Zusammenfassung von BGer-Urteil 6B_772/2024 vom 20. August 2025

Es handelt sich um ein experimentelles Feature. Es besteht keine Gewähr für die Richtigkeit der Zusammenfassung.

Gerne fasse ich das vorliegende Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts (BGer 6B_772/2024 vom 20. August 2025) detailliert zusammen.

I. Einleitung Das Urteil des Bundesgerichts vom 20. August 2025, Aktenzeichen 6B_772/2024, betrifft eine Beschwerde in Strafsachen gegen ein Urteil des Kantonalen Berufungs- und Revisionsgerichts (Corte di appello e di revisione penale, CARP) des Kantons Tessin vom 21. August 2024. Der Beschwerdeführer A.__ wurde wegen gewerbsmässigen Betrugs (teilweise versuchter), mehrfacher Urkundenfälschung und mehrfachen Erlangens einer falschen Beurkundung verurteilt. Die Beschwerde thematisierte hauptsächlich Fragen der Verjährung, Willkür bei der Sachverhaltsfeststellung und Verletzung des rechtlichen Gehörs.

II. Sachverhalt der Vorinstanzen

  1. Erste Instanz (Corte delle assise criminali, 15. Dezember 2021):

    • A._ wurde des qualifizierten Betrugs, namentlich des gewerbsmässigen Betrugs, für schuldig befunden. Ihm wurde vorgeworfen, von August 2008 bis März 2014 mittels Täuschung von Versicherungen (B._, E._, C._), der D._ und Banken (F._, Banca G._) einen unrechtmässigen Gewinn von CHF 1'227'351.- erzielt oder versucht zu erzielen. Die Täuschung erfolgte durch die Gründung und den Erwerb diverser Gesellschaften (H._ SA, I._ Sagl, J._ Sagl, K._ SA, L._ SA, M._ SA, N._ SA), die Simulation fiktiver Arbeitsverträge und unwahrer Löhne, um Versicherungsleistungen, Arbeitslosenentschädigungen und Kredite zu erschleichen.
    • Zudem wurde er der mehrfachen Urkundenfälschung schuldig gesprochen, da er zwischen April 2009 und April 2012 Unterschriften und Buchhaltungsdaten von Gesellschaften sowie ein ärztliches Zeugnis gefälscht und diese zum Zweck der Täuschung verwendet hatte.
    • Des Weiteren erfolgte eine Verurteilung wegen des mehrfachen Erlangens einer falschen Beurkundung. Er hatte Notare dazu verleitet, unwahre Tatsachen betreffend die vollständige Liberierung von Aktien- bzw. Stammkapital bei Gesellschaftsgründungen zu beurkunden, obwohl die Beträge nur temporär von Dritten zur Verfügung gestellt worden waren. Auch hatte er die Handelsregisterämter zu unrichtigen Eintragungen veranlasst.
    • Schliesslich wurde er wegen mehrfacher ungetreuer Geschäftsführung verurteilt, da er als faktisches Organ der insolventen Gesellschaften M._ SA, H._ SA, J._ Sagl, N._ SA und K.__ SA deren Überschuldung verursacht oder verschlimmert hatte, unter anderem durch nur temporäre Kapitalbereitstellung und unverhältnismässige Ausgaben.
    • Freispruch erfolgte in einem Anklagepunkt der Urkundenfälschung.
    • Strafe: 3 Jahre Freiheitsstrafe, davon 18 Monate bedingt auf 2 Jahre Probezeit, der Rest unbedingt zu vollziehen. Die Zivilforderungen der Privatkläger wurden dem Grundsatz nach anerkannt und zur Quantifizierung auf den Zivilweg verwiesen.
  2. Zweite Instanz (Corte di appello e di revisione penale, 21. August 2024):

    • Die CARP hiess die Berufung des Beschwerdeführers teilweise gut.
    • Er wurde von der Anklage der ungetreuen Geschäftsführung bezüglich der Gesellschaften M._ SA, J._ Sagl, N._ SA und K._ SA freigesprochen. Die Verurteilung wegen ungetreuer Geschäftsführung für die H.__ SA wurde jedoch bestätigt.
    • Die Verurteilungen wegen gewerbsmässigen Betrugs (teilweise versuchter), mehrfacher Urkundenfälschung und mehrfachen Erlangens einer falschen Beurkundung wurden vollumfänglich bestätigt.
    • Strafe: Bestätigung der 3 Jahre Freiheitsstrafe, davon 18 Monate bedingt auf 2 Jahre Probezeit, der Rest unbedingt zu vollziehen. Die Zivilforderungen der Privatkläger (B._, C._, E._, D._) wurden dem Grundsatz nach anerkannt und zur Quantifizierung auf den Zivilweg verwiesen.

