstinenz. Sie sah eine fachärztlich ausgewiesene Indikation zur Abstinenz, da sie eine Besserung der psychischen Gesundheit und eine Steigerung der Arbeitsfähigkeit versprach. Die Gutachter hatten keine medizinischen Risiken im Zusammenhang mit der Abstinenzverpflichtung festgestellt. Die Vorinstanz erachtete es als plausibel, dass die Abstinenz die Arbeitsfähigkeit erheblich steigern könnte, auch im Hinblick auf die mögliche Mitbedingung der Depression durch die Suchterkrankung.
    • Die Vorinstanz schloss, dass die von der Beschwerdegegnerin auferlegte und mit einer Sanktionsandrohung versehene, laborkontrollierte vollständige Abstinenz nicht zu beanstanden sei. Da der Beschwerdeführer die Auflage unbestrittenermassen nicht erfüllte und das Mahnverfahren korrekt durchgeführt wurde, sei die Leistungseinstellung per Ende April 2023 zu Recht erfolgt.
  5. Entgegnung des Bundesgerichts auf die Rügen des Beschwerdeführers:

    • "Reine Abstinenz" vs. "Abstinenz mit Therapie": Der Beschwerdeführer machte geltend, die Gutachter hätten eine begleitende suchtmedizinische Therapie zur Erlangung der "Abstinenzkompetenz" empfohlen, während die IV-Stelle lediglich eine reine Abstinenz auferlegt habe. Das Bundesgericht stimmt dem Beschwerdeführer in dieser Hinsicht zu, dass die blosse Aufforderung zu kurz greift und die Beschwerdegegnerin die Auflage mit einer Therapie verbinden hätte sollen. Es hält jedoch fest, dass der Beschwerdeführer die Zumutbarkeit einer Abstinenz generell bestritt, keine hinreichende Motivation für eine suchtspezifische Behandlung zeigte und auch im Rahmen eines Klinikaufenthalts Behandlungsziele bezüglich Abstinenz verweigerte. Da der Beschwerdeführer die Notwendigkeit einer spezifischen Suchttherapie hätte verstehen und die notwendigen Schritte hätte einleiten können, könne er sich nicht erfolgreich auf die Unterlassung der Beschwerdegegnerin berufen.
    • Berücksichtigung anderer Therapieformen (z.B. kontrollierter Substanzgebrauch): Der Beschwerdeführer argumentierte unter Verweis auf die jüngere Rechtsprechung (BGE 145 V 215), dass angesichts der erfolglosen Entzugsbehandlungen auch andere Therapieformen hätten berücksichtigt werden müssen. Das Bundesgericht weist dies zurück. Im vorliegenden Fall wurde die Abstinenz von mehreren Fachärzten (MEDAS, RAD, behandelnde Ärzte) empfohlen. Der RAD-Arzt habe die Möglichkeit schwerer Komplikationen bei einem Entzug verneint und darauf hingewiesen, dass die bisherigen stationären Entgiftungen komplikationslos verliefen. Zudem seien delirante Zustände, die bei unkontrolliertem Konsum auftreten könnten, gefährlicher als ein stationärer Entzug.
    • Anwendung der "Überwindbarkeitspraxis" und Rundschreiben: Das Bundesgericht bekräftigt, dass die Schadenminderungspflicht bei Vorliegen eines Abhängigkeitssyndroms weiterhin zur Anwendung kommt und eine Suchtmittelabstinenz bzw. eine Entzugsbehandlung angeordnet werden kann (BGE 151 V 66 E. 55; 145 V 215 E. 5.3.1). Das vom Beschwerdeführer zitierte EDI BSV IV-Rundschreiben Nr. 395 ändere daran nichts.
    • Fehlende Überprüfung des Behandlungserfolgs: Der Vorwurf, die IV-Stelle habe ihre Untersuchungspflicht verletzt, indem sie den Behandlungserfolg nicht überprüft habe, verfängt nicht, da der Beschwerdeführer der Abstinenzauflage unbestrittenermassen nicht nachkam.
    • Wahrscheinlichkeit des Erfolgs: Das Bundesgericht bestätigt, dass bei einem relativ geringen Eingriff der Massnahme eine "gewisse Wahrscheinlichkeit" für die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit ausreicht, und nicht eine "überwiegende Wahrscheinlichkeit" erforderlich ist.
Fazit des Bundesgerichts

Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab. Es bestätigt die Rechtmässigkeit der Leistungseinstellung ab dem 1. Mai 2023. Die Vorinstanz hat weder den Sachverhalt offensichtlich unrichtig festgestellt noch Bundesrecht verletzt, indem sie die Eignung und Zumutbarkeit der vom Beschwerdeführer geforderten Suchtmittelabstinenz bejaht hat. Obwohl eine umfassendere Therapie durch die Gutachter empfohlen wurde, kann sich der Beschwerdeführer nicht auf eine mangelnde Therapieauflage berufen, da er selbst jegliche Abstinenz bestritt und keine Motivation zur Behandlung zeigte.

Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:
  • Schadenminderungspflicht bei Sucht: Die Schadenminderungspflicht gilt auch bei Abhängigkeitssyndromen und kann die Anordnung einer Abstinenz sowie einer suchtmedizinischen Behandlung umfassen.
  • Zumutbarkeit und Eignung: Die angeordnete Suchtmittelabstinenz wurde als zumutbar (keine medizinischen Risiken) und geeignet (gewisse Wahrscheinlichkeit der Arbeitsfähigkeitssteigerung) beurteilt, insbesondere da mehrere medizinische Gutachten und Einschätzungen dies befürworteten.
  • Eigenverantwortung des Versicherten: Obwohl das Bundesgericht eine umfassendere Therapie-Empfehlung der Gutachter bestätigt, die über eine reine Abstinenzaufforderung hinausgeht, wird dem Beschwerdeführer angelastet, dass er selbst trotz Kenntnis dieser Empfehlungen jegliche Abstinenz bestritt und keine Motivation für eine Therapie zeigte. Eine Berufung auf eine fehlende Therapieauflage ist in diesem Kontext nicht erfolgreich.
  • Sanktion bei Pflichtverletzung: Da der Beschwerdeführer die Auflage nicht einhielt und das Mahnverfahren korrekt durchgeführt wurde, war die Einstellung der IV-Rente ab 1. Mai 2023 rechtmässig.