Zusammenfassung von BGer-Urteil 7B_297/2025 vom 28. August 2025

Es handelt sich um ein experimentelles Feature. Es besteht keine Gewähr für die Richtigkeit der Zusammenfassung.

Nachfolgend wird das Urteil des schweizerischen Bundesgerichts (7B_297/2025 vom 28. August 2025) detailliert zusammengefasst.

1. Einleitung und Parteien

Das Bundesgericht, Zweite strafrechtliche Abteilung, hatte über eine Beschwerde von A._ (nachfolgend: die Beschwerdeführerin) gegen einen Entscheid der Chambre des recours pénale des Tribunal cantonal du canton de Vaud (Kantonale Beschwerdekammer) vom 14. Februar 2025 zu befinden. Streitgegenstand war die Ablehnung der vollständigen Verfahrensverbindung von fünf gegen oder von der Beschwerdeführerin geführten Strafverfahren. Als Beschwerdegegner traten die Centrale Staatsanwaltschaft des Kantons Waadt sowie weitere Parteien (B._, C._, D._) auf.

2. Sachverhalt und Vorverfahren

Die Beschwerdeführerin, eine Anwältin, war Gegenstand mehrerer strafrechtlicher Ermittlungen (P1._, P3._, P4._, P5._) des Generalstaatsanwalts des Kantons Waadt. Ihr wurden insbesondere Betrug, versuchter Betrug und versuchte Nötigung vorgeworfen. Die Vorwürfe, die seit mindestens 2009 bestehen sollen, betreffen die unrechtmässige Erlangung oder Einbehaltung von Klientengeldern, überhöhte Rechnungsstellungen, unzureichende Rückerstattungen und Buchführungsverstösse. Die Verfahren wurden aufgrund von Anzeigen der Waadtländer Anwaltskammer (CAVO) sowie von Beschwerden ehemaliger Klienten eingeleitet.

  • P1.__: Vorwürfe des Betrugs/versuchten Betrugs (Provision von 1'000 CHF trotz unentgeltlicher Rechtspflege, versuchte Forderung von 5'336.75 CHF für angeblich nicht gedeckte Leistungen) und versuchter Nötigung (ungerechtfertigte Betreibung von 3'325 CHF) gegenüber der Klientin B.__ (Beschwerdegegnerin 1). Dieses Verfahren stand kurz vor dem Abschluss mittels Strafbefehl.
  • P3.__: Vorwürfe der Überfakturierung und Manipulation von Honorarnoten. Umfangreiche Ermittlungen durch die Finanzbrigade.
  • P4.__: Vorwürfe der Rechnungsstellung für Leistungen, die durch unentgeltliche Rechtspflege gedeckt waren, gegenüber D.__ (Beschwerdegegner 2). Keine Einbindung der Finanzbrigade.
  • P5.__: Vorwürfe der Nichtrückerstattung von Honorarguthaben, Erhöhung von Tarifen, Nullstellung von Honoraren ohne Rechnungsstellung und mangelnde Buchführung. Umfangreiche Ermittlungen durch die Finanzbrigade.
  • P2.__: Eine von der Beschwerdeführerin selbst eingereichte Strafanzeige wegen versuchter Erpressung und Nötigung gegen B.__ und deren Anwalt, da diese 25'000 CHF zur Beilegung eines Rechtsstreits forderten. Keine Einbindung der Finanzbrigade.

Am 14. November 2024 beantragte die Beschwerdeführerin die Verbindung aller fünf Verfahren. Der Generalstaatsanwalt ordnete am 6. Januar 2025 lediglich eine Teilverbindung an (P3 mit P5; P1 mit P2) und lehnte die Verbindung der Verfahrensgruppen untereinander sowie die Verbindung von P4 zu den anderen ab. Die Beschwerdeführerin rekurrierte gegen diese Anordnung an die Kantonale Beschwerdekammer und forderte die vollständige Verbindung aller Verfahren. Nach Einreichung der Rekursschriften und weiterer Stellungnahmen der Parteien zwischen dem 7. und 11. Februar 2025, die der Beschwerdeführerin am 12. Februar 2025 zur Kenntnis gebracht wurden, erliess die Kantonale Beschwerdekammer ihren Entscheid vom 14. Februar 2025. Dieser Entscheid bestätigte weitgehend die Anordnung des Staatsanwalts, korrigierte sie aber insoweit, als P4 neu mit der Gruppe P1+P2 verbunden wurde. Die vollständige Verbindung wurde weiterhin abgelehnt.