III. Massgebende Punkte und rechtliche Argumente des Bundesgerichts

Das Bundesgericht trat auf einen Grossteil der Beschwerde des Beschwerdeführers A._ mangels hinreichender Begründung (Art. 42 Abs. 2 BGG, Art. 106 Abs. 2 BGG) nicht ein oder wies sie ab. Die Beschwerde der Rechtsanwältin O._ betreffend ihr Honorar wurde ebenfalls als unzulässig erklärt.

  1. Zulässigkeit und Begründungsanforderungen (E. 2):

    • Das Bundesgericht wies darauf hin, dass es grundsätzlich nur auf gehörig begründete Rügen eingeht. Rügen, die lediglich appellatorischer Natur sind, sich nicht spezifisch mit der angefochtenen Entscheidung auseinandersetzen oder die strengen Begründungsanforderungen für Willkür- und Verfassungsrügen (Art. 106 Abs. 2 BGG) nicht erfüllen, sind unzulässig. Viele allgemeine oder ungenaue Vorwürfe des Beschwerdeführers, insbesondere bezüglich der Verletzung von Verteidigungsrechten oder der Sachverhaltsfeststellung, wurden daher als unzulässig erachtet.
  2. Verfahrensverjährung und Beschleunigungsgebot (Art. 408 Abs. 2 StPO) (E. 3):

    • Rüge des Beschwerdeführers: Die CARP habe die Frist von 12 Monaten gemäss Art. 408 Abs. 2 StPO (in Kraft seit 1. Januar 2024) für die Entscheidung über die Berufung manifest überschritten, was zu einer "Verfahrensverjährung" oder einer Einstellung des Verfahrens führen müsse. Zudem habe die Vorinstanz sein Recht auf Gehör verletzt, indem sie sich nicht zu dieser im Plädoyer vorgebrachten Rüge geäussert habe.
    • Argumentation des Bundesgerichts:
      • Das Bundesgericht stellte klar, dass Art. 408 Abs. 2 StPO, der eine Entscheidungsfrist von 12 Monaten vorsieht, eine blosse Ordnungsvorschrift darstellt. Sie konkretisiere zwar das Beschleunigungsgebot (Art. 5 Abs. 1 StPO), führe aber bei Überschreitung der Frist nicht per se zu einer "Verfahrensverjährung" oder einer Einstellung des Strafverfahrens.
      • Die Vorinstanz habe die Verletzung des Beschleunigungsgebots zutreffend als mildernden Faktor bei der Strafzumessung berücksichtigt. Dieses Vorgehen sei gemäss ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichts (BGE 143 IV 373 E. 1.4.1 f. und weitere Verweise) korrekt.
      • Die Rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs wurde verneint, da die CARP sich in ihrer Begründung explizit zur Anwendbarkeit und den Konsequenzen von Art. 408 Abs. 2 StPO geäussert und die Gründe dargelegt hatte, weshalb sie die Auffassung des Beschwerdeführers nicht teilte.
  3. Ausschluss von Aktenstücken und Recht auf Konfrontation/Zeugenbefragung (Art. 147 StPO, Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK) (E. 4):

    • Rüge des Beschwerdeführers: Diverse Aktenstücke (z.B. Korrespondenz, Finanzanalysebericht, Strafanzeigen) hätten ausgeschlossen werden müssen, da ihm das Recht auf Konfrontation und die Befragung von Belastungszeugen verwehrt worden seien. Er habe zudem nicht am Erstellen des Finanzanalyseberichts teilnehmen können und den verfassenden Polizisten nicht befragen dürfen.
    • Argumentation des Bundesgerichts:
      • Viele der pauschalen Rügen wurden wegen unzureichender Begründung als unzulässig erachtet. Die CARP hatte bereits bestimmte Aktenstücke (z.B. Polizeiprotokoll des Beschwerdeführers, Befragung der Vertreterin von E.__) wegen Verletzung der Parteirechte als unverwertbar erklärt (Art. 147 Abs. 4 StPO).
      • Bezüglich des Finanzanalyseberichts führte das Bundesgericht aus, dass dieser dem Beschwerdeführer als Aktenstück AI 61 zugänglich war. Art. 147 StPO betreffe die Teilnahme an Beweiserhebungen (Einvernahmen, Gegenüberstellungen, Augenscheine). Es sei nicht ersichtlich, dass der verfassende Polizeibeamte als Zeuge einvernommen wurde, weshalb eine Verletzung von Art. 147 StPO unwahrscheinlich sei. Der Beschwerdeführer habe weder die Einvernahme des Beamten beantragt, noch dargelegt, dass ein solcher Antrag willkürlich abgelehnt worden wäre. Der Bericht sei auch nicht als Gerichtsgutachten im Sinne der Art. 182 ff. StPO zu behandeln. Eine Verletzung des rechtlichen Gehörs wurde verneint.
      • Die Forderung nach Ausschluss der Strafanzeigen und der Befragung der Vertreter der Anzeiger wurde ebenfalls abgewiesen. Die Vorinstanz hatte festgestellt, dass das Urteil hauptsächlich auf der dokumentarischen Beweislage basierte und nicht auf Aussagen der Anzeigervertreter (deren Aussage für E.__ ohnehin unverwertbar war). Die Beweismittel in den Akten seien ausreichend gewesen, was eine Befragung entbehrlich machte. Der Beschwerdeführer rügte nicht, dass diese antizipierte Beweiswürdigung willkürlich sei.
  4. Nichtigkeitsrügen und Ungleichbehandlung (E. 5 und 6):

    • Rüge des Beschwerdeführers: Er rügte die "Nichtigkeit des Strafverfahrens" aufgrund der langen Untersuchungsdauer (über 9 Jahre) und der Nichtäusserung der Vorinstanz zu seinen Rügen bezüglich Art. 338 und 339 StPO (persönliche Anwesenheit der Privatkläger). Er kritisierte zudem, dass seine Mitbeschuldigten mittels Strafbefehlen beurteilt wurden, was eine Verletzung der Rechtsgleichheit und Unschuldsvermutung darstelle.
    • Argumentation des Bundesgerichts:
      • Die Rügen wurden wegen unzureichender Begründung als unzulässig erklärt. Die CARP hatte sich zur Dauer des Verfahrens geäussert (Berücksichtigung bei der Strafzumessung) und die Gründe dargelegt, warum kein Verfahrensabbruch gerechtfertigt sei. Sie hatte auch begründet, warum die persönliche Anwesenheit der Privatkläger nicht erforderlich war, da das Urteil nicht auf ihren Aussagen beruhte. Es wurden keine schwerwiegenden und manifesten Mängel dargelegt, die zur Nichtigkeit von Akten führen könnten.
      • Die angebliche Ungleichbehandlung bezüglich der Strafbefehle für Mitbeschuldigte wurde verneint. Die dem Beschwerdeführer vorgeworfene Strafe überschritt offensichtlich die Voraussetzungen für einen Strafbefehl (Art. 352 StPO). Das unterschiedliche Verfahren sei auf die wesentlich grössere Schwere der Taten und der Schuld zurückzuführen. Dies stelle keine Verletzung der Rechtsgleichheit oder der Unschuldsvermutung dar, und das Individualisierungsprinzip bei der Strafzumessung könne gewisse Unterschiede mit sich bringen.
  5. Sachverhaltsfeststellung und rechtliche Würdigung (E. 6.3 und 7):

    • Rüge des Beschwerdeführers: Er beanstandete die Feststellung der kantonalen Instanzen bezüglich seiner Vorstrafen in Italien und legte einen neuen Strafregisterauszug vor. Bezüglich des Betrugs (Art. 146 StGB) argumentierte er, es fehle an der arglistigen Täuschung, da die grossen Versicherungsgesellschaften den Irrtum mit einem Minimum an Aufmerksamkeit hätten vermeiden können (BGE 150 IV 169 E. 5.1.2). Er bestritt zudem, faktisches Organ der Gesellschaften gewesen zu sein.
    • Argumentation des Bundesgerichts:
      • Die Rüge der willkürlichen Sachverhaltsfeststellung bezüglich der italienischen Vorstrafen wurde abgewiesen. Der Beschwerdeführer konnte die Willkür der Feststellung der Vorinstanz, die sich auf einen früheren, offiziellen italienischen Strafregisterauszug stützte, nicht substanziieren.
      • Hinsichtlich der arglistigen Täuschung beim gewerbsmässigen Betrug hielt das Bundesgericht fest, dass der Beschwerdeführer eine Reihe von Operationen und ein "Kastell von Lügen" (ein komplexes Täuschungsschema) aufgebaut hatte, um die Glaubwürdigkeit seiner Machenschaften zu untermauern. Dies umfasste die Gründung tatsächlich existierender Gesellschaften, die Vermeidung seiner formellen Beteiligung, die Erstellung fiktiver Arbeitsverträge und Lohnabrechnungen sowie die Meldung angeblicher Unfälle und Krankheiten mittels plausibler ärztlicher Zeugnisse. Angesichts dieser umfassenden und raffinierten Täuschungshandlungen sei die Annahme der Arglist nicht zu beanstanden. Der Beschwerdeführer habe nicht dargelegt, inwiefern die Versicherungen den Irrtum trotz dieses komplexen Schemas mit minimaler Vorsicht hätten vermeiden können.
      • Die Feststellung, dass er als faktisches Organ die Gesellschaften kontrollierte, wurde vom Beschwerdeführer nicht willkürlich gerügt.
  6. Entschädigung (Art. 429 StPO) (E. 8):