Ein entscheidender prozessualer Umstand war, dass die Beschwerdeführerin am 24. Februar 2025 eine spontane Replik zu den Stellungnahmen der Gegenparteien einreichte, welche der Kantonalen Beschwerdekammer am 25. Februar 2025 zugestellt wurde. Der Entscheid der Kantonalen Beschwerdekammer war jedoch bereits am 14. Februar 2025 datiert, aber erst am 4. März 2025 den Parteien zur Notifikation zugestellt worden.

3. Rechtliche Problematik vor Bundesgericht

Die Beschwerdeführerin legte gegen den Entscheid der Kantonalen Beschwerdekammer Beschwerde in Strafsachen beim Bundesgericht ein. Sie rügte eine falsche Anwendung der Art. 5, 29 und 30 der Schweizerischen Strafprozessordnung (StPO), eine Verletzung ihres Rechts auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 Bundesverfassung, Art. 3 Abs. 2 lit. c StPO, Art. 107 StPO) sowie einen Mangel an Begründung des angefochtenen Entscheids.

4. Erwägungen des Bundesgerichts

4.1. Zulässigkeit der Beschwerde (Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG - Irreparabler Nachteil)

Das Bundesgericht prüfte zunächst die Zulässigkeit der Beschwerde, insbesondere die Voraussetzung eines irreparablen Nachteils, da Zwischenentscheide über die Verfahrensverbindung in der Regel keinen solchen darstellen.

  • Allgemeiner Grundsatz: Entscheidungen über die Verbindung oder Trennung von Verfahren beenden das Strafverfahren grundsätzlich nicht und sind daher nur dann vor Bundesgericht anfechtbar, wenn sie einen irreparablen Nachteil im Sinne von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG verursachen können (BGE 147 IV 188 E. 1.2). Ein irreparabler Nachteil ist ein rechtlicher Schaden, der durch ein späteres Endurteil oder einen anderen günstigen Entscheid nicht mehr behoben werden kann (BGE 148 IV 155 E. 1.1).
  • Ausnahmen: Ein irreparabler Nachteil kann in Fällen der Trennung oder des Verweigerung der Verbindung von Verfahren, die mehrere Beschuldigte betreffen, vorliegen, da eine Partei dabei ihre prozessualen Rechte in den Verfahren der Mitbeschuldigten verlieren könnte (BGE 147 IV 188 E. 1.3.4 f.). Auch wenn die Beschwerdeführerin in den vorliegenden Fällen keine Parteirechte in Verfahren gegen andere Beschuldigte verliert, kann ein irreparabler Nachteil dennoch bestehen (BGE 7B_779/2023 E. 1.2.1). In solchen Fällen muss die beschwerdeführende Partei den irreparablen Nachteil detailliert darlegen.
  • Argumentation der Beschwerdeführerin: Die Beschwerdeführerin machte geltend, dass sie aufgrund der abgelehnten vollständigen Verfahrensverbindung dem Risiko ausgesetzt sei, im Verfahren P1.__ durch einen Strafbefehl verurteilt zu werden, während die anderen Verfahren noch andauerten. In diesem Fall wäre es ihr praktisch unmöglich, ihr Gesuch um Verbindung aller Verfahren zu erneuern, da die anderen Untersuchungen noch im Gange wären. Dies würde sie mehreren Entscheidungen statt eines einzigen Gesamturteils aussetzen, was einen erheblichen und objektiv irreparablen Schaden darstelle. Sie hielt es für zweckmässig, die Frage der Verfahrensverbindung ein für alle Mal zu klären, zumal alle Verfahren noch im Vorverfahren stünden.
  • Entscheid des Bundesgerichts zur Zulässigkeit: Das Bundesgericht anerkannte, dass das Verfahren P1.__ rasch entscheidungsreif schien, während die anderen Verfahren noch zusätzliche und zeitaufwändige Ermittlungsmassnahmen erforderten. Unter diesen Umständen wäre es nicht sinnvoll, die Beschwerdeführerin darauf zu verweisen, ihr Verbindungsgesuch zu einem späteren Zeitpunkt – sei es vor dem Erlass des Strafbefehls oder im Rahmen eines Einspruchsverfahrens – zu erneuern. Dies würde weitere prozessuale Probleme aufwerfen und die Angelegenheit unnötig verkomplizieren. Da die verschiedenen Verfahren zu unterschiedlichen Zeitpunkten abgeschlossen würden, wäre ein rechtlicher Schaden durch die späteren Behörden kaum behebbar. Das Bundesgericht befand daher, dass es vorzuziehen sei, sofort über die Frage der Verfahrensverbindung zu entscheiden. Folglich wurde im konkreten Fall ein irreparabler Nachteil im Sinne von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG bejaht, und auf die Beschwerde wurde eingetreten.

4.2. Begründetheit (Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör gemäss Art. 29 Abs. 2 BV)

Die Beschwerdeführerin rügte eine Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör, insbesondere ihr Recht auf eine spontane Replik.

  • Grundlagen des rechtlichen Gehörs: Gemäss Art. 29 Abs. 2 BV (sowie Art. 3 Abs. 2 lit. c und Art. 107 StPO) haben die Parteien Anspruch auf rechtliches Gehör. Dieses Recht umfasst insbesondere das Recht, von allen Argumenten der Gegenpartei Kenntnis zu nehmen und sich dazu zu äussern, unabhängig davon, ob diese neue Sachverhalts- oder Rechtsfragen enthalten und ob sie den Entscheid voraussichtlich beeinflussen können. Es ist Sache der Parteien, nicht des Gerichts, zu entscheiden, ob eine Stellungnahme oder ein neues Dokument für ihre Beobachtungen relevant ist (BGE 146 III 97 E. 3.4.1).
  • Bedingungsloses Replikrecht: Das Replikrecht ist bedingungslos und kann nach jeder Stellungnahme der Gegenpartei ausgeübt werden (BGE 146 III 97 E. 3.4.2). Die Behörde muss den Parteien dabei genügend Zeit lassen, um gegebenenfalls Stellungnahmen einzureichen. Die Rechtsprechung geht davon aus, dass eine Frist von weniger als zehn Tagen unzureichend ist, während eine Frist von mehr als zwanzig Tagen bei fehlender Reaktion als Verzicht interpretiert werden kann. Dies ist die Frist, nach der die Behörde bei fehlender Reaktion einen Entscheid fällen kann (BGE 7B_649/2023 E. 2.2).
  • Anwendung im vorliegenden Fall: Die Kantonale Beschwerdekammer hatte der Beschwerdeführerin die Stellungnahmen der Gegenparteien am 12. Februar 2025 zur Information zugestellt. Ihren Entscheid datierte sie jedoch bereits auf den 14. Februar 2025. Dies liess der Beschwerdeführerin höchstens einen Tag Zeit, um eine spontane Replik einzureichen, was als unzureichend erachtet wurde. Es gab auch keine Dringlichkeit, die eine derart rasche Entscheidung gerechtfertigt hätte. Die Beschwerdeführerin übte ihr Replikrecht aus und reichte am 24. Februar 2025 ihre spontanen Stellungnahmen ein. Der kantonale Entscheid wurde jedoch erst am 4. März 2025 notifiziert. Die Vorinstanz hatte im Rahmen der Beschwerde vor Bundesgericht keine Erklärung für diese Sachlage abgegeben, insbesondere nicht, ob ein Datierungsfehler vorlag oder die Replik vom 24. Februar 2025 bewusst nicht berücksichtigt wurde. Der Sachverhalt des angefochtenen Entscheids endete zudem vor dem Erhalt der Replik, und die Begründung enthielt keine Hinweise auf deren Berücksichtigung.
  • Schlussfolgerung des Bundesgerichts: Das Bundesgericht kam zum Schluss, dass die Kantonale Beschwerdekammer das Recht der Beschwerdeführerin auf rechtliches Gehör verletzt hatte.

4.3. Folgen der Verletzung des rechtlichen Gehörs

Das Bundesgericht hielt fest, dass der Staatsanwalt detaillierte Stellungnahmen eingereicht hatte und die Beschwerdeführerin in ihrer spontanen Replik vom 24. Februar 2025 Punkt für Punkt auf dessen Argumente eingegangen war (u.a. mangelnde Kooperation, Beschleunigungsgebot, Verjährung). Es könne zu diesem Zeitpunkt nicht ausgeschlossen werden, dass diese Replik für den Ausgang des kantonalen Verfahrens relevant sei. Auch wenn ein neuer Entscheid in ähnlicher Form ergehen könnte, sei es nicht ausgeschlossen, dass die Replik neue, relevante Elemente enthalte. Eine Rückweisung sei daher keine "vergebliche Formalität" oder "unnötige Verlängerung des Verfahrens". Das Bundesgericht, dessen Sachverhaltsprüfung beschränkt ist, kann eine Verletzung des rechtlichen Gehörs nicht selbst heilen (BGE 149 I 91 E. 3.2). Eine Verletzung des rechtlichen Gehörs führt somit zur Aufhebung des angefochtenen Entscheids, unabhängig von den Erfolgsaussichten der Beschwerde in der Sache selbst.

5. Entscheid des Bundesgerichts

Die Beschwerde wurde gutgeheissen. Der angefochtene Entscheid der Kantonalen Beschwerdekammer wurde aufgehoben, und die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückgewiesen. Die Kantonale Beschwerdekammer wurde angewiesen, die spontanen Stellungnahmen der Beschwerdeführerin vom 24. Februar 2025 zu berücksichtigen und einen neuen Entscheid zu fällen.

6. Kosten

Die Beschwerdeführerin erhielt vollumfänglich Recht und hatte keine Gerichtskosten zu tragen. Der Beschwerdegegner 2 (D.__), der auf Abweisung der Beschwerde plädierte, wurde zu einem Teil der Gerichtskosten von 1'500 CHF verurteilt. Die Beschwerdeführerin erhielt eine Parteientschädigung von 1'500 CHF, die solidarisch vom Kanton Waadt und dem Beschwerdegegner 2 zu tragen ist.

Zusammenfassung der wesentlichen Punkte:

  1. Streitgegenstand: Die Beschwerdeführerin, eine Anwältin, forderte die vollständige Verbindung von fünf gegen sie geführten Strafverfahren, was von den kantonalen Behörden nur teilweise gewährt wurde.
  2. Irreparabler Nachteil: Das Bundesgericht bejahte im konkreten Fall einen irreparablen Nachteil, da die unterschiedlichen Verfahrensstände und die drohende separate Verurteilung in einem Verfahren eine spätere umfassende Prüfung der Verfahrensverbindung erschweren oder verunmöglichen würden.
  3. Verletzung des rechtlichen Gehörs: Die kantonale Beschwerdekammer verletzte das bedingungslose Replikrecht der Beschwerdeführerin, indem sie ihren Entscheid datierte, bevor der Beschwerdeführerin eine angemessene Frist zur Äusserung zu den gegnerischen Stellungnahmen gewährt wurde und ihre tatsächlich erfolgte Replik nicht berücksichtigte.
  4. Konsequenz: Die Verletzung des rechtlichen Gehörs führte zur Aufhebung des kantonalen Entscheids und zur Rückweisung der Sache an die Vorinstanz zur Neubeurteilung unter Berücksichtigung der verspätet eingereichten Replik.