    • Rüge des Beschwerdeführers: Er forderte pauschal eine Entschädigung für unpräzisierte Gesundheitsschäden, die er infolge der Verfahrensdauer erlitten habe.
    • Argumentation des Bundesgerichts: Die Rüge wurde wegen unzureichender Begründung als unzulässig erachtet. Der Beschwerdeführer setzte sich nicht mit der Argumentation der CARP (E. 51) auseinander, die die Voraussetzungen für eine Entschädigung gemäss Art. 429 Abs. 1 lit. b und c StPO verneint und ihm lediglich eine teilweise Entschädigung gemäss Art. 429 Abs. 1 lit. a StPO für die Anwaltskosten der ersten Instanz zugesprochen hatte.
  7. Anwaltskosten (Art. 135 StPO) (E. 9):

    • Rüge der Beschwerdeführerin 2 (Anwältin): Sie rügte die Kürzung ihrer Honorarnote durch die CARP.
    • Argumentation des Bundesgerichts: Die Rüge wurde wegen unzureichender Begründung als unzulässig erklärt. Die Beschwerdeführerin 2 setzte sich nicht mit der ausführlichen Begründung der CARP (E. 50 ff.) auseinander und legte weder einen Ermessensmissbrauch der Vorinstanz noch eine Verletzung von Art. 135 StPO dar. Das Bundesgericht erinnerte an den weiten Ermessensspielraum der kantonalen Behörden bei der Festsetzung der amtlichen Verteidigerentschädigung und seine Zurückhaltung bei der Überprüfung solcher Entscheide (BGE 141 I 124 E. 3.2).

IV. Schlussfolgerung des Bundesgerichts

  • Die Beschwerde des Beschwerdeführers A.__ wurde, soweit zulässig, abgewiesen.
  • Die Beschwerde der Beschwerdeführerin 2 (Anwältin) wurde als unzulässig erklärt.
  • Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege des Beschwerdeführers A.__ wurde mangels Aussicht auf Erfolg abgewiesen.
  • Die Gerichtskosten von CHF 3'000.- wurden dem Beschwerdeführer A.__ auferlegt.

V. Kurze Zusammenfassung der wesentlichen Punkte

Das Bundesgericht bestätigte die Verurteilung von A.__ wegen gewerbsmässigen Betrugs, mehrfacher Urkundenfälschung und mehrfachen Erlangens einer falschen Beurkundung. Es stellte klar, dass die in Art. 408 Abs. 2 StPO genannte 12-Monats-Frist eine blosse Ordnungsvorschrift ist und deren Überschreitung nicht zu einer Verfahrensverjährung führt, sondern primär als strafmildernder Faktor bei der Strafzumessung zu berücksichtigen ist. Die Feststellung der arglistigen Täuschung beim Betrug wurde aufgrund des komplexen und raffinierten "Kastells von Lügen" des Beschwerdeführers bestätigt, das die Opfer trotz allfälliger Sorgfalt nicht leicht hätte erkennen können. Ferner wurden diverse Rügen des Beschwerdeführers wegen unzureichender Begründung oder mangels Willkür nicht zugelassen oder abgewiesen, einschliesslich der Kritik an der Beweiswürdigung und der angeblichen Verletzung des rechtlichen Gehörs. Die Beschwerde der Rechtsanwältin bezüglich der Honorarkürzung wurde ebenfalls als unzulässig erachtet